Predige die Bibel, nicht den Calvinismus
„Sind Sie Calvinist?“, fragte mich der Hilfspastor. Er leitete das Gremium, das mit der Suche nach einem neuen Pastor beauftragt war. „Denn wenn Sie ein Calvinist sind, dann ist dieses Vorstellungsgespräch nun vorbei.“
Wie würdest du auf so eine Frage antworten? Als Sieben-Punkte-Calvinist antwortete ich: „Was meinen Sie mit Calvinist?“ Er antwortete: „Mit Calvinist meine ich, dass Sie das Evangelium nur mit den Erwählten teilen und dass Sie nicht für die Errettung von Menschen beten müssen, weil schon feststeht, wer gerettet wird.“ Ausgehend von dieser Definition antwortete ich: „Nein, ich bin kein Calvinist.“ Vier Monate danach wurde ich als Pastor dieser Gemeinde eingesetzt.
Männer sehnen sich nach dem Pastorat, weil sie die Heiligen in gesunder Lehre unterrichten und ausrüsten wollen (Eph 4,11–16). Pastoren wollen ihre Gemeindemitglieder zu Jüngern Jesu machen, damit diese alles halten, was Christus ihnen befohlen hat (Mt 28,20). Sie lehren die Wahrheit, um die Gemeinde in die Lage zu versetzen, jeden Gedanken gefangen zu nehmen zum Gehorsam gegen Christus (2Kor 10,3–5). In der Folge stehen wir Pastoren vor der Entscheidung, unsere calvinistische Doktrin „durchzudrücken“ oder uns zurückzuhalten. Biblischer und theologischer Analphabetismus belasten uns. Unsere Zuhörer gehen entweder davon aus, dass der persönliche, freie Wille unabhängig von Gottes Souveränität ist, oder aber sie halten Gottes Willen für so dominant, dass er jede menschliche Verantwortung von vornherein ausschließt. Zu viele Menschen wissen einfach nichts über den menschlichen Willen, der mit Gottes unveränderbaren Verordnungen kompatibel ist.
Werden unsere Gemeindeglieder die theologischen Zusammenhänge verstehen? Was, wenn sie dem Arminianismus „auf den Leim gehen“? Was noch viel wichtiger ist: Werden sie inmitten schlimmen Leides den starken Felsen der Weisheit Gottes, seiner Kraft und Güte haben? Oder werden sie weggeweht von einem jener unaufhörlichen Winde falscher Lehre? Aber selbst wenn wir davon ausgehen, dass sie sich den Calvinismus zu eigen machen, was, wenn dies nur dazu führt, dass ihr Stolz auf theologisches Wissen zunimmt? Pastoren laufen Gefahr, sich über diese Unsicherheiten Sorgen zu machen und ungeduldig darüber zu werden, wo ihre Gemeindemitglieder in ihrem theologischen Verständnis stehen.
Ich selbst war gedrängt, übermäßig, ungeduldig und übereifrig zu reagieren und meine Gemeindemitglieder in eine theologische Schublade zu stecken. Aus Gnade gelang es mir jedoch, von schnellen Antworten abzusehen und stattdessen klärende Fragen zu stellen. Während ich versuchte, meine Gemeinde als Hirte mit Weisheit zu leiten, kamen viele und dies sogar, ohne es selbst zu wissen, zu einem gesunden Verständnis, einer gesunden Überzeugung und einer gesunden Hingabe hinsichtlich Gottes souveräner Freiheit.
Dabei tut sich aber folgende Frage auf: Wie können wir genau das bewerkstelligen? Obwohl eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass einige es für zu einfach ansehen: Predige die Bibel und nicht den Calvinismus. Denn natürlich ist es so, dass wenn der Calvinismus wahr ist, du, wenn du die Bibel predigst, gleichzeitig auch den Calvinismus predigst. Ich will es noch klarer formulieren: Mach es dir nicht zur Aufgabe, dein System mit seiner Terminologie zu predigen. Setze dir das Ziel, die Bibel selbst zu predigen.
Jetzt wirst du vielleicht einwenden: Wenn der Calvinismus wahr ist, warum sollte ich ihn dann nicht predigen? Aus drei Gründen solltest du den Calvinismus nicht predigen: Wegen des Inhalts, der Funktion und des Ziels des Predigt.
