Einfach unwiderstehlich
Kaum jemand würde bestreiten, dass wir heute in einer post-christlichen Welt leben. Der Säkularismus ist im Kommen, die Kirchenbesuche werden weniger und die Feindschaft gegenüber christlichen Werten nimmt zu. Im Licht dieser unheilvollen Lage müssen wir uns fragen, ob die Kirche auf dem richtigen Weg ist. Haben wir etwas verpasst? Machen wir etwas falsch, das geändert werden muss?
Andy Stanleys’ neuestes Buch Einfach unwiderstehlich: Zurück zur atemberaubenden Kraft des Glaubens beantwortet diese Frage mit einem deutlichen „JA“. Wir befinden uns – so Stanley – auf dem falschen Weg und brauchen Veränderung, wenn wir die nächste Generation mit dem Evangelium erreichen wollen. Worin dieser falsche Weg besteht? Darin, dass sich das moderne Christentum zu sehr auf das Alte Testament stütze: Das Problem der modernen Kirche sei „unsere nicht enden wollende Gewohnheit, auf Konzepte, Lehren, Sprüche und Erzählungen des alten Bundes zurückzugreifen“ (S. 84).
Als Folge dessen hat das Christentum seine Kraft verloren. Die Relikte des Alten Bundes haben Stanley zufolge zu einer Vielzahl an Lastern in der Kirche geführt: das Wohlstandsevangelium, die Kreuzzüge, der Antisemitismus, sowie der Legalismus und mehr (vgl. S. 157).
Daher kommt seine dringende Anfrage an die Kirchenleiter: „Wären Sie bereit, in Betracht zu ziehen, Ihre Lehre über das, was es bedeutet, Jesus nachzufolgen, von allen Dingen des alten Bundes abzukoppeln?“ (S. 317). Das sei nötig, denn wenn „es um Stolpersteine für den Glauben geht, steht das Alte Testament ganz oben auf der Liste“ (S. 279).
Einfach gesagt, wenn Menschen Schwierigkeiten haben, zu glauben, dann „ist das Alte Testament normalerweise der Übeltäter“ (S. 277).
Eine gewagte These
Natürlich mangelt es Einfach Unwiderstehlich nicht an Wagemut. Wahrscheinlich rauben die oben getätigten Aussagen den meisten Lesern den Atem. Immerhin hat Stanley alle großen Probleme der Kirche – von den Kreuzzügen bis zur Gesetzlichkeit – unserem andauernden Gebrauch des Alten Testaments zugeschrieben. Und auch seine Lösung ist gewagt: Wenn das Alte Testament das Problem ist, dann muss es eben weg.
„Stanley behandelt das Gesetz der mosaischen Ära als einen einzigen, nicht differenzierten Klumpen. Fällt ein Teil davon weg, muss alles wegfallen. Das Neue Testament schaut aber nicht auf diese Weise auf die Gesetze.“
Natürlich braucht eine derart eindringliche, weitreichende These dazu passende eindringliche und weitreichende Argumente zur Stütze. Aber genau hier gerät das Buch in ernsthafte Schwierigkeiten. Wie ich im Folgenden darlegen möchte, können Stanleys Argumente das Gewicht seiner These nicht tragen. Stanley bewegt sich weit darüber hinaus, was durch die Bibel (oder die Kirchengeschichte) gestützt werden kann.
Was bleibt und was muss weg?
In einer kurzen Besprechung, wie sie hier vorliegt, kann ich nur Einzelheiten aufzeigen. Ich möchte jedoch damit beginnen, was es nach Stanleys Ansicht bedeutet, dass das Alte Testament obsolet, bzw. „veraltet“ (Hebr 8,13) sei. Stanley hat natürlich recht, wenn er schreibt, dass viele Aspekte der Mosaischen Zeit mit dem neue Bund abgeschafft wurden. In der Tat kann ich den gesamten ersten Abschnitt (S. 15-62) als hilfreiche Diskussion empfehlen, in der aufgezeigt wird, dass die Anbetung im Alten Bund mit Tempel, Tieropfern und irdischen Priestern jetzt in Christus erfüllt ist.
Stanley geht aber von der Annahme aus, dass die Außerkraftsetzung der alten Regeln, die das kultische Leben betreffen, die Abschaffung aller Gesetze des alten Bundes beinhaltet. Somit behandelt er das Gesetz der mosaischen Ära als einen einzigen, nicht differenzierten Klumpen. Fällt ein Teil davon weg, muss alles wegfallen. Das Neue Testament schaut aber nicht auf diese Weise auf die Gesetze. Auch haben Theologen diese Gesetze historisch gesehen nicht so behandelt. Es ist weithin anerkannt, dass es „moralische“ Gesetze des Alten Bundes gibt, so wie die „Zehn Gebote“, die anhaltende Relevanz haben. Schließlich ändert sich die Basis der moralischen Gesetze (d.h. Gottes eigener Charakter) keineswegs.
