
Das Café am Rande der Welt
Der 2007 in deutscher Sprache erschienene Titel Das Café am Rande der Welt nimmt bis heute einen Spitzenplatz in den Verkaufsrängen ein. Über 11.000 Bewertungen wurden allein auf der deutschsprachigen Internetseite von Amazon abgegeben. Als Theologe spricht mich der Untertitel Eine Erzählung über den Sinn des Lebens an. Hier zeigt sich, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens jeden Menschen antreibt. Blaise Pascal erklärt treffend: „Alle Menschen ohne Ausnahme streben danach, glücklich zu sein, wie verschiedenen die Wege auch sind, die sie einschlagen; alle haben dieses Ziel. [...] Es ist der Beweggrund aller Handlungen des Menschen, selbst derer, die im Begriff stehen, sich zu erhängen.“[1]
Erstaunliche Parallelen
Bereits die Buchwidmung verrät Wesentliches über den Inhalt: „Um ganz wir selbst zu sein, müssen wir unser wahres Selbst zulassen.“ Es geht in diesem Buch also darum, zu erfahren, wie wir ganz „wir selbst“ sein können. Die Abweichung von diesem Ideal ist in diesem Satz ebenfalls schon enthalten. Dies ist dann der Fall, wenn wir nicht ganz „wir selbst“ sein können. Wer kann den optimalen Zustand erreichen? Die Antwort ist simpel: Jeder. „So einfach ist das.“ Der einzige Hemmschuh sind wir selbst: „Es liegt nur an uns, wenn es schwer erscheint.“ Das Urteil Gottes über unseren Zustand spielt offensichtlich keine Rolle.
„Der Autor geht also implizit von der Denkvoraussetzung aus, dass jeder Mensch einen Daseinszweck hat, nach Erfüllung sucht und sich vor dem Tod fürchtet.“
Das Vorwort verrät, dass es um den beruflich erfolgreichen Werbefachmann John geht, der jedoch die „Orientierung für das eigene Leben verloren“ hat (S. 7). Das Bewusstsein dafür reift nach einem „Stillstandserlebnis“ auf der Autobahn, gerade als der geschäftige Mann in den Urlaub fahren will. Aus dem gewohnten Rhythmus geworfen und mit dem eigenen Frust konfrontiert, gelangt er hungrig und mit fast leerem (Benzin-)Tank zu einem Café. Gegenüber der aufmerksamen Bedienung gesteht er: „Ich bin etwas vom Weg abgekommen“ (S. 20). Das ehrliche Eingeständnis hat erstaunliche biblische Parallelen: „Ich wusste nicht genau, wohin ich unterwegs war oder warum ich mich in eine bestimmte Richtung bewegte.“ Ähnlich bezeichnet sich der Psalmist als umherirrendes Schaf (Ps 119,176). Jesaja beschreibt die Menschen als Schafe, von denen jedes sich auf den eigenen Weg wendet (Jes 53,6). Doch damit nicht genug mit christlichen Anklängen. Die in diesem Café zwischen John und dem Servicepersonal und anderen Gästen entsponnene Diskussion dreht sich um drei Fragen, die auf der Speisekarte notiert sind: Warum bist du hier? Hast du Angst vor dem Tod? Führst du ein erfülltes Leben? (S. 21). Der Autor geht also implizit von der Denkvoraussetzung aus, dass jeder Mensch einen Daseinszweck hat, nach Erfüllung sucht und sich vor dem Tod fürchtet.
Dem Leser wird eine entscheidende Wende in Form eines Erlebnisses und eine grundsätzlich veränderte Perspektive versprochen (vgl. S. 26–27). Paulus bestätigt im Neuen Testament, dass die Frage nach dem Dasein von jedem Menschen dauernd gestellt, die eigentliche Antwort jedoch unterdrückt wird. Dies löst eine große innere Spannung aus (vgl. Röm 1,18–21). Der Autor lässt denn auch ankündigen: „Sobald ein Mensch weiß, warum er hier ist, warum er existiert, welchen Grund es dafür gibt, dass er am Leben ist, wird er den Wunsch haben, dem Sinn und Zweck seiner Existenz gerecht zu werden“ (S. 35). „Die Frage ist wie ein Tor. Wer es einmal aufstößt, wird immer wieder davon angezogen. Und wenn es einmal offen ist, lässt es sich nur schwer wieder schließen“ (S. 32). Stoßen wir es also auf.