1. Wegen des Inhalts der Predigt
Predige die Bibel anstelle des Calvinismus, weil die Worte der Bibel gottgehaucht sind und nicht bloß unsere theologischen Formulierungen darstellen. Von Paulus wissen wir, dass „alle Schrift von Gott eingegeben ist“ (2Tim 3,16; vgl. 2Petr 1,21). Die Worte, die in der Schrift festgehalten wurden, sind Gottes Worte. Vertrauen wir den von Gott souverän ausgewählten Worten mehr als unserer Theologie über seine Souveränität?
Ein gutes Beispiel für einen Prediger, der danach trachtete, biblisch zu sein, ist Charles Simeon. Obwohl er an bedingungslose Erwählung glaubte, beschloss er, „sich zu bemühen, jedem Teil des Wortes Gottes seine volle und angemessene Kraft zu verleihen, ohne dabei zu bedenken, welches Schema dieser begünstigt oder welches System er am wahrscheinlichsten voranbringt“.[1] Wenn du Calvinist bist, weil es biblisch ist, dann freue dich darüber und demütige dich selbst vor der Bibel.
Simeon dachte über die theologischen Spannungen nach, die calvinistische Prediger empfinden, wenn sie versuchen, gewisse biblische Passagen ausgewogen darzustellen, und schrieb:
„Aber der Autor [Simeon] würde sich nicht wünschen, dass eine von ihnen verändert wird. Er findet genauso viel Gefallen an diesen wie auch an jenen Passagen und verwendet sowohl die einen, die ihm zusagen, als auch die anderen. Da wo der inspirierte Schreiber in ungeeigneten Begriffen spricht, fühlt er sich frei, das Gleiche zu tun – davon ausgehend, dass die Schreiber keinerlei Belehrung von ihm darüber brauchen, wie die Wahrheit zu verkünden ist. Er begnügt sich damit, zu den Füßen der heiligen Apostel zu sitzen, um zu lernen, statt sie zu belehren, wie sie sich auszudrücken haben.“[2]
Die Worte der Bibel sind Gottes Worte, also festige deine Gemeindeglieder in diesen Worten. Vertraue deinem großen Gott mehr als deiner Rede über große göttliche Theologie. Lehre und genieße die im Text verankerte Theologie, weil die Worte der Bibel dazu ausreichen, calvinistisches Denken zu prägen. So äußerte sich D.A. Carson zu Apostelgeschichte 13,48 in folgender Weise:
„Nach der detaillierten Schilderung der Predigt von Paulus in Antiochia in Pisidien werden wir darüber unterrichtet, dass viele Heiden ‚froh wurden und das Wort des Herrn priesen, und alle jene gläubig wurden, die zum ewigen Leben bestimmt waren‘ (Apg 13,48). Es ist eine wunderbare Sache, herauszufinden, wo und wie in der Apostelgeschichte oder im gesamten Neuen Testament über Bekehrung und Bekehrte gesprochen wird – und diese Redewendungen dann in unseren eigenen Sprachgebrauch einzubauen. Denn unsere Art, über diese Dinge zu reden, reflektieren und formen die Art und Weise, wie wir darüber denken. Es gibt einfach keine Bibelstelle, die davon spricht, ‚Jesus als persönlichen Retter anzunehmen‘ (obgleich die Formulierung an und für sich natürlich nicht völlig falsch ist). Warum also übernehmen so viele diese Redeweise und sprechen nie so, wie es in Apostelgeschichte 13,48 getan wird?“[3]
Die Art und Weise, wie unsere Gemeinde über Errettung und Souveränität denkt, sollte von den Worten der Bibel „reflektiert und geformt“ werden. Nach etwa zwei Jahren hielt ich eine Predigt über 2. Mose mit dem Thema „Gottes Souveränität“. Ich las alle Verse laut vor, die davon sprachen, dass (1) der Pharao sein Herz verhärtete, (2) das Herz des Pharao verhärtet wurde und (3) Gott dessen Herz verhärtet hatte. Dann fragte ich meine Gemeinde, die vorgab, anticalvinistisch zu sein: „Wer war letzten Endes dafür verantwortlich, dass sich das Herz des Pharao verhärtete? Gott oder der Pharao selbst?“ Zu meiner Überraschung gaben sie alle lautstark und voller Überzeugung zur Antwort: „Gott!“ Was auch immer sie unter der Bezeichnung „Calvinist“ verstanden, ich dankte Gott dafür, dass sie diese Lehre angenommen hatten.
