Beim Krankenbesuch Gnade zeigen

Artikel von Kathryn Butler
13. Oktober 2021 — 6 Min Lesedauer

„Ich will einfach nur noch in den Himmel.“

Ich betrachtete das Gesicht meines Freundes David. Wir hatten schon früher über schwierige Themen gesprochen, in ähnlichen Krankenhauszimmern mit Trennvorhängen und mit Wackelpuddingbechern übersäten Tischen. Dieses Mal jedoch, als sich der Kummer in seinen Augen vertiefte, fühlte sich das Gespräch anders an.

„Du meinst, David, dass du bereit bist, in den Himmel zu kommen?“

„Nein, ich bin nicht bereit. Was ich meine, ist, dass ich nicht weiß, ob ich dorthin kommen werde. Ich bitte Gott einfach immer wieder, mir zu vergeben. Ich habe solche Angst.“

Ich umarmte ihn und spürte, wie sein Atem durch seine entzündeten Atemwege rasselte. Wir beteten gemeinsam, und ich erinnerte ihn an Gottes Liebe zu ihm und an seine Vergebung in Christus. David nickte, antwortete aber nicht, und wir verharrten in einem Moment der Stille. Es gab keine Heilmittel mehr und in der Trostlosigkeit der Krankheit blieb nur noch das Gebet. Nur Gott konnte heilen, wozu die medizinische Technik keinen Zugang hatte. Nur Christus, der am Kreuz blutete, kannte solches Leid und verlieh ihm einen Sinn.

Funken der Gnade

Der Kampf meines Freundes ist kein Einzelfall. Krankenhausaufenthalte reißen uns aus unseren (theoretischen) geistlichen Übungen und konfrontieren uns mit schwierigen Fragen über Leben, Tod, Leiden und Gottes Treue. In der Gemeinde können wir Gott loben und preisen, aber wenn wir nicht atmen können, wenn der Schmerz uns ergreift oder eine weitere Behandlung keine Heilung bringt, kann seine Gegenwart fern erscheinen. Wir sehnen uns vielleicht nach dem Trost der Heiligen Schrift, aber Medikamente vernebeln unseren Verstand und die Worte verschwimmen auf dem Papier. Wir sehnen uns nach den Verheißungen, von denen wir in den Chorälen gesungen haben, aber wenn Verfahren, Nadeln und Behinderungen unseren geistlichen Rhythmus ersetzen, entziehen sich uns die Verheißungen der Liebe Gottes.

Niemand kann in solchen Momenten so helfen, wie der Leib Christi. Jesus ruft uns auf, einander zu lieben, nicht mit einer „pastellenen Grußkartensentimentalität“, sondern mit wirklichen Opfern (Joh 13,34). Wenn das Augenlicht einer Schwester versagt, müssen wir für sie sehen. Wenn die Konzentration eines Bruders nachlässt, müssen wir ihn durch das Wort führen.

„Jesus ruft uns auf, einander zu lieben, nicht mit einer ‚pastellenen Grußkartensentimentalität‘, sondern mit wirklichen Opfern.“
 

„Denn gleichwie wir an einem Leib viele Glieder besitzen, nicht alle Glieder aber dieselbe Tätigkeit haben, so sind auch wir, die vielen, ein Leib in Christus, und als einzelne untereinander Glieder“ (Röm 12,4–5). Wenn Krankheit und Leiden im Krankenhaus Zweifel aufkommen lassen, kann das Mitgefühl von Brüdern und Schwestern auf Christus verweisen, auf unsere Hoffnung, die Bestand hat, ganz gleich, welche Umstände uns aus unseren gewohnten Bahnen reißen.

Wie können wir unsere Nächsten im Krankenhaus lieben und die Hände und Füße Christi sein, wenn nur das Leid sie wachhält?

1. Erinnere an Gottes Liebe

Einander zu lieben erfordert, dass wir denen zur Seite stehen, die Christus kennen. Es bedeutet, sie an seine Liebe zu erinnern, wenn Schatten auf sie fallen. Diese Praxis des Erinnerns ist eine, die wir alle – und zwar gemeinsam – brauchen, damit wir, wenn das Unglück uns ereilt, daran festhalten können, wer Gott ist: unser liebender Vater, der Urheber des Lebens, mitfühlend und barmherzig (2Mo 34,6; Ps 22,3; Apg 3,15). Wir müssen uns an das erinnern, was er getan hat, und unsere Seelen mit dieser Wahrheit nähren: „Gott aber, der reich ist an Erbarmen, hat um seiner großen Liebe willen, mit der er uns geliebt hat, auch uns, die wir tot waren durch die Übertretungen, mit dem Christus lebendig gemacht — aus Gnade seid ihr errettet! —“ (Eph 2,4–5). Anderen die Liebe Gottes zu zeigen, beginnt damit, dass wir selbst durch das Studium seines Wortes an dieser Realität festhalten.