Ein selbstbestimmtes Leben führen
Mit der Beantwortung der Frage, warum ein Mensch lebt, erreichen wir die entscheidende Weiche. Hier argumentiert Strelecky jedoch unter der Annahme, dass Gott nicht existiert. Er behauptet, dass jeder die Frage nach dem Sinn anders beantwortet und mit der Antwort anfangen kann, was er will (vgl. S. 44). Er schreibt etwas nebulös: „Manche sehen es als Teil des natürlichen Flusses des Universums oder als höhere Kraft, die am Werke ist. Wieder andere empfinden es einfach als Glück“ (S.95). Immerhin lässt der Autor eine „Theorie“ (S. 41+47) zu; ebenso geht er einen für die Postmoderne unüblichen Weg, Fragen nicht offen zu lassen, sondern zu beantworten. Seine Antwort lautet: „Tue, was immer du willst und was deiner Bestimmung entspricht“ (S. 45).
Aber was ist dann überhaupt das Problem? Strelecky erklärt: Die bisherigen Entscheidungen sind in der Abstimmung mit anderen getroffen worden. Dies wertet er als selbst auferlegte Einschränkung, derer wir uns entledigen müssen (vgl. S. 49). Wir sollten uns seiner Meinung nach nicht wie grüne Meeresschildkröten verhalten, die die Strömung nutzen, um sich fortzubewegen. Wenn andere uns den Lebenszweck vorgeben, gehen wir am eigentlichen Leben vorbei. „Unsere Aufgabe [...] besteht darin zu erkennen, dass uns etwas erfüllt, weil wir es selbst nun einmal so empfinden, und nicht, weil jemand anderer uns sagt, dass es erfüllend sei“ (S. 76). Hier wird der Bogen zur zweiten Frage nach der Todesangst geschlagen. Der Schreiber des Hebräerbriefs spricht davon, dass jeder unerlöste Mensch lebenslänglich unter Todesfurcht steht (Heb 2,14–15). Dies wird von Strelecky abgeändert: Nur diejenigen Menschen hätten Todesangst, die den Lebenszweck nicht erkannt hätten und nicht zur Tat schritten. „Es geht darum, die Dinge, die ich tun möchte, auch tatsächlich zu tun“ (S. 82).
Laut Strelecky leben viele Menschen kein selbstbestimmtes Leben. Ihr Kurs wird ihnen von anderen eingeredet. Erst ein im sprichwörtlichen Sinne autonomes Leben würde zur Erfahrung der Ganzheit führen, das dann durch Erfüllung und entsprechenden Erfolg gekennzeichnet sei. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man sich alles zunutze machen, was den selbst entdeckten Lebenszweck fördert. Umgekehrt gilt, sich alles vom Leibe zu halten, was diesem Lebenszweck entgegensteht. Als besonderen Störfaktor betrachtet er die viele Werbe- und Kaufimpulse. Jede Minute mit mythischen Vorstellungen einer Zukunft, vor allem dem mutmaßlichen Endziel Rente, sei vergeudete Zeit. In den Jahrzehnten dahin müssten wir uns ablenken mit Käufen, die wir als Ausgleich zur unbefriedigenden Situation tätigen (vgl. S. 68+70f.).
„Hier stimme ich dem Autor lebhaft zu: Die Betäubung durch Konsum ist tatsächlich ein Holzweg.“
Hier stimme ich dem Autor lebhaft zu: Die (unbewusste) Außenorientierung mit einer Fixierung auf das künftige „Paradies“, der Rente, verbunden mit der Betäubung durch Konsum in der Gegenwart, ist tatsächlich ein Holzweg. Gleichzeitig widerspreche ich lebhaft und verweise noch einmal auf Jesaja: Strelecky empfiehlt, den eigen-willigen Weg weiter zu verfolgen. Damit führt der Autor den Leser aber auf eine falsche Fährte.
