Gottes Güte in Judas Umkehr

Artikel von Kelly Keller
7. Juli 2021 — 6 Min Lesedauer

Jedem, der sich einige Zeit lang mit dem Alten Testament beschäftigt hat, wird die folgende Szene wahrscheinlich vertraut sein: Josef, hoher Beamter am Hofe des Pharaos, steht vor seinen Brüdern und gibt sich ihnen unter Tränen zu erkennen (1Mose 45,3). Seine Familie, von der er jahrzehntelang getrennt gewesen war, ging davon aus, dass sie ihn nie wiedersehen würden – vielleicht war er sogar tot. Nach einigem angespannten Hin und Her eröffnet Josef ihnen schließlich in einem Ausbruch der Gefühle seine wahre Identität.

Während wir Josefs tränenüberströmtes Gesicht sehen und die emotionale Reaktion hören, stehen die Söhne Jakobs, Josefs Brüder, im Hintergrund. Es sind dieselben Männer, die Josef gegenüber so missgünstig gesinnt waren (1Mose 37,4.8.11), die ihn als Sklave verkauft hatten und dann den Vater anlogen, dass er gestorben sei (1Mose 37,41–33).

Aber nun soll für einen Moment die Aufmerksamkeit auf den vierten Sohn gerichtet werden: Juda.

Judas Ungehorsam

Juda war der Sohn der ungeliebten Frau, Lea. Sie hatte ihre vollständige Abhängigkeit von Gott (und die Entfremdung von ihrem Mann) bei seiner Geburt akzeptiert und nannte ihn „Lob“ (1Mose 29,35). Die erste Begebenheit aus Judas Leben, die festgehalten wird, erzählt von Betrug und Mord: Angeführt von den ältesten Söhnen Simeon und Levi, täuschen er und seine Brüder die Männer von Sichem und überreden sie, sich beschneiden zu lassen. Während sich die Männer von der Beschneidung erholen, werden sie von Juda und seinen Brüdern ermordet und ihre Stadt ausgeplündert (1Mose 34).

Es ist derselbe Juda, der sich, vor die Wahl gestellt, Josef zu töten oder ihn in die