2. Wegen der Funktion des Predigens
Beim Predigen geht es um mehr als nur darum, Informationen zu vermitteln. Die Verkündigung formt und befeuert stattdessen die gesunde Lehre in der Gemeinde.
Ja, über die Predigt am Sonntag werden biblische Informationen weitergegeben. Aber das ist nicht alles. Die Auslegungspredigt – also die Predigt, bei der Worte und Zielsetzung des Textes die Worte und das Ziel der Predigt bestimmen – lehrt die Gemeinde, sich den biblischen Texten unterzuordnen und über diese nachzusinnen. Mit der Auslegungspredigt veranschaulicht der Prediger wöchentlich, wie er sich fröhlich dem Text unterordnet. Sie zeigt zudem, wie man über die Schrift nachdenken soll, indem sie Fragen aufwirft und Formulierungen erklärt. Es ist daher das Anliegen des Predigers, durch diese Art des Predigens seine Zuhörer dahin zu bringen, sich der Schrift unterzuordnen und über diese nachzudenken.
Der sonntäglichen Versammlung zu predigen, stellt die Urquelle allen pastoralen Dienstes dar, weil du dabei als Hirte die ganze Gemeinde auf einmal mit geistlicher Speise versorgst. Aber die Urquelle ist nicht die ganze Quelle. Das Predigen nährt die Gemeinde mit gesunder Lehre über den Sonntag hinaus. Das gepredigte Wort erfährt durch den Dienst des Pastors und durch die gegenseitige Zurechtweisung in der Gemeinde einen Widerhall.
Zur Aufgabe eines Pastors gehört mehr als nur das Predigen. Pastoren beten für die Herde (Apg 6,4), sie lehren auch an anderen Orten (Apg 20,20), sie wachen (Hebr 13,17), sie rüsten aus (Eph 4,11ff) und sie sind ein Beispiel reifen Christseins (1Tim 3,1–7). Gott hält noch einige andere, sich gegenseitig ergänzende Wege bereit, die Gemeinde in gesunder Lehre zu festigen: Unterricht, gemeinsames Essen, Unterhaltungen, Eins-zu-eins-Bibellesen, Bibelstudien, Kleingruppen etc. So wenig wie die sonntäglichen Versammlungen das gesamte Gemeindeleben ausmachen, so wenig macht das Predigen den ganzen pastoralen Dienst aus.
Indem die Gemeindeglieder ihr Leben miteinander teilen, haben sie durch ihre Beziehungen untereinander Anteil an Jesus und seinen Worten. Die örtliche Gemeinde mit ihrem dazugehörenden Netz ist der von Gott geschaffene Nährboden für Jüngerschaft und lehrmäßige Reife (Eph 4,11–16). Deshalb predige die Bibel und die Gemeindeangehörigen werden sich darüber austauschen. Darüber hinaus ist es, sofern ein Glaubensbekenntnis vorhanden ist, sehr empfehlenswert, die Gemeinde in diesem Bekenntnis zu festigen und sie dieses immer wieder wiederholen zu lassen. Stärke ihre Einheit im Gemeindebekenntnis. Bevorzuge solche Bekenntnisse anstelle von calvinistischen Etiketten. Wenn du darauf vertraust, dass Calvinismus biblisch ist, dann wisse auch, dass es nicht notwendig ist, speziell calvinistische Begriffe zu gebrauchen.
Als meine Gemeinde auf der Suche nach einem Pastor fragte, ob ich Calvinist sei, verneinte ich dies, weil die Leiter des Gremiums mit diesem Begriff etwas anderes verbanden als ich. Ihr „Calvinismus“ entpuppte sich letztlich als „Hyper-Calvinismus“. Stattdessen erläuterte ich mein Verständnis darüber, wie Gottes endgültige Auswahl und unsere Entscheidungen kompatibel sind, worin sie mir beipflichteten. Ich wies sie auf ihr Glaubensbekenntnis hin und sagte ihnen, dass ich dem mit ganzem Herzen zustimme.
