Brauchen wir verschiedene Stimmen, um die Bibel richtig zu verstehen?
Ist ethnische Vielfalt ein wichtiger Faktor für die Bibelauslegung?
Sollten wir darauf achten, welchen Hintergrund und welche Erfahrungen ein Bibelausleger mitbringt?
Wie wirken sich unser kultureller Kontext und unsere soziale Position auf unsere Schriftauslegung aus?
Evangelikale Leiter haben in den letzten Jahren mit diesen Fragen gerungen. Dabei äußert ein Teil von ihnen die Sorge, kulturelle Scheuklappen könnten unsere Auslegung der Schrift verzerren. Oder sie könnten bewirken, dass wir gewisse Bestandteile von Gottes inspiriertem Wort, die uns in Frage stellen, ausblenden. Andere wiederum befürchten, das Interesse an der ethnischen Herkunft oder den Erfahrungen des Auslegers werde zu einem Relativismus führen, der die Autorität und Genugsamkeit von Gottes Wort untergräbt.
Dies ist ein Bereich, in dem multidirektionale Leiterschaft benötigt wird – die Fähigkeit, Gefahren zu erkennen und entgegenzutreten, die aus verschiedenen Richtungen kommen. In diesem und drei weiteren Beiträgen werde ich einige Prinzipien darlegen, die wir beim Studium der Schrift berücksichtigen sollten.
Gemeinsam als Ortsgemeinde
Der Wunsch, auf Stimmen aus anderen Teilen der Welt zu hören, erweitert eigentlich nur ein Prinzip, das wir auch in unseren Ortsgemeinden für richtig halten: Wir lesen die Bibel gemeinsam. Die wertvollen Lehren von der Irrtumslosigkeit, Inspiration und Klarheit der Schrift bedeuten – richtig verstanden – nicht, dass Hermeneutik eine Solo-Disziplin wäre; etwas, das wir auf eigene Faust unabhängig von den Einsichten anderer bewerkstelligen. Wir wissen, wie nötig wir Christen es haben, dass einer den anderen schärft, dass wir die Schrift als Ortsgemeinde gemeinsam lesen und studieren.
„In wirklich guten Bibelstudiengruppen ist die vorrangige Frage nicht, was der Text für dich bedeutet, sondern was der Text bedeutet.“
In wirklich guten Bibelstudiengruppen ist die vorrangige Frage nicht, was der Text für dich bedeutet (als wäre die Wichtigkeit oder die Anwendung einer Bibelstelle je nach persönlicher Neigung praktisch unbegrenzt formbar), sondern was der Text bedeutet. Wir treffen uns, um über Bibeltexte zu sprechen. Und selbst wenn wir unterschiedliche Fragen mitbringen, aus unterschiedlichen Hintergründen kommen oder den Text unter den Vorzeichen eines bestimmten theologischen Systems lesen, so ist es doch unser Wunsch, in unserer Erkenntnis und unserer Liebe zu Gott zu wachsen und uns demütig unter alles, was er gesagt hat, zu stellen. Wir überprüfen unsere Annahmen anhand des Textes. In der Gemeinschaft vertiefen wir unser Verständnis, während wir uns – gemeinsam mit anderen – der Schrift als unserer letzten Autorität unterordnen.
Gemeinsam als weltweite Gemeinde
Wenn wir die Ortsgemeinde benötigen, um die Bibel richtig auszulegen, dann wird es für uns mit Sicherheit auch ein Gewinn sein, Gläubigen aus anderen Gemeinden und Kulturen zuzuhören. Ihre Perspektive kann unser eigenes Bibellesen vertiefen. Anders gesagt: Wir erachten zunächst ein Prinzip für richtig – dass es nämlich weise ist, die Bibel gemeinsam zu studieren – und stellen das Ganze dann auf eine breitere Basis. Ebenso, wie unterschiedliche Christen der gleichen Gemeinde voneinander lernen, können dies auch Christen aus unterschiedlichen Kulturen tun. Wir brauchen Gottes Volk, um Gottes Wort richtig zu verstehen.
Eines meiner Lieblingsbeispiele dafür, wie das praktisch aussieht, stammt von Mark Allan Powell. Er berichtet, wie Jesu Gleichnis vom Verlorenen Sohn in Russland „gehört“ wird und wie im Vergleich dazu in den USA. Wenn Russen diese Geschichte aus dem Gedächtnis erzählen, ist es sehr viel wahrscheinlicher als bei Amerikanern, dass sie die Hungersnot erwähnen, die den jüngeren Sohn in Verzweiflung stürzte, ehe er nach Hause zurückkehrte. Powell vermutet, dass die Belagerung Leningrads (die Zahl der dort Verhungerten übersteigt die Gesamtzahl der im Zweiten Weltkrieg gefallenen amerikanischen und britischen Soldaten) bei vielen Großeltern und Urgroßeltern in lebendiger Erinnerung geblieben ist. Das könnte ein Grund dafür sein, weshalb ein russischer Student die Hungersnot stärker wahrnimmt, wenn er das Gleichnis hört.