Es hängt alles von uns ab
Das ist also die Quintessenz: Jeder ist seines Glückes Schmied. „Nur Sie alleine wissen wirklich, was Sie mit Ihrem Leben anfangen wollen. [...] Ergreifen Sie die Initiative und wählen Sie Ihren Weg selbst, sonst tun andere es für Sie“ (S. 105–106). Wir brauchen für die Wiedererlangung des Lebensglücks niemand anderen (abgesehen von den Menschen, die diese Perspektive bereits gewonnen haben). „Genauso wie wir frei entscheiden können, was wir tun möchten, sobald wir die Antwort kennen, liegt es auch in unserer Macht, die Antwort zu finden“ (S. 111).
Diese Entdeckung wird in die Nähe einer Wiedergeburtserfahrung gerückt und emotional legitimiert (etwa durch ein Schauern oder ein „tiefes Gefühl“). Der Café-Besitzer Mike verkörpert die Ausbruchserfahrung des Autors selbst, der aus seinem verplanten Leben ausstieg und auf einer Weltreise zu sich selbst fand: „Ich saß da und sah mich dieser unglaublichen Schönheit und Erhabenheit der Natur sowie meiner Erkenntnis gegenüber, dass mein Leben ein winzig kleines Element von etwas viel Größerem war“ (S. 116).
Der dänische Schriftsteller und Philosoph Sören Kierkegaard sprach vom Sprung von einem ästhetischen zu einem ethischen Leben, also von einer Existenz, die ausschliesslich am persönlichen Glück orientiert hin zu einer, die moralisch verantwortlich empfinde. In gewisser Weise fällt dies bei Strelecky zusammen: Ein moralisch verantwortliches Leben ist die ausschließliche Orientierung am eigenen Glück. Das gelebte Ideal des Café-Besitzers deutet in Richtung eines ethischen Lebens. Der verwandelte Mensch gibt sich anderen hin.
Hier erkennt man den Gegensatz zum christlichen Glauben. Obwohl die Erfahrung erstaunliche christliche Parallelen aufweist, ist der Ansatz grundverschieden: Ein vor Gott verantwortliches Leben orientiert sich nicht an unserer eigenen, sondern an Gottes Beurteilung, die er in der Bibel schriftlich niedergelegt hat. Sein Urteil über uns führt zum Eingeständnis des eigenen Bankrotts. Nur durch die Kraft des Heiligen Geist ergreifen wir die Initiative und geben uns Gott und dem Nächsten aus Dankbarkeit hin.
Zusammenfassung
In der flüssig geschriebenen Erzählung wird die Tragik der westlichen Moderne sichtbar: Die Grundfragen des Menschen nach dem Zweck des Daseins, der Angst vor dem Tod und nach Erfüllung werden rein innerweltlich beantwortet. Der Nächste bleibt Hinweisschild und allenfalls Objekt eines rein in sich selbst entdeckten Glücks. Der Mensch wird in seinem (endlosen) Suchprozess bestärkt und mit einer säkularen Utopie irregeleitet.
„Die Grundfragen des Menschen nach dem Zweck des Daseins, der Angst vor dem Tod und nach Erfüllung werden rein innerweltlich beantwortet.“
Das Buch enthält unbewusste Anleihen im christlichen Weltbild, die aber säkular verfremdet sind. Wer sich selbst entdeckt und so zu seiner Ganzheit findet, wird Erfolg haben. Matthäus 6,33 in moderner Verdrehung: Begib dich auf die Reise nach dir selbst und alles andere wird dir hinzugefügt werden.
Meine Hoffnung bleibt, dass der Gott, der wirklich da ist und eingreift, mich zu Menschen schickt, die im Café der Fragen der endlosen Selbstsuche müde geworden sind und sich eingestehen, dass diese Reise nicht zum erwünschten Glück führen wird.
Buch
John Strelecky, Das Café am Rande der Welt. Eine Erzählung über den Sinn des Lebens, München: dtv 2007, 144 Seiten, 15,00 Euro.
[1] Blaise Pascal, Gedanken über die Religion, Fragment 425.