Goldene Farben, lange Schatten

Gedanken zur herbstlichen Melancholie

Artikel von Daniel Vullriede
3. September 2021 — 11 Min Lesedauer

Selbst wenn Jahrzehnte vergehen, bleiben manche Lieder einfach hängen. Zu meinem Liedbestand aus Kinderzeiten gehört definitiv „Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder“. Dank der eingängigen Melodie habe ich die vier Jahreszeiten gelernt – und seitdem nie wieder vergessen. Das war zwar keine große Leistung, aber der prägende Effekt war trotzdem da.

Pullover und Jacken füllen nun wieder unsere Garderoben. Gleichzeitig strecken wir uns nach den rarer werdenden Sonnenstrahlen aus. Kommt es mir nur so vor, oder laufen im Radio wieder mehr Lieder in Moll, als in Dur?

Diese Jahreszeit hat irgendwie etwas Melancholisches an sich. Wie kommt das und wie gehen wir damit um?

Herbsttag

Der berühmte Lyriker Rainer Maria Rilke (1875-1926) fasst im Gedicht „Herbsttag“ seine Beobachtungen in Worte. Man blickt auf einen herrlichen Sommer zurück. Die letzten Erntetage stehen an. Draußen wird es langsam kühler und dunkler. Interessant ist, wie Rilke sich an den Schöpfer wendet – auch wenn er ihn eher als einen unpersönlichen Naturlenker versteht: „Herr: es ist Zeit.“[1]

Dringlicher wird der Tonfall in der zweiten Strophe: Eventuell ein paar letzte Sonnentage, noch die letzte Süße für den schweren (d.h. alkoholreichen) Wein, und dann haben wir auch das geschafft.

Ein Anflug von Landromantik? Eher nicht. Rilkes Interesse gilt der Trübheit, die der Herbst uns aufs Herz bindet. So schreibt er in der dritten und letzten Strophe:

„Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.“[2]

Ich kann mir gut vorstellen, dass die Zeilen aus Rilkes persönlichem Erleben stammen. Was schwingt in seinen sorgfältig gewählten Worten mit? Das Gefühl, das seine Strophen transportieren, wirft die Leser stark auf sich selbst zurück.

Verpasste Chancen, die klare Aussicht auf düstere Einsamkeit, der Wunsch nach echter Begegnung, die Grübelei und Ruhelosigkeit inmitten kahler werdender Bäume. Alles ist irgendwie eingetrübt. Was uns bleibt, sind wir selbst…

Der Herbst hat etwas Melancholisches an sich. Seine goldenen Farben sind ein schönes Zwischenspiel, doch prompt holen uns seine langen Schatten in die Realität zurück. Nicht wenige von uns werden Rilkes Widerwillen teilen: Wenn die Herbstzeit wieder vor die Tür tritt, dann möge sie bitte schnell eintreten – umso zügiger geht sie wieder.

Herbstgefühl

Ein zweites Gedicht – sehr ähnlich, und doch ganz anders – hat mich überrascht.

Es stammt aus der Feder von Karl Gerok (1815–1890), einem württembergischen Theologen. Auch er greift in seinem Gedicht „Herbstgefühl“ auf Naturbetrachtungen zurück. Da lesen wir vom müden Glanz der Sonne, vom blassen Blau des Himmels, und von jener Schönheit der Sommerwiesen, die für lange Zeit nicht wiederkommen wird.

Seine zweite Strophe wirkt (verglichen mit Rilkes Wortwahl) vielleicht nicht ganz so elegant. Doch wenn von der letzten Rose das letzte, lose Blumenblatt lebenssatt abfällt, so ist der Kontrast der Bilder jedem klar: Alles noch so Schöne da draußen vergeht und niemand kann es festhalten.

Was genau aus Geroks Zeilen war nun überraschend? In der dritten Strophe heißt es prägnant:

„Goldenes Entfärben Schleicht sich durch den Hain; Auch Vergeh'n und Sterben Deucht‘ mir süß zu sein.“[3]

Einen Moment! Wie kann der Niedergang des Lebens etwas Positives, ja, sogar etwas „Süßes“ bereithalten?

Geroks Blick auf die erblassenden Blätter hat ebenfalls einen melancholischen Unterton. Dennoch unterscheidet er sich von Rilke. Wie das? Gerok ist nicht zwischen Wehmut und Schwermut gefangen. Denn auch diese Jahreszeit hat ihre Berechtigung, hat ihre Ordnung und ihren Sinn.

Anstatt den Menschen grausam auf sich selbst zurückgeworfen oder hineingeworfen in einen trostlosen Naturkreislauf zu sehen, versteht Gerok ihn als Teil der Schöpfung. Anstatt die trübe Einsamkeit hinzunehmen, weitet der den Blick über die Vergänglichkeit hinaus. Der Herbst macht ihn melancholisch, aber nicht mürbe.