Ähnlich ist es mit Büchern wie Misreading Scripture with Individualist Eyes (dt. etwa: „Wie die individualistische Perspektive zur Fehlinterpretation der Schrift führt“) von E. Randolph Richards und Richard James, wo die antiken Kategorien von Verwandtschaft, Patronat oder Ehre und Scham erläutert werden. Es gibt bestimmte, auf der Gemeinschaft beruhende Elemente im Alten und Neuen Testament, die denjenigen unter uns, die in individualistischen Kulturen aufgewachsen sind, sonderbar und unverständlich vorkommen. Auch die hervorragende Arbeit von Kenneth Bailey über die Gleichnisse – erhellt durch seine vielen Jahre als Missionar im Mittleren Osten – bietet einige lehrreiche Einsichten (auch wenn er sich in einigen Fällen wohl etwas zu stark auf spätere Traditionen oder auf Erlebnisse im heutigen Mittleren Osten stützt).
Evangelikale haben diese Bemühungen gefeiert und die zunehmende Zahl von Theologen und Wissenschaftlern aus aller Welt bejubelt. Der kulturübergreifende Austausch mit ihnen und ihre Kommentare helfen uns in unserem Wunsch, die Schrift besser zu verstehen und umzusetzen. Das Ziel ist dabei natürlich bessere Bibelauslegung. Aus diesem Grund bemühen sich viele Evangelikale, mehr globale Stimmen in ihre Arbeit mit einzubeziehen. Sie „diversifizieren“ das Spektrum der von ihnen verwendeten Literatur, um von jenen Bibellesern zu profitieren, die sich in einer anderen sozialen Lage befinden und deren Erleben jenseits der Mehrheitswelt oder Mehrheitskultur liegt. Dies kann gewisse Annahmen und vorgefasste Meinungen, mit denen wir an den Text herangehen, in Frage stellen.
Was ist mit der Standpunkttheorie?
Aber dieser relativ neue Impuls, den Horizont unserer Bibelauslegung zu erweitern, korrespondiert mit Trends im akademischen und weiteren kulturellen Raum. Dort wird hinterfragt, ob es überhaupt möglich ist, die Bedeutung eines Textes wirklich zu verstehen. Postmoderne Perspektiven auf Wissen, Bedeutung und Sinn brachten die „Standpunkttheorie“ hervor, die von James Lindsay und Helen Pluckrose folgendermaßen beschrieben wird:
„Die Standpunkttheorie geht von zwei Annahmen aus. Die eine besteht darin, dass Menschen, die dieselben sozialen Positionen, d.h. Identitäten – Rasse, soziales Geschlecht, biologisches Geschlecht, Potenzial, Status, usw. – innehaben, auch die gleichen Erfahrungen von Dominanz und Unterdrückung machen werden. Und vorausgesetzt, sie interpretieren ihre eigenen Erfahrungen richtig, werden sie sie auch auf die gleiche Weise interpretieren. Daraus folgt die Vermutung, dass diese Erfahrungen ihnen ein zutreffenderes und umfassenderes Bild verschaffen werden. Die zweite Annahme lautet, dass jemandes relative Position innerhalb der sozialen Machtverhältnisse bestimmt, was er wissen oder nicht wissen kann: Daher sind die Privilegierten aufgrund ihres Privilegiertseins verblendet, dagegen besitzen die Unterdrückten eine Art doppelte Einsicht, durch die sie sowohl die dominante Position verstehen als auch die Erfahrung, von dieser unterdrückt zu werden.“
„Die Standpunkttheorie untergräbt den Gedanken, dass der Text überhaupt eine wahre Bedeutung haben kann.“
Kurz gesagt: Je privilegierter eine Person ist, desto schwieriger wird es für sie sein, die Wirklichkeit zu verstehen. Privilegiertsein verblendet. Wenn man das auf die Bibelauslegung anwendet, rückt dieses Prinzip viele Kommentare und Theologen der Kirchengeschichte in ein schlechtes Licht (zu viele privilegierte weiße Männer). Selbst auf die sorgfältigsten Exegeten fällt ein Schatten des Misstrauens, während Auslegungsgemeinschaften begünstigt werden, deren „gelebte Erfahrung“ in Unterdrückung und Armut besteht.
Im Gegensatz zur herkömmlichen evangelikalen Hermeneutik wird uns die Standpunkttheorie bei der Bibelauslegung letztendlich nicht helfen, die Bedeutung eines Textes zu erkennen. Im Gegenteil: Sie untergräbt stattdessen den Gedanken, dass der Text überhaupt eine wahre Bedeutung haben kann. Da niemand vollkommen „objektiv“ sein kann, wenn er die Bibel auslegt (weil es echte Objektivität gar nicht gibt), ist es unmöglich, wahre Erkenntnis zu erlangen. Alles, was uns bleibt, ist meine Wahrheit oder deine Wahrheit. Und unsere Wahrheit ist stets mit unserer kulturellen Perspektive als Ausleger verbunden und nicht davon zu trennen.
Man kann auf das Aufkommen der Standpunkttheorie auf richtige oder falsche Art und Weise reagieren. In den folgenden drei Beiträgen werden wir über Prinzipien nachdenken, die uns am Besten der herkömmlichen evangelikalen Hermeneutik orientieren und uns zugleich helfen, die Fallstricke postmoderner Philosophie zu meiden.