Da Stanley diese Unterscheidung übersieht, ist er sogar bereit, die Zehn Gebote abzulehnen. „Die Zehn Gebote haben keine Autorität über Sie. Gar keine. Um das ein für alle Mal klarzustellen: Du sollst nicht den Zehn Geboten gehorchen!“ (S. 133). Und er geht sogar noch weiter: „Vor diesem Hintergrund sollten wir nicht überrascht sein, wenn wir entdecken, dass Paulus nie den alten Bund als Grundlage für christliches Verhalten verwendet“ (S. 208).
Abgesehen von dem rhetorischen Schock derartiger Aussagen, widersprechen sie ganz einfach zahlreichen Aussagen im Neuen Testament. Ein Beispiel finden wir in Epheser 6,1, wo Paulus gläubige Kinder dazu auffordert, ihren Eltern zu gehorchen. Mit Sicherheit gründet Paulus diese Ermahnung auf den neutestamentlichen Lehren von Jesus, oder? Nein! Paulus zitiert die Zehn Gebote: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, damit du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt!“ (2Mo 20,12).
Erstaunlicherweise erwähnt Stanley 2. Mose 20,12 aber nur als Beispiel für das, was die Autoren des Neuen Testaments angeblich niemals tun! „Wir von der Gattung neuer Bund ehren unsere Väter und Mütter nicht, damit wir ‚lange in dem Land leben‘, das der Herr, unser Gott, uns gibt“ (S. 234). Offensichtlich hat er Epheser 6,1 übersehen. Jedenfalls wird die Stelle nirgends erwähnt.
Teilen und herrschen
Stanley nutzt mehrere Strategien, um Christen von dem Alten Testament fernzuhalten. Eine dieser Strategien besteht darin, die Unterschiede und Veränderungen zwischen den Bündnissen hervorzuheben. In Stanleys Vorstellung sind die Bünde einander nämlich grundsätzlich entgegengesetzt (vgl. S. 144).
So steht das Alte Testament seiner Meinung nach für den Hass der Feinde, das Neue Testament aber für die Liebe zu den Feinden (vgl. S. 102). Der Alte Bund sei mit der „Unterdrückung der Frau“ durchzogen, indem Frauen wie „Ware“ behandelt würden, während sie im Neuen Testament als „Partner“ (S. 216) gesehen werden. Im Alten Bund sei Gott „heilig“, aber im Neuen „Liebe“ (S. 221). Im Alten Bund sei Gott „zornig“, im Neuen habe er ein „gebrochenes Herz“ (S. 252). Nach dem Alten Bund verlasse man sich auf die Bibel, im Neuen liebe man die Menschen einfach (S. 235).
Die Betonung der Unterschiede zwischen den Bünden spiegelt die Hermeneutik des klassischen Dispensationalismus wider. Dies mag Menschen dazu bewegen, sich von dem Alten Bund abzulösen, ob es den Bund aber wahrheitsgetreu repräsentiert, ist eine andere Frage.
Nehmen wir zum Beispiel die Idee, dass es im Alten Bund darum gehe, die Feinde zu hassen. Stanley beruft sich hier auf Jesu Worte bei der Bergpredigt: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen“ (Mt 5,43–44). Stanley nimmt fälschlicherweise an, dass Jesus hier gegen den Alten Bund als Ganzes argumentiert. An keiner Stelle des Alten Testaments heißt es jedoch, man solle seine Feinde hassen. Diese Aussage gibt es einfach nicht! Theologen haben daher richtigerweise erkannt, dass sich Jesus gegen die Verdrehungen und den Missbrauch des Alten Testaments durch die Pharisäer richtet. Schließlich heißt es sogar im Alten Testament: „Hat dein Feind Hunger, so speise ihn mit Brot; hat er Durst, so gib ihm Wasser zu trinken!” (Spr 25,21).
Dieses grundsätzliche Problem durchzieht die Buchseiten: Stanley verwechselt die Verzerrungen des Alten Bundes mit dem Alten Bund selbst.