Woher kommt Geroks Haltung? Sie hat herzlich wenig mit dem lebenspraktischen Pessimismus seines Zeitgenossen Arthur Schopenhauer (1788–1860) zu tun. Da gibt es nämlich noch eine kleine Bemerkung am Anfang des Gedichts – sie macht den Unterschied.

Zwischen dem Titel und der ersten Zeile stoßen wir auf folgenden Hinweis: „1Kor 7,31. Das Wesen dieser Welt vergehet.“ – Gerok macht es richtig! Er verfolgt die herbstliche Melancholie bis auf ihren Ursprung zurück, um sie dann Gottes Offenbarung gegenüberzustellen. Ja, die Welt in ihrer jetzigen Gestalt ist dem Untergang geweiht. Das ist eine nüchterne Wahrheit, die über bloße Melancholie weit hinaus geht.

Indirekt fragen wir und erinnern uns: Wieso ist diese schöne Welt so schrecklich vergänglich? Was bleibt denn bestehen? Was ist nun unser einziger Trost im Leben und im Sterben?

Übrigens, die Zeilen aus „Herbstgefühl“ sind kein Einzelfall. Tatsächlich sind Geroks Gedichte allesamt von der Bibel eingerahmt, teils von ihr durchtränkt. Er möchte das Leben in all seinen Facetten von Gottes Wort her sehen und verstehen, es feiern und auch aushalten.

Oder um es ein wenig sperriger zu formulieren: Geroks Ethik und Ästhetik speisen sich aus Gottes Werk und Wesen. Sein christlicher Glaube ist Teil eines christlichen Weltbilds. Sein Herzensanliegen ist Jüngerschaft. Sein Schmerz ist echt, doch seine Hoffnung ist Christus.[4]

Soweit unser kleiner Ausflug in die Herbstlyrik. Egal, ob wir den Herbst eher in Dur oder in Moll begehen, wie können wir uns auf diese Jahreszeit einlassen?

Die Melancholie als Wegweiser

Wer die Melancholie als Wegbegleiterin neben sich entdeckt, braucht sie nicht zu verdrängen oder pauschal zu bekämpfen. Zahlreiche Lifehacks und Ablenkungen könnten uns auf andere Gedanken bringen. Mit ihnen ist es jedoch wie mit einem Wasserball im Schwimmbad. Sooft wir ihn auch nach unten drücken, er drängt doch wieder an die Oberfläche. Gehen wir unserer Melancholie also lieber auf den Grund. Eine hilfreiche Frage könnte sein: Worum geht es denn gerade wirklich? Oft verspüren wir hinter der Melancholie noch etwas Schwereres, das uns bindet. Fassen wir es ruhig in Worte: Was aus der Vergangenheit vermissen oder bereuen wir? Was in der Zukunft erhoffen oder fürchten wir?

Auf eine ungewohnte und doch altbekannte Weise ruft uns der Herbst wieder ins Gedächtnis: Es geht um so viel mehr als um eine Stimmung oder Atmosphäre. Ich gebe zu: Ginge es nach mir, dann könnte der Sommer ewig dauern – nicht nur wegen leckerer Eiscreme oder geselligen Grillabenden.

Gerne würde ich die perfekten Momente des Sommers für immer festhalten. Aber nicht ich bin es, der den Lauf der Zeit bestimmt. Und wenn ich ehrlich bin, dann waren jene Momente gar nicht so perfekt. Was nun?

Ich möchte lernen, die herbstliche Melancholie als Wegweiser zu sehen. Was auch immer ich aus der Vergangenheit vermisse oder bereue, was auch immer ich in der Zukunft erhoffe oder fürchte – ich selbst kann das Ganze nicht geradebiegen. Wie komme ich heraus aus dieser Sackgasse?

„Diese existenzielle Sackgasse kann mich tatsächlich weiterführen – über mich hinaus, auf den hin, der meine Vergangenheit und Zukunft in seiner Hand hält.“
 

Diese existenzielle Sackgasse kann mich tatsächlich weiterführen – über mich hinaus, auf den hin, der meine Vergangenheit und Zukunft in seiner Hand hält. Dietrich Bonhoeffer hätte es nicht treffender formulieren können: „Von außen muss die Hilfe kommen, und sie ist gekommen und kommt täglich neu in dem Wort von Jesus Christus, das uns Erlösung, Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit bringt.“[5]

Weiter oben hatte ich über Karl Gerok geschrieben: „Sein christlicher Glaube ist Teil eines christlichen Weltbilds. Sein Herzensanliegen ist Jüngerschaft.“ Tatsächlich erinnert uns der Herbst an genau diese Realität: Wir sind Geschöpfe, inmitten der vergänglichen Schöpfung, in den Händen des Schöpfers, der uns in Christus retten, heiligen und schließlich verherrlichen will.

Welchen Unterschied macht hier doch der christliche Glaube! Wir sehen die Welt (und uns in dieser Welt) mit anderen Augen, nämlich im Licht von Gottes verlässlichem, offenbartem Wort.