2. Bete

Umhülle deinen Freund mit Gebet(en) ohne Unterlass (1Thess 5,17). Bete mit ihm. Bete für ihn. Versichere ihm, dass du ihn regelmäßig vor unseren auferstandenen Herrn bringst, der alles neu macht (Offb 21,5). Bringe ihn täglich vor den Thron der Gnade und frage ihn bei jedem Besuch, wie du das tun kannst. Bete dafür, dass der Heilige Geist dir Worte gibt, um die Wahrheit in Liebe zu sagen (Eph 4,15) und um in der Dunkelheit zu ermutigen.

3. Sei ein Begleiter

An manchen Tagen muss ein Freund vielleicht seine Sorgen mit dir besprechen, an anderen ist er möglicherweise einfach nur froh, wenn er jemanden hat, der einfach nur dabei sitzt, während er fernsieht. Versuche in jedem Fall, dich nach ihm zu richten und ihn zu unterstützen, anstatt die Dinge selber anzupacken. Sei ansprechbar, höre ihm zu und zeige Verständnis. Sei bei ihm, weil du ihn als das einzigartige, wunderbare Ebenbild liebst, zu dem Gott ihn gemacht hat. Behandele ihn wie einen Bruder in Christus und nicht wie ein Projekt.

4. Lass Gottes Wort in deine Besuche einfließen

Wenn sie sorgfältig ausgewählt werden, können Bibelpassagen denen Auftrieb geben, die in Verzweiflung versinken. Psalmen und Choräle haben eine stärkende Kraft. Jetzt ist nicht die Zeit für lange Exegesen und Bibelstudien, aber kurze Abschnitte, die Gottes Gnade und unsere Hoffnung in Christus hervorheben, können einen Freund im Krankenhaus aufrichten. Das Angebot, aus der Bibel vorzulesen, ist besonders wichtig für diejenigen, die aufgrund ihrer Krankheit nicht in der Lage sind, die Bibel selber zu lesen. Bringe die Bibel als Hörbuch für die Zeit mit, in der du nicht da bist. Biete ihm an, gemeinsam lieb gewordene Lieder zu singen, oder nimm eine Playlist auf. Hilf einem kranken Freund, das Wort Gottes in seinem Herzen zu bewahren.

5. Bestätige die Identität deines Freundes in Christus

Lass es nicht zu, dass die Krankheit die Identität deines Freundes verdrängt. Behandele ihn so, wie du ihn vor seiner Krankheit behandelt hast. Mach Witze mit ihm, wie du es auch sonst immer getan hast. Sprich über gemeinsame Freunde, schöne Erinnerungen und die alltäglichen Dinge des Lebens. Sprich nie so mit ihm, als hätte die Krankheit verändert, wer er ist, sondern bekräftige vielmehr, dass er durch den Glauben an Christus erneuert ist. Erinnere ihn daran, dass er vor dem großen Arzt, der die Welt durch seine Wunden heilt, untadelig ist und von ihm wertgeschätzt wird.

Hoffnung, auszuharren

Die Wochen nach unserem Gespräch brachten meinem Freund immer mehr Krankenhausaufenthalte, Rückschläge und Momente des Schmerzes. Doch durch Gottes Gnade, begleitet durch die Gebete seiner Brüder und Schwestern, die ihm Gottes Liebe zusicherten und ihn an Schlüsselstellen der Heiligen Schrift erinnerten, erinnerte der Herr David an seine Identität: ein Erlöster in Christus, aus dessen Hand ihn keine Krankheit, Wunde oder schlechte Prognose reißen kann (Röm 8,38–39). „Ich war an einem dunklen Ort“, sagte David eine Woche bevor er zum Herrn ging, „aber Gott hat mir gezeigt, wie nahe er mir ist. Und ich weiß, dass mir durch Jesus vergeben ist.“

Mögen wir alle solche Augen haben, um zu sehen, und Ohren, um zu hören, wenn Krankheit uns an Geist und Körper angreift. Und wenn unsere Fähigkeiten versagen, möge der Leib Christi unser Augenlicht und unser Gehör sein und durch die Liebe zum Nächsten mutig hervortreten, um uns zurück zum Licht der Welt zu führen.

Kathryn Butler ist Chirurgin für Unfallpatienten und arbeitet auch auf der Intensivstation. Sie hat vor kurzem ihre Arbeit in der Klinik aufgegeben, um ihre Kinder zuhause zu unterrichten. Sie hat ein Buch über palliative Fürsorge und Hospizarbeit aus christlicher Sicht veröffentlicht.