Die Distanz zwischen uns und der Bibel realistisch einschätzen

Artikel von Trevin Wax
18. August 2021 — 8 Min Lesedauer

In meinen letzten beiden Artikeln (hier und hier) habe ich auf zwei Gefahren beim Bibellesen und -auslegen hingewiesen:

  • Zum einen können wir uns eine Haltung zur Schrift aneignen, die von der postmodernen Standpunkttheorie beeinflusst ist. Das ist ein hermeneutischer Ansatz, der den Einfluss unseres sozialen und kulturellen Standorts oder der „gelebten Erfahrung“ bestimmter Gruppen so stark betont, dass man in das Fahrwasser einer relativistischen Deutungsweise gerät. Sorgfältige Exegese würde damit überflüssig.
  • Auf der anderen Seite können wir als Reaktion auf diese Hermeneutik in modernistische oder aufklärerische Philosophien zurückfallen. Diese halten den Einfluss von Vorverständnissen, die wir an den Text herantragen, für wenig bedeutsam. Damit wäre es überflüssig, unser Spektrum an Gesprächspartnern möglichst zu diversifizieren, wenn wir uns um eine zutreffende Bibelauslegung bemühen.

In meinem letzten Artikel nannte ich als Prinzip: Wir sollten die Distanz (in den Bereichen Zeit, Kultur, Geografie und Sprache), die zwischen uns und dem Bibeltext liegt (und Einfluss darauf hat, wie gut wir ihn verstehen können), weder unter- noch überschätzen. Dort hatte ich mich in erster Linie darauf konzentriert, warum wir diese Distanz nicht unterschätzen sollten. Es ist aber wichtig, sich nun auch mit der Gefahr zu befassen, dass wir diese Distanz überschätzen. Denn damit würden wir in Frage stellen, ob wir die Bibel überhaupt verstehen können.

Wie können wir den Einfluss unseres Vorverständnisses beim Bibellesen berücksichtigen und zugleich auf eine wirkliche Erkenntnis der Textaussage hinarbeiten?

1. Sich des Unterschieds zwischen wirklicher und allwissender Erkenntnis bewusst sein

Wir müssen zwischen „wirklicher“ und „allwissender“ Erkenntnis unterscheiden – so, wie wir auch zwischen echter und falscher Demut unterscheiden müssen. Manche Bibelleser, die von der postmodernen Kritik an der aufklärerischen Sicherheit (einer „objektiven“ oder „gottgleichen“ Sicht auf die Realität) überzeugt sind, schließen daraus: Uns bleibt nur die demütige Haltung, zuzugeben, dass wir mit leeren Händen dastehen und überhaupt nichts wirklich wissen können. Aber das ist keine echte Demut. Denn dass wir nicht alles wissen können, heißt noch lange nicht, dass wir überhauptnichts wissen können. Wir müssen nicht nach allwissender Erkenntnis streben, um wirkliche Erkenntnis zu haben. Man kann eine unvollständige, aber wahre (wirkliche) Erkenntnis über eine Wahrheit haben, selbst wenn man sie nicht vollständig (allwissend) erkannt hat.

Dazu schreibt D.A. Carson:

„Die Bibel zeigt – oft implizit, aber manchmal auch explizit –, dass der Mensch mit angemessener Sicherheit in der Erkenntnis wachsen kann, indem er auf die Offenbarung Gottes mit Bedacht, aktivem Glauben und gehorsamer Unterwerfung unter seinen Schöpfer und Erlöser antwortet.“
„Unter Berufung auf eine Haltung der ‚Demut‘ verabschieden wir uns von der Möglichkeit, echte Erkenntnis zu erlangen.“
 

Wenn man die Möglichkeit abstreitet, dass unser Wissen zunehmen kann, oder wenn man betont, was wir nicht wissen können, erklärt man Gottes Offenbarung für nicht verstehbar. Unter Berufung auf eine Haltung der „Demut“ verabschieden wir uns von der Möglichkeit, echte Erkenntnis zu erlangen – eine bequeme Entschuldigung, die oftmals vorgeschoben wird, um unsere Ohren vor dem zu verschließen, was wir in Gottes Wort nicht hören wollen.

2. Sich des kulturellen Einflusses auf die Bibelauslegung bewusst sein, ohne jegliche Bibelauslegung auf Kultur zu reduzieren

Wie wir bereits gesehen haben, ist es wichtig, unseren sozialen und kulturellen Standort zu berücksichtigen. So können wir Aspekte unseres Vorverständnisses erkennen, mit denen wir an den Text herangehen. Niemand ist beim Bibelstudium neutral. Die Kultur prägt unsere Auslegung.

Aber der Einfluss der Postmoderne auf die Hermeneutik möchte alles auf Kultur reduzieren. Kevin Vanhoozer warnte davor, dass dann alles zu „Standort, Standort, Standort“ wird. Die Aufgabe der Hermeneutik verlagert sich von universeller, wirklicher Erkenntnis weg, hin zu den Gegebenheiten und der Bedingtheit des Bibellesers.