Ein weiteres Beispiel ist der von Stanley angesprochene Rassismus im alten Judaismus. In diesem Zusammenhang erzählt er die Geschichte eines modernen weißen Paares, das der Heirat ihrer Tochter mit einem schwarzen Mann entgegenstand. Sie glaubten, dass Mose für seine Heirat mit einer dunkelhäutigen Midianiterin von Gott verurteilt wurde (vgl. S. 146). Diese Geschichte verwundert den Leser, denn offensichtlich haben die Eltern diese alttestamentliche Geschichte absolut missverstanden (und missbraucht), um ihre rassistischen Ansichten zu stützen. Aber was hat das mit dem Wesen des Alten Bundes selbst zu tun? Will Stanley andeuten, dass der Alte Bund rassistisch sei oder zu Rassismus führe? Dem ist sicher nicht so, aber warum wird die Geschichte dann überhaupt erzählt?
Diese Strategie führt dazu, dass der Alte Bund wie ein hartes, kaltes und starres Arrangement erscheint, sodass wir froh sein können, wenn wir uns davon gelöst haben. An keiner Stelle werden wir daran erinnert, dass die Gläubigen des Alten Bundes, obwohl sie zu einem provisorischen Abkommen mit Typen und Schatten gehörten, trotzdem durch Gnade gerettet wurden, durch ihren Glauben an den kommenden Retter (vgl. Hebr 11,22–40). Wir erfahren auch nicht, dass Paulus darauf hinweist, dass die Beschneidung für die Heiligen des Alten Bundes ein Zeichen der Rechtfertigung durch Glauben war (vgl. Röm 4,11).
Anders gesagt sind die Unterschiede zwischen den Bündnissen keineswegs so radikal wie von Stanley vorgeschlagen.
Eine Lektion aus der Kirchengschichte?
Wenn wir wissen möchten, wie (oder ob) Christen das Alte Testament nutzen sollen, können wir schauen, was die ersten Christen taten. Hätten die Kirchenväter des zweiten und dritten Jahrhunderts Stanley zugestimmt? Nein, denn sie haben das Alte Testament nicht nur gelesen, studiert und in der Anbetung genutzt (siehe z.B. Justin der Märtyrer, Erste und zweite Apologie, S. 67), sondern auch darauf bestanden, dass Christus ihr Hauptthema ist. Das Alte Testament war so wertvoll, weil Christus in ihm ist.
„Die Kirchenväter des zweiten und dritten Jahrhunderts haben das Alte Testament nicht nur gelesen, studiert und in der Anbetung genutzt, sondern auch darauf bestanden, dass Christus ihr Hauptthema ist. Das Alte Testament war so wertvoll, weil Christus in ihm ist.“
Kaum zu glauben, dass Stanley davon nicht verunsichert ist. Stattdessen setzt er noch einen drauf und besteht darauf, dass eben auch die Kirchenväter falsch gelegen seien! Sie hätten Paulus‘ Warnungen, zu “vermischen und an[zu]gleichen” (S. 157), ignoriert. Er geht sogar noch weiter und argumentiert, dass alle Versuche, Christus im Alten Testament zu finden, Bespiele sind, wie Christen, die den Zusammenhang und die Bedeutung des Textes ignorieren (vgl. S. 158), in die jüdischen Schriften „einbrechen“. Darüber hinaus argumentiert er, dass Christen durch das Christus-im-Alten-Testament-Verständnis zum Antisemitismus geführt wurden.
Zurecht werden diese Aussagen viele Leser verblüffen. Was die Rolle des Alten Testaments angeht, lagen laut Stanley nämlich alle Personen in der Kirchengeschichte falsch – bis jetzt. Das ist wirklich eine erstaunliche Behauptung.
Doch da gibt es eine Person in der Kirchengeschichte, die ähnliche Ansichten wie Stanley vertrat – Marcion aus dem zweiten Jahrhundert. Ich sage hier bewusst ähnlich, da es bedeutsame Unterschiede gibt (Marcion lehnte das Alte Testament als Produkt eines falschen Gottes ab). Trotzdem teilen beide die tiefe Überzeugung, dass das Alte Testament dem reinen Evangelium von Paulus grundsätzlich widerspricht. Marcion hat sich dabei übrigens als jemand gesehen, der dem Christentum helfen möchte. Er versuchte das Evangelium zu schützen. Das Christentum musste gerettet werden – auch wenn das bedeutete, es vor sich selbst zu schützen.
Marcions Sicht hat sich am Ende nicht durchgesetzt. Die frühen Christen lehnten sein Konzept vollkommen ab. Stattdessen stand er als Erinnerung für viele kommende Generationen, dass die Kirche grundsätzlich dem anhaltenden Wert und der Relevanz des Alten Testaments verpflichtet ist.
