Der Schlüssel zum Buch der Offenbarung

Artikel von Thomas Keene
29. Juli 2021 — 7 Min Lesedauer

Hat die Offenbarung irgendetwas mit unserem alltäglichen christlichen Leben zu tun? Wie finde ich heraus, was Gott mir in diesem rätselhaften Buch mitteilen will?

Wir begegnen normalerweise eher selten Heuschreckenschwärmen, zornigen Drachen oder apokalyptischen Reitern. Natürlich, diese Dinge sind in der Offenbarung symbolisch zu verstehen. Aber auf den ersten Blick sieht es nicht danach aus, als gäbe es in den banalen Gegebenheiten meines ziemlich normalen Lebens irgendeinen Anknüpfungspunkt für diese eindrücklich ausgemalten Bilder. Wenn ich nicht weiß, wie diese Symbole zu deuten sind – wie soll ich sie dann praktisch anwenden?

Tatsächlich enthält die Offenbarung eine Leseanleitung, eine Art Benutzerhandbuch für die praktische Anwendung. Wenn du das Buch verstehen und umsetzen möchtest, musst du dort anfangen, wo der Schlüssel liegt: in den sieben Briefen der Kapitel 2 und 3.

Wozu dieses Buch?

Die Rätsel und die exegetischen Herausforderungen der Offenbarung sind so offensichtlich, so heikel und so umstritten, dass man darüber leicht den Hauptgrund vergisst, weshalb Gott uns dieses Buch gegeben hat: damit wir „bewahren, was darin geschrieben steht“ (Offb 1,3).

In der Bibel bedeutet „bewahren“ mehr als nur an irgendetwas festzuhalten oder es vielleicht noch zu behüten und wertzuschätzen.

Ein Familienerbstück bewahrt man (auf), indem man es in eine Vitrine stellt, doch die Offenbarung kann man nicht auf diese Weise bewahren. Man bewahrt ihre Worte, indem man ihnen gehorcht (Offb 2,26; vgl. Joh 8,31). Viele aktuelle Debatten über die Offenbarung sind so sehr auf die Frage konzentriert, was dieses Buch bedeutet, dass wir übersehen haben, wozu es da ist. Und das ist nicht kompliziert: Man soll ihm gehorchen (Offb 14,12) und sich daran freuen (Offb 19,7), wir sollen durch es überführt (Offb 2,16.21) und ermutigt werden (Offb 2,10).

„In der Offenbarung geht es ganz wesentlich um die Praxis des Christseins.“
 

Die Offenbarung ist uns nicht in erster Linie gegeben worden, um vorauszusagen, was irgendwann zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft geschehen wird. Das mag auch ein Thema sein, aber ihr Hauptzweck ist viel praktischer. Sie soll „bewahrt“ bzw. gehalten werden: so, wie man Gesetze hält, wie man Verpflichtungen einhält, wie man Versprechen hält, wie man Beziehungen aufrechterhält. In der Offenbarung geht es ganz wesentlich um die Praxisdes Christseins.

Ein Brief

Diese praktische Seite der Offenbarung wird uns sofort deutlicher, wenn wir uns daran erinnern, dass es sich dabei um einen Brief handelt. Warum soll das wichtig sein? Weil Briefe praktisch und leicht verständlich sind – jedenfalls vergleichsweise. Vermutlich hast du diese Tatsache bereits intuitiv wahrgenommen, denn aus diesem Grund wirken die Briefe aus Offenbarung 2–3 auf uns nicht ganz so einschüchternd, selbst wenn uns der Rest des Buches ein Rätsel ist.

Weshalb finden wir zu Briefen leichter einen unmittelbaren Zugang? Weil sie meistens situationsbezogen, zielgerichtet und konkret sind. Erinnere dich kurz, wie es war, als du zum letzten Mal einen normalen Brief oder eine E-Mail bekommen hast: Warum hast du das Schreiben bekommen? Vermutlich, weil sich jemand für ein Geschenk bedanken oder dich um etwas bitten oder dir irgendwelche Anweisungen geben wollte.

Ähnlich ist es mit den sieben Briefen in der Offenbarung. Sie sind persönlich; es ist ein Grund erkenntlich, weshalb sie geschrieben wurden; sie benennen ausdrücklich das Problem, das es zu lösen gilt; und sie erklären auch, welche konkreten Lösungen es für das Problem gibt. Man könnte sagen, es handelt sich um „beratende Briefe“. Und wir haben wohl alle schon Briefe dieser Art bekommen – von den Großeltern, als wir damals die Schule abschlossen, von einem Kollegen, als wir neu in ein Team kamen, von einem Mentor, als wir etwas falsch gemacht hatten.

Und jetzt kommt die gute Nachricht: Die Offenbarung enthält nicht nur Briefe, sie ist auch ein Brief. Daraus folgt, dass sie in ähnlicher Weise situationsbezogen und konkret ist. Dies wird oft unterschätzt, aber Johannes beginnt seinen Brief ganz klassisch: „Johannes an die sieben Gemeinden, die in Asia sind: Gnade sei mit euch“ (Offb 1,4). Er lässt uns nicht im Unklaren, welche Situation der Anlass für sein Schreiben ist, sondern nennt sie ganz direkt: „Ich hörte hinter mir eine laute Stimme wie von einer Posaune, die sprach: Was du siehst, schreibe in ein Buch und sende es den sieben Gemeinden“ (Offb 1,10–11; ELB).