Schöpfer, Schöpfung und Geschöpf – sobald wir eine Stelle aus dieser Realitätsrechnung streichen oder umdefinieren, öffnet uns das die Tür zur Verzweiflung oder zur Überheblichkeit.

Natürlich ist das wahr: Solange wir in dieser Welt leben, müssen wir manche Spannungen aushalten. Durch die Sünde haben wir viel verloren. In Christus jedoch haben wir unverdient noch viel mehr gewonnen. Tagtäglich warten wir noch auf die Vollendung aller Dinge. Und gerade diese Grundspannung lässt unsere Melancholie nun in einem realistischen Licht erscheinen.

Können wir das annehmen? Inmitten einer gefallenen Schöpfung sind wir Geschöpfe, die auch heute noch tagtäglich auf die Gnade und Wahrheit ihres Schöpfers angewiesen sind. Wer ihn beim Wort nimmt und sich ihm im Glauben anvertraut, der darf die Melancholie des Herbstes als eine Erinnerung und als einen Wegweiser erkennen.

Herzensbildung im Herbst – gemeinsam den Glauben winterfest machen

Was nun? Nutzen wir den Herbst doch dazu, unseren Glauben winterfest zu machen.

„Solange wir in dieser Welt leben, müssen wir manche Spannungen aushalten. Durch die Sünde haben wir viel verloren. In Christus jedoch haben wir unverdient noch viel mehr gewonnen.“
 

Begleitet uns die Melancholie zurzeit im Alltag? Ein guter Freund oder eine gute Freundin kann uns da ein ehrliches Gegenüber auf Augenhöhe sein. Gemeinsam können wir besser in Worte fassen, wo wir uns sehnlichst Vergebung oder Veränderung, Heimat oder Orientierung wünschen. Gemeinsam können wir, wie Hanna es in 1. Samuel 1,15 vormachte, unser Herz vor unserem Gott ausschütten.

Auch wichtig: Gemeinsam sollten wir herausfinden, ob sich bei uns eine echte Frustphase oder sogar eine depressive Verstimmung entwickelt. Dann wird uns seelsorgerliche und ärztliche Hilfe guttun. Sollte das gerade bei dir der Fall sein: Zögere nicht und gewähre anderen Menschen Einblick in deine Gedanken!

Haben wir herausgefunden, was genau uns melancholisch macht? Dann trauern wir ruhig über das, was wir in den letzten Monaten zurückgelassen haben. Verabschieden wir uns aber auch von falschen Vorstellungen – seien sie nostalgisch oder utopisch. Gehen wir mit Gottvertrauen und Glaubensmut auf das zu, was in den kommenden Monaten auf uns zukommt.

Auch hier stoßen wir auf eine kleine Spannung: Die Momente der Melancholie gemeinsam tragen, ohne darin unterzugehen. Baden wir lieber in der Gnade und Wahrheit unseres dreieinigen Schöpfergottes und Retterkönigs.

Warum setzen wir also nicht neue Prioritäten für die herbstlichen Wohnzimmerabende? Welches Bibelbuch könnte ich in den nächsten Wochen vertiefen? Für wen oder was sollte ich bewusst beten? Mit wem kann ich gute, geistliche Gespräche führen, die uns gemeinsam weiterbringen?

Werden wir aktiv und schauen wir auch von uns weg: Was brauchen die Menschen um uns herum? Wem kann ich in Wort und Tat dienen?

Ja, diese Jahreszeit hat etwas Melancholisches an sich. Doch anstatt in einer Stimmung unterzugehen, können wir sie als Wegweiser und als Erinnerung nutzen. Das Wesen dieser Welt vergeht (1Kor 7,31), doch Gott und sein Wort tun das nicht (1Petr 1,25).

Egal, was uns also momentan umtreibt – genießen wir den Herbst mit seinen goldenen Farben, langen Schatten und unerwarteten Möglichkeiten. Nutzen wir den Herbst bewusst zur Herzensbildung, durch Gottes Gnade und Wahrheit!


[1] Rilke hatte ein bewegtes Leben und machte als Poet sehr unterschiedliche Stil- und Schaffensphasen durch. Insgesamt aber war sein Werk von einem „freien, gezielt anti-orthodoxen Umgang mit christl. Glaubensinhalten“ geprägt. Vgl. Friedhelm Marx, „Rilke, Rainer (René) Maria“, RGG4 – Band 7: R-S, Tübingen: Mohr Siebeck/ UTB, 2008, Sp. 521-523.

[2] https://de.wikisource.org/wiki/Herbsttag

[3] Karl Gerok, „Herbstgefühl“, Palmblätter, Bietigheim: Karl Rohm, S. 222.

[4] Ein schönes Beispiel dafür findet sich hier: Karl Gerok, „Lob der Tränen“, Palmblätter, Bietigheim: Karl Rohm, S. 472-476.

[5] Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben/Das Gebetbuch der Bibel (E-Book), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2019, S. 19.