Das Lausanne-Dokument aus Kenia, das ich schon im letzten Artikel zitierte, zeigt das Hauptproblem dieses Ansatzes auf. Es handelt sich um die funktionelle Ablehnung der biblischen Autorität:

„Wenn sämtliche Allgemeingültigkeitsansprüche von den sozialen Kontexten abhängig sind, in denen sie entstehen, und wenn es keine neutrale und objektive Basis gibt, auf der man unterschiedliche Sichtweisen beurteilen kann, dann bedeutet dies im Endeffekt, dass eine Vielzahl von Perspektiven um die Vorherrschaft ringt, wobei keine Perspektive eine bevorzugte Stellung genießt. Man feiert die Vielfalt der Sichtweisen. Wenn jeder ein Recht auf seine Meinung hat, und wenn diese Meinung prinzipiell nicht hinterfragt werden kann, dann gibt es keine falsche Meinung. Dann ist die Bibel nicht autoritativer als andere heilige Texte. Jeder hat seine Relevanz im Kontext der unterschiedlichen Religionen, und keiner kann für sich beanspruchen, der exklusive Weg zur Wahrheit zu sein.“

Ja, wir müssen uns den Einfluss des sozialen Standorts auf unser Verständnis der Bibel bewusst machen. Ja, wir sehen, welchen Gewinn es bringt, mit gläubigen Christen aus anderen Kulturen im Gespräch zu sein, um gemeinsam ein umfassenderes und zutreffenderes Verständnis des Bibeltexts zu erlangen. Trotzdem sollten wir die Behauptung zurückweisen, Wahrheit sei vom Blickwinkel der jeweiligen Person abhängig. Das Lausanne-Dokument fährt fort:

„Solcher Egalitarismus bedeutet, dass die Kriterien für Wahrheit eine rein immanente Sache der Lebensweise oder der sozialen Kontexte jener unterschiedlichen Personen sind, die behaupten, Wahrheit gefunden zu haben. Ohne den Druck, einem vereinbarten Standard zu entsprechen, ist die Tür für eine Pluralität der Sichtweisen und die Bejahung der Unterschiede geöffnet.“

3. Die weitgehende Übereinstimmung würdigen, die über die bekannten kulturellen Grenzen hinweg besteht

Nochmals: Wir sollten die Bedeutung des sozialen Standorts für unsere Fähigkeit, die Bibel zu verstehen, weder unter- noch überschätzen. Wir können es z.B. vermeiden, die Distanzbereiche größer zu machen als sie sind, indem wir die weitgehende Übereinstimmung erkennen und würdigen, die wir unter jenen Menschen finden, die Jesus lieben und sich seinem Wort unterordnen.

„Es ist erstaunlich, wie viel Übereinstimmung in Bezug auf das, was die Bibel sagt, erreicht werden kann, vorausgesetzt, die Gesprächspartner sind sich einig, dass die Bibel die letzte Autorität ist, und sie sind bereit, sich von ihr korrigieren zu lassen.“
 

D.A. Carson stellt fest:

„Es ist erstaunlich, wie viel Übereinstimmung in Bezug auf das, was die Bibel sagt, erreicht werden kann, vorausgesetzt, die Gesprächspartner sind sich einig, dass die Bibel die letzte Autorität ist, und sie sind bereit, sich von ihr korrigieren zu lassen. Ich habe schon an anderer Stelle von meinen zehn schönen Jahren bei der damaligen World Evangelical Fellowship berichtet. Damals koordinierte ich außerordentlich bunt zusammengesetzte Studiengruppen und war immer wieder freudig überrascht, wie viel Einmütigkeit erreicht werden kann durch harte Arbeit, geduldige Diskussion, gegenseitige Kritik, einen demütigen Geist und einen größeren Hunger danach, dem Text treu zu sein, als danach, Recht zu haben.“

Der Schlüssel liegt freilich darin, dass sich die Ausleger darin einig sind, die Bibel als oberste Autorität anzuerkennen. Mit anderen Worten: Ihre Haltung ist, sich der Schrift unterzuordnen, mit einer angemessenen Offenheit gegenüber den Einsichten von Brüdern und Schwestern, die die gleiche Herzenseinstellung haben und sich mit den gleichen Texten befassen. Das Ergebnis ist in der Regel weit mehr Übereinstimmung als Differenzen. Dazu nochmals Carson mit einem aufschlussreichen Beispiel:

„Als vor einigen Jahren der Africa Bible Commentary veröffentlicht wurde, betonten die Herausgeber und Unterstützer immer wieder, dass wir damit endlich die Stimmen von Christen hören können, die auf einem anderen Kontinent leben, und dass ihre Einsichten in die Bedeutung der Schrift für uns nun erreichbar sind. Er sei ein Beitrag dazu, dass Christen weltweit voneinander profitieren können. Dies ist selbstverständlich in gewisser Hinsicht wahr und ein Grund zur Freude. Der Africa Bible Commentary legt mehr Gewicht auf Exorzismus, auf Fragen rund um Ahnenverehrung und darauf, das Wohlstandsevangelium zu hinterfragen, als dies einbändige westliche Bibelkommentare tun. Aber die verblüffendste Sache an diesem Werk ist, dass 90–95 % seines Inhalts ebenso von gläubigen Christen aus buchstäblich jedem Teil der Welt gelesen und verstanden werden können, ja, sogar von ihnen geschrieben sein könnten. Und das sollte uns nicht wundern – immerhin haben wir das gleiche Buch. Bevor wir uns zu sehr in eine enggefasste Reader-Response-Hermeneutik verlieben, sollten wir uns darüber klar werden, in welcher Hinsicht der Africa Bible Commentary nicht innovativ ist – und es auch gar nicht sein sollte.“

Wie sollen wir nun unsere Bibel lesen? Darum wird es im nächsten Artikel gehen, wo ich einige Vorschläge machen werde, wie wir die Schrift mit epistemischer Demut lesen und studieren können – wie wir den Gewinn würdigen können, den uns Stimmen aus anderen Kulturen und Hintergründen bringen, während wir uns zugleich ein demütiges Vertrauen auf die wirkliche Erkenntnis bewahren, die sich uns beim Bibellesen erschließt.