Demütige Ausleger von Gottes unveränderlichem Wort werden

Artikel von Trevin Wax
23. August 2021 — 12 Min Lesedauer

Im ersten Artikel dieser Serie ging es um die Begeisterung einer wachsenden Zahl von Evangelikalen für die Einsichten von Theologen und Bibelkommentatoren aus anderen Kulturen und Hintergründen. Ich habe dort zu bedenken gegeben, dass diese Tendenz zu einer Überschätzung der kulturellen Distanz zwischen uns und dem Bibeltext führen kann. Wir halten uns für Gefangene unseres sozialen Standorts. Aber auf diese Weise würde die Autorität der Schrift untergraben.

  • Wir sollten einerseits unser Vorverständnis, mit dem wir an den Text herangehen, nicht unterschätzen. Wir benötigen unterschiedliche Stimmen, damit sie uns helfen, unsere Auslegung zu verbessern.
  • Auf der anderen Seite sollten wir den Einfluss unseres sozialen und kulturellen Standorts auch nicht überschätzen. Wir können uns an der weitgehenden Übereinstimmung freuen, zu der Christen, die sich der Autorität der Schrift unterordnen, finden, wenn sie sich gemeinsam um die gewissenhafte Auslegung eines Textes bemühen.

Wir haben nun nicht die Absicht, eine quasi-postmoderne Standorttheorie übernehmen, die jegliche Auslegung relativieren bzw. den Text destabilisieren würde. Andererseits haben wir aber auch nicht die Absicht, in einen Common-Sense-Realismus zurückzufallen, der die Notwendigkeit kleinredet, sich mit Auslegern aus unterschiedlichen Kulturen und Hintergründen auseinanderzusetzen.

Was wir brauchen, ist epistemische Demut. Wir wollen demütige Ausleger von Gottes unveränderlichem Wort sein. Demut als theologische Tugend können wir mit Gavin Ortlund folgendermaßen definieren:

„Demut […] bedeutet nicht, eine geringe Meinung von sich selbst oder der eigenen Theologie zu haben. Sie ist vielmehr eine Haltung des eifrigen Strebens nach der Wahrheit mithilfe aller Mittel, die Gott uns dafür zur Verfügung stellt, zusammen mit der Bereitschaft zum Eingeständnis dessen, was wir bisher noch nicht wissen.“

In diesem letzten Artikel möchte ich nun einige Anregungen weitergeben, die uns helfen sollen, weder dem postmodernen noch dem modernen Irrtum zu erliegen.

1. Meine Begrenzungen als Bibelleser erkennen und mir ihrer bewusst sein

Wir sind endlich. Wir können unserer Begrenztheit als Bibelleser nicht völlig entkommen. Aber wir können einige dieser Begrenzungen kennen. Wir können uns mehr dessen bewusstwerden, wie unser kultureller und sozialer Standort unser Bibellesen beeinflusst.

Es ist besser, sich der kulturellen Kräfte bewusst zu sein, die möglicherweise unser Bibelverständnis (positiv und negativ) prägen, als davon auszugehen, dass keine solchen Kräfte vorhanden sind, und sie daher zu ignorieren. Wenn wir verstehen lernen, wie unsere Kultur und Erfahrungen unsere Auslegung beeinflussen, beginnen wir die Brille zu „sehen“, durch die wir sehen. Das wird uns beim Schriftstudium helfen, einen neuen Blickwinkel zu gewinnen.

„Es hilft es uns, wenn wir uns darüber klar werden, dass unsere Wahrnehmung beim Lesen von individualistischem Denken geprägt ist.“
 

Ein Beispiel: Aufgrund ihrer individualistischen Prägung verstehen viele Amerikaner die neutestamentlichen Gebote als in erster Linie an den einzelnen Christen gerichtet. Doch der Urtext wie auch der damalige Kontext der Hörer (in Gemeindeversammlungen) verweisen uns darauf, „ihr“ im Plural zu hören, ebenso die pluralen Verbformen. Diese Ausrichtung auf die Gemeinschaft kann von heutigen westlichen Lesern leicht überhört werden. Sicherlich betreffen diese Gebote Einzelpersonen, aber das Hauptaugenmerk liegt auf dem Gehorsam der Gemeinde als Ganzer. D.A. Carsonbemerkt dazu:

„Afrikanische Gläubige nehmen wohl schneller in den paulinischen Metaphern den korporativen Charakter der Gemeinde wahr. Viele Westler werden es aufgrund ihres individualistischen Erbes schwieriger finden, dies zu erkennen. Christen brauchen einander; das ist auf dem Gebiet der Hermeneutik genauso wahr wie überall sonst.“