3. Wegen des Ziels der Predigt
Das Ziel des Lehrens und Predigens besteht weder in theologischer Gelehrsamkeit, noch darin, ohne Scham die Etikette „Calvinismus“ zu verwenden. Stattdessen besteht „das Ziel unserer Unterweisung in Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben“ (1Tim 1,5). Unser Ziel ist Liebe: Liebe zu Gott, zu einander und zu unseren Nächsten (Mk 12,30–31; Joh 13,34–35). Warum? Weil uns Paulus in dem befohlenen Streben nach Erkenntnis (2Petr 3,18) davor warnt, dass „die Erkenntnis aufbläht, die Liebe aber erbaut“ (1Kor 8,1). Weil nun Gott den Aufgeblähten widersteht, aber den Demütigen Gnade gibt, geben wir uns ganz der Aufgabe hin, unserer Gemeinde eine immer größere Erfahrung von Gnade zu ermöglichen (1Petr 5,5; Jak 4,6). Gott bewahre uns davor, dazu beizutragen, dass er unseren Gemeindegliedern widersteht, während diese in ihrem theologischen Stolz wachsen, welcher von unseren Kanzeln strömt.
Zwei Alternativen zu biblisch fundierter Liebe sind (1) gefühlsduselige Absichten, frei von jeder Einsicht, und (2) abstraktes Wissen, das nie zu Taten der Liebe führt. Während wir theologische Ignoranz zu überwinden suchen, laufen wir Gefahr, theologische Erkenntnis zum Ziel statt zum Mittel zu machen. Aber theologische Erkenntnis sollte nicht um ihrer selbst willen angestrebt werden, sondern um der Liebe willen.
Pastor, festige deine Gemeinde in dem Ziel der Liebe Gottes, indem du sie die Schrift lehrst. Predige gemäß der Funktion und dem Ziel der Bibel und du wirst die göttliche Liebe veranschaulichen, für die du betest. Kurz gesagt: Mach es dir zur Aufgabe, nach biblisch fundierter Liebe zu trachten und nicht nach theologischer Fachsimpelei ohne Liebe.
Schlussfolgerung
Der Inhalt, die Funktion und das Ziel der Predigt sprechen dafür, die Bibel und nicht den Calvinismus zu predigen. Bedenke, dass das Vertrauen deiner Gemeindemitglieder in die Schrift wichtiger für ihre Seelen ist, als ihr Verständnis der theologischen Terminologie.[4]
Frage dich selbst: Warum willst du überhaupt so leidenschaftlich den Calvinismus predigen? Weil der in der Bibel konzipierte Calvinismus dich einst so gedemütigt hat und eine Flamme der Freude in deinem Herzen entzündet hat, die du nie erlöschen lassen willst? Amen! Ich frage dich: Bist du wirklich durch das Lesen systematischer Theologie vom Calvinismus überzeugt worden? Oder bist du durch Gottes Wort zur Freude geführt worden?
Brüder, die Bibel statt den Calvinismus zu predigen, wird euch von der Last befreien, eure Gemeinde zu nahrhaften theologischen Gewässern zu führen. Gottes Wort wird es vollbringen. Vertraut der Bibel, nicht eurem eigenen theologischen Scharfsinn oder dem anderer.
Ansonsten werdet ihr vielleicht nur eure Gemeinde mit eurer theologischen Präzision beeindrucken und diese wird am Schluss euch ehren. Entweder ihr werdet nur ihre theologischen Stammeskonflikte ausweiten oder aber ihren Argwohn über eure Lehre vermehren und sie der souveränen Freiheit Gottes überlassen, die seine Gemeinde rettet.
Aber wenn du ausdrücklich die Bibel mit standhaftem Vertrauen in den Text predigst, dann wird deine Gemeinde mit der Zeit Gottes Wort kennen. Sie werden ihm vertrauen und so in die Lage versetzt werden, mit zukünftigem Leid umzugehen. Andernfalls wären sie gar nicht dazu fähig, selbst wenn du ihnen den Calvinismus mit Gewalt aufzwingen wolltest. Dem Worte Gottes wird die Ehre zukommen, die wirkliche Sicherheit der Gemeinde zu sein. Und du wirst sie mit Gottes Frieden und Geduld wie ein Hirte leiten, der unseren guten Hirten widerspiegelt.
[1] Handley Moule, Charles Simeon: Pastor of a Generation, Kindle-Ausgabe, Pos. 1066.
[2] Ebd., Pos. 1062–1070.
[3] For the Love of God, Bd. 1.
[4] Es muss angemerkt werden, dass systematisch-theologische Begriffe in jüngerschaftlichen Gesprächen oft hilfreich und in gewisser Hinsicht auch notwendig sind, obwohl sie nur sehr selten im sonntäglichen Kanzeldienst gebraucht werden.