Endspiel
Was ist der Nutzen des von Stanley vorgeschlagenen Paradigmenwechsels? Seiner Meinung nach wird es dabei helfen, Ungläubige besser zu erreichen. Im Grunde genommen bieten die letzten Kapitel von Einfach unwiderstehlich einen neuen (wenn auch nicht wirklich neuen) Ansatz der Apologetik: lenke den Fokus weg von der Bibel (insbesondere von dem Alten Testament) hin zu der Auferstehung.
„Obwohl eine Person nicht an die Bibel glauben muss, um errettet zu werden, muss die Bibel wahr sein, damit sie gerettet werden kann.“
Stanley erinnert uns, dass die Menschen nicht an die Bibel glauben müssen, um Christen zu sein. Warum also über ihre Wahrheit debattieren? Er schreibt: „Die Glaubwürdigkeit unseres Glaubens hängt nicht von der Glaubwürdigkeit der in den jüdischen Heiligen Schriften aufgezeichneten Ereignisse ab“ (S.307).
Zum Teil hat Stanley recht. Die Menschen müssen nicht an die Bibel glauben, um errettet zu werden (zumindest nicht an alles). Ja, sie müssen noch nicht einmal wissen, dass eine Bibel existiert, um gerettet zu werden (denken wir nur an Mission unter einem unerreichten Stamm im Dschungel). Aber Stanley lässt ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal aus (oder realisiert es selber nicht): Obwohl eine Person nicht an die Bibel glauben muss, um errettet zu werden, muss die Bibel wahr sein, damit sie gerettet werden kann.
Warum? Weil Jesus sagt, dass die Bibel wahr ist. Und wenn das nicht wahr ist, dann lag er falsch. Und das ruft Probleme für unsere Errettung hervor. Aber es geht um noch mehr! Wenn Jesus der Herr des Universums und unser Gott ist, dann ist er auch der Autor des Alten Testaments. Er hat es (durch inspirierte Menschen) verfasst. Also ist die Frage nach der Wahrheit des Alten Testaments von größter Wichtigkeit.
Somit steht Stanleys Sicht auf das Alte Testament im direkten Kontrast zu der Sicht Jesu auf das Alte Testament. Sicher behauptet Stanley, Jesu Sicht zu folgen (vgl. S. 69), doch seine Position enthält eine ungelöste (oder vielleicht unlösbare) Spannung. Er erkennt nicht an, dass die Autorität Jesu mit der Wahrheit des Alten Testaments verknüpft ist. Sie stehen und fallen gemeinsam.
Straßensperre
Ich möchte festhalten, dass ich den Gedanken hinter Einfach unwiderstehlich schätze. Wir alle möchten mehr Menschen für Christus gewinnen. Jede Straßensperre, die im Weg ist, soll entfernt werden. Wir alle können eine wichtige Lektion aus Stanleys Leidenschaft für Verlorene ziehen. Ich wünschte, dass mehr Kirchen (und Pastoren) dafür arbeiten würden, ungläubige Menschen zu erreichen.
„Bei der Glaubensverteidigung kommt es zuweilen zu einer traurigen Ironie. Wir können so versessen darauf sein, alle Hindernisse wegzuräumen, dass wir selber unwillentlich dem Christentum im Weg stehen. Wenn wir nicht vorsichtig sind, verlieren wir genau die Sache, die wir retten wollen.“
Doch nicht jede Straßensperre kann entfernt werden. Einige Lehren sind für die Wahrheit des Christentums und die Gesundheit der Gemeinde so zentral, dass sie nicht entfernt werden können. Bei der Darstellung des Evangeliums sei die Bibel und insbesondere das Alte Testament laut Stanley im Weg. Da widerspreche ich. Aber nicht nur ich. Stanley stellt sich sowohl gegen die gesamte Kirchengeschichte als auch gegen das theologische Erbe der protestantischen Reformation. Mehr noch ist er, wie ich dargestellt habe, mit der Bibel selbst nicht im Einklang.
Bei der Glaubensverteidigung kommt es zuweilen zu einer traurigen Ironie. Wir können so versessen darauf sein, alle Hindernisse wegzuräumen, dass wir selber unwillentlich dem Christentum im Weg stehen. Wenn wir nicht vorsichtig sind, verlieren wir genau die Sache, die wir retten wollen.
Buch
Andy Stanley, Einfach unwiderstehlich: Zurück zur atemberaubenden Kraft des Glaubens, Holzgerlingen: Gerth Medien, 2020, 336 Seiten, 20,00 Euro.