Gott hat eine Botschaft für diese sieben Gemeinden und er hat Johannes zu seinem Boten bestimmt. Was beinhaltet diese Botschaft? Alles, was „du siehst“, und damit ist die komplette Vision des Johannes gemeint (Offb 1,10–22,19).

Der „schwierige Teil“ des Buches, nämlich die Kapitel 4–22, ist eine Vision, die in einem Brief beschrieben wird. Der Briefcharakter der Offenbarung bildet den Rahmen und die Verpackung für das, was dann kommt. Im restlichen Buch wird der Leser mit in eine himmlische Versammlung hineingenommen (Kap. 4–5), steht im Kampf gegen die Mächte des Drachens (Kap. 11–12) und betritt siegreich die himmlische Stadt (Kap. 21–22) – doch auch dann ist der Leser immer noch dabei, einen Brief zu lesen.

Prophetie und Apokalyptik sind in einen Brief eingebettet.

Der Schlüssel

Der Brief, der in der Offenbarung als Ganzer besteht, hilft uns zu verstehen, wie die sieben Briefe darin funktionieren. Diese sind keine Randbemerkung und kein Einschub, sondern sie geben uns eine Linie für die Auslegung vor. Sie sind Wegweiser und Vorlagen, wie der Rest des Buches anzuwenden ist. Gott zeigt jeder dieser Gemeinden, was die restliche Vision für sie bedeutet. Er wendet die Vision auf ihre spezielle und aktuelle Situation an.

Zum Beispiel begegnen wir später in der Offenbarung der „großen Hure“, um die „Völker und Scharen und Nationen und Sprachen“ versammelt sind (Offb 17,1.15). Welche Bedeutung hat das beispielsweise für die Gemeinde in Thyatira? Johannes erklärt: Die Sache ist die, „dass du es zulässt, dass die Frau Isebel […] meine Knechte […] verführt, Unzucht zu treiben“ (Offb 2,20). Der Leser soll verstehen: Isebel ist die große Hure oder zumindest eine Gestalt, die diese Hure annimmt. Lasst euch nicht vom richtigen Weg abbringen! Lasst euch nicht verführen!

Oder Smyrna: Die Gemeindeglieder waren in vieler Hinsicht treu, aber ihnen stehen große Turbulenzen bevor. Doch sie werden ermutigt, sich nicht vor dem zu fürchten, „was du erleiden wirst“, denn anschließend „werde ich dir die Krone des Lebens geben“ (Offb 2,10). Die Schafe aus Smyrna sollten in den Streit mit dem Drachen verwickelt werden (Offb 11–13). Als sie etwas über diesen kosmischen Kampf lasen, konnten sie das auf ihre aktuelle Bedrängnis anwenden. Sie wussten, dass sie, selbst wenn sie für den Glauben getötet werden sollten, hinauf in den himmlischen Rat gelangen werden (Offb 6,9–11), in der himmlischen Stadt wohnen und vom Baum des Lebens essen werden (Offb 22,14).

Es geht in der Offenbarung um sie. Sie sollten die Offenbarung auf diese Art und Weise lesen, indem sie ihr Leben durch diese Symbole und Bilder betrachten.

Bis ans Ende bewahren

Diese Briefe sind auch für uns Wegweiser. Beachte, dass Johannes an sieben Gemeinden schreibt – nicht sechs und nicht acht. Darüber hinaus werden diese sieben Gemeinden als sieben Leuchter und sieben Geister vor dem Thronsaal Gottes dargestellt (Offb 1,12–13).

„Auch wenn wir diese Briefe so viele Jahre später lesen, ist es richtig, uns in diesen Gemeinden, die auch für uns stehen, wiederzufinden.“
 

Die Zahl sieben ist kein Zufall. Sie ist symbolisch. Diese sieben Gemeinden stehen für die gesamte Gemeinde aller Zeitalter. Sie sind Urbilder, jede Gemeinde mit ihren charakteristischen Problemen. Offenbarung 4–22 enthält dafür die für allezeit relevante Antwort. Auch wenn wir diese Briefe so viele Jahre später lesen, ist es richtig, uns in diesen Gemeinden, die auch für uns stehen, wiederzufinden.

Deshalb sind diese sieben Briefe der Schlüssel oder die Gebrauchsanweisung für den Rest des Buches. Die Herausforderungen, in denen diese Gemeinden standen, waren historisch einzigartig, aber trotzdem auch universell. Wie in allen großen Geschichten spiegeln sich darin unsere eigenen Erfahrungen und Herausforderungen.

Die Offenbarung soll daher von Gemeinde zu Gemeinde und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Das Volk Gottes aller Zeitalter soll sie bewahren. Wie? Indem sie sie in die Praxis umsetzt, so wie es diese ersten Empfänger taten. Sieh in diese Spiegel, finde dich selbst darin wieder und betrachte das, was du nach Gottes Willen sehen sollst.