In diesem Fall hilft es uns also, wenn wir uns darüber klar werden, dass unsere Wahrnehmung beim Lesen von individualistischem Denken geprägt ist. Wir erkennen unsere Begrenzungen, und werden so zu besseren Bibellesern. Dies führt zu unserem nächsten Punkt:

2. Der Einsicht von anderen, die sich Gottes Wort unterordnen, vertrauen

Richard Lints beleuchtet den Reichtum, der uns zufließt, wenn sich unterschiedliche Teile des Leibes Christi gegenseitig zur Bereicherung werden:

„Die Vielfalt der Gaben wurde zum Wohl der Gemeinde gegeben, wie auch das Wohl der Gemeinde vom Annehmen des einen Evangeliums in Christus abhängig ist […] Die unterschiedlichen Glieder des Leibes müssen einander gut genug verstehen, um in der Aufgabe der Bibelauslegung voneinander profitieren zu können. Dafür ist die schwierige Arbeit erforderlich, über die Grenzen hinweg gut genug zuzuhören, um Verstehen zu ermöglichen, und zudem die Zuversicht, dass Verstehen über Grenzen hinweg möglich ist.“
„Das Wichtigste ist eine tiefe und beständige Bindung an die Autorität und Genugsamkeit von Gottes Wort.“
 

Das Wichtigste ist eine tiefe und beständige Bindung an die Autorität und Genugsamkeit von Gottes Wort. Einfach nur zu sagen: „Wir brauchen einander“, ist nicht genug. Diese Wahrheit wurde auch schon als Mittel gebraucht, um kurzlebige Trends oder irreführende Agenden oder postmoderne Philosophien voranzutreiben, bei denen es darum ging, uns richtend über die Schrift stellen, statt auf die Knie zu gehen und uns Gottes Wort unterzuordnen. D.A. Carson hat recht, wenn der darauf hinweist, dass der Heilige Geist in diesem Geschehen unentbehrlich ist:

„Gemäß der biblischen Sicht auf die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk benötigen wir die Hilfe von Gottes Heiligem Geist ebenso sehr, um die Wahrheit zu verstehen, wie wir seine Hilfe dabei brauchen, die Wahrheit umzusetzen. Wie auch immer uns diese Hilfe zukommen mag, das Ziel von tiefgründigen Christen besteht letztendlich nicht darin, die Schrift zu meistern, sondern von ihr gemeistert zu werden – zur Ehre Gottes und zum Wohl seines Volkes.“

Es macht uns demütig, dass wir den Geist benötigen. Wir werden daran erinnert, wie wichtig es ist, darum zu beten, dass Gott uns die Bedeutung seines Wortes aufschließt und uns bei der Auslegung hilft. Wir nähern uns dieser Aufgabe demütig und im Gebet. Die Voraussetzung für gute Bibelauslegung ist ein auf die Ehre Gottes ausgerichteter Geist, und das Endziel von guter Bibelauslegung die Anbetung des wahren Autors, ehrfürchtig und staunend über seine Offenbarung. Anbetung und Exegese müssen Hand in Hand gehen.

3. Sich daran erinnern, dass nicht alle Sichtweisen gleich sind

Was können wir tun, wenn Gläubige aus unterschiedlichen Kulturen, die die Autorität der Schrift hochhalten, sich nicht einigen können, wie ein Text zu verstehen ist? Die Versuchung der Postmoderne besteht darin, zu sagen: „Ich denke, wir können einfach nicht wirklich wissen, was der Bibeltext bedeutet, denn wir sind alle in unseren eigenen kulturellen Verständnissen gefangen.“ Doch wir sollten uns daran erinnern, dass nicht alle Sichtweisen gleich sind.

Carson stellt fest, dass es unterschiedliche Ansichten geben wird:

„Es ist sowohl eine Sache des Realismus als auch der Demut, wenn wir einsehen, dass kein Einzelner und auch keine einzelne Gruppe die komplette Wahrheit über irgendeinen biblischen Abschnitt oder ein Thema besitzt. Wenn wir aufeinander hören, dann wird das zwangsläufig zu reichhaltigeren Auslegungen führen als wir sie im anderen Fall hätten – und zuweilen mündet das in klare Korrektur.“

Niemand besitzt die gesamte Wahrheit, dennoch haben wir Wahrheit. Die weitgehende Übereinstimmung unter Christen auf der ganzen Welt und durch die Zeitalter hinweg bezeugt einen gemeinsamen Glauben. Simon Chan bringt das in Grassroots Asian Theology folgendermaßen auf den Punkt:

„Die lokalen Kulturen prägen die Art und Weise, wie der Glaube angenommen und zum Ausdruck gebracht wird. Aber damit eine lokale Theologie wirklich christlich ist, muss sie in einer substanziellen Kontinuität mit der größeren christlichen Tradition stehen.“

Dazu nochmals Carson:

„Wir kommen nicht umhin, uns die vielen Warnungen der Bibel vor falscher Lehre, vor falschen Christussen, vor einem falschen Evangelium in Erinnerung zu rufen. Nicht alle Auslegungen sind ‚gleich erschaffen‘. Nur weil die eine oder andere Auslegung in einer bestimmten Gesellschaft vertreten und verteidigt wird, bedeutet das noch nicht, dass sie schriftgetreu ist. Und dann kommen wir wieder darauf zurück, anderen gut zuzuhören und die Bibel nochmals zu lesen. Wir wollen uns gerne korrigieren lassen, wenn dies größere Treue zum Wort bedeutet – und wir sind gleichermaßen darum bemüht, uns nicht über die Schrift zu stellen, als wären wir die obersten Richter, wenn doch in Wirklichkeit die Schrift über uns stehen und unser Richter sein muss.“

4. Von Gottes Wort erwarten, dass es alle Kulturen hinterfragt

Es ist kurzsichtig zu glauben, dass unsere Auslegung nur gewinnen kann, wenn wir Christen anderer Kulturen mit heranziehen. Die Wahrheit ist, dass alle Kulturen in irgendeiner Weise verdorben sind. Jawohl, es ist zu erwarten, dass die Perspektive anderer Christen einige unserer kulturellen Götzen entlarven wird. Aber Christen aus anderen Teilen der Welt sollten ebenso erwarten, dass unsere Auslegung die bei ihnen vorherrschenden Götzen in Frage stellt.

„Es ist eines der Hauptprobleme, wenn man die ‚gelebte Erfahrung‘ als Maßstab heranziehen will, an dem alle anderen Auslegungen zu messen sind.“
 

Es ist eines der Hauptprobleme, wenn man die „gelebte Erfahrung“ als Maßstab heranziehen will, an dem alle anderen Auslegungen zu messen sind. Unsere Erfahrungen können auch verdunkeln, nicht nur erhellen. David Clark warnt davor, dass mächtige philosophische Prinzipien unser Bibellesen steuern können. Er zeigt das am Beispiel der Befreiungstheologie:

„Eine Theologie, der eine nicht verhandelbare Verpflichtung zur Befreiung der Armen zugrunde liegt, übt eine schädliche theologische Kontrolle über die Theologie aus, wenn diese Verpflichtung durch Gedankengebäude einer nichtbiblischen Anschauung zum Ausdruck gebracht wird. Ein solches Vorgehen kann die biblische Autorität untergraben. Ich sage nicht, dass durch die Befreiung der Armen die Schrift untergraben wird. Was ich sage, ist, dass nichtbiblischen Anschauungen entsprungene Gedankengebäude dies tun.“

An dieser Stelle setzt Clark multidirektionale Leiterschaft um. Wie wir in den vorherigen Artikeln schon gesehen haben, sollten wir sowohl die Gefährdung durch die postmoderne Theorie als auch durch naive und individualistische Interpretationen erkennen.

„Die traditionelle evangelikale Theologie übersieht manchmal ihre kulturellen Vorannahmen. Aber es ist keine Lösung, einfach an die Stelle der Naivität einer Kultur bezüglich ihrer Bibelauslegung den Ruf zur Erfahrung zu setzen – als ob Erfahrung etwas Neutrales wäre –, da auch in Erfahrung stets theoretische Festlegungen eingebunden sind.“

An dieser Stelle schlagen Wissenschaftler wie Esther Acolatse einen besseren Weg ein. In ihrer Arbeit über Mächte und Gewalten korrigiert sie nicht einfach nur die eine kulturell geprägte Auslegung durch eine andere. Sondern sie stellt fest, dass beide Seiten wieder und wieder zur Schrift zurückkommen müssen, im Dialog mit anderen Gläubigen, damit die biblische Herausforderung an jedem kulturellen Standort gehört und beherzigt werden kann.

5. Nicht davon ausgehen, dass jemandes ethnischer oder kultureller Hintergrund theologisch repräsentativ ist

Simon Chan äußert die Sorge, dass Christen meinen könnten, ein asiatischer Theologe werde sicherlich die Erfahrungen oder Lehrmeinungen asiatischer Kirchgänger wiedergeben. Aber das stimmt ihm zufolge nicht. Es gibt asiatische Theologen, die einfach die „liberale Agenda“ übernommen haben. In dieser geht es um eine „Anpassung an die Kultur und darum, das Christentum den Gebildeten (Kultivierten) unter seinen Verächtern zu empfehlen. Wenn die Kultur die Agenda der Theologen festlegt, dann ist es nur noch ein kleiner Schritt dorthin, dass die Kultur auch die Normen für die Theologie überhaupt festlegt“. Er schreibt:

„Dieses höchst selektive Verständnis dessen, was asiatische Theologie ausmacht, muss hinterfragt werden. Nicht nur wegen der unkritischen Assimilation der aufklärerischen Erkenntnistheorie und dem daraus resultierenden Mangel an theologischem Urteilsvermögen, sondern auch wegen der Art und Weise, wie dabei breite Strömungen der christlichen Bewegung in Asien komplett ignoriert werden: die evangelikalen und pfingstlichen Bewegungen in weiten Teilen Asiens und, noch spezifischer, die einheimischen christlichen Bewegungen in Indien, Japan und China […] Es ist wenig überraschend, dass die sogenannten ökumenischen Theologen Asiens aufgrund ihrer Ignoranz der lebendigen Theologien an der Basis nur aufgewärmte, alte Ideen zu bieten haben.“

Chan zufolge kann das gleiche Phänomen auch in Afrika und Lateinamerika beobachtet werden:

„Elite-Theologen mögen Theologien der Armen und Unterdrückten entwickeln, aber eine solche Theologie wird sehr wahrscheinlich kaum Anklang unter den Armen selbst finden. Das Versagen solcher Theologien wurde von einem lateinamerikanischen Theologen treffend beschrieben: ‚Die Befreiungstheologie wählte die Option für die Armen, und die Armen wählten die Pfingstkirchen als ihre Option.‘“

Ähnlich muss eine Theologie, die mit dem Etikett „schwarz“ versehen wird, noch lange nicht für die breite Mehrheit der schwarzen Christen repräsentativ sein, die von einer schwarzen Gemeindetradition geprägt sind. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass eine Theologie oder ein Theologe mit einem bestimmten ethnischen oder kulturellen Etikett tatsächlich die praktizierenden Christen repräsentiert, die nach wie vor an der Autorität und Genugsamkeit von Gottes Wort festhalten.

Fazit

Um diese Reihe abzuschließen, kann ich nichts Besseres tun als nochmals David Clark zu zitieren. Er nennt mehrere Prinzipien, wie wir die Bibel demütig lesen können:

„Wir Evangelikalen sollten folgendes tun: Wir sollten uns der Realität des kulturellen Einflusses auf jegliche theologische Interpretation bewusst sein. Wir müssen bewusst eine selbstkritische Haltung im Blick auf sämtliche Kulturen einnehmen. Dennoch sollten wir bejahen, dass Theologie kulturelle Relevanz erlangen muss. Dabei müssen wir auf dem Vorrang der Schrift vor jeglicher kulturellen Annahme bestehen.“

Er schließt:

„Wir können zwei Fehler machen. Der eine ist, so zu tun, als gäbe es keine kulturellen oder philosophischen Vorverständnisse oder als seien sie ziemlich unwichtig. An dieser Stelle hat die evangelikale Theologie in der Vergangenheit vielfach versagt. Der andere Fehler ist, sich so sehr für kulturelle und philosophische Vorstellungen zu begeistern, dass dadurch die komplette theologische Agenda zementiert wird. An diesem Punkt geraten die etablierten/liberalen Versionen der Kontextualisierung kontinuierlich ins Straucheln. Tatsächlich kann die Kapitulation vor den Agenden unserer Zeit zu einem Glauben führen, der praktisch nicht mehr von der umgebenden Kultur zu unterscheiden ist. Und wenn der Glaube nicht von der Kultur zu unterscheiden ist, verliert er seine Lebenskraft.“

Lasst uns epistemische Demut anstreben – eine Art und Weise, die Schrift zu lesen, mit der wir die Fallstricke sowohl des Modernismus als auch des Postmodernismus vermeiden. Mögen wir wieder und wieder unsere Knie vor dem König Jesus beugen. Seine Autorität wird durch sein Wort im Kontext seiner geliebten Gemeinde entfaltet, zum Wohl jeder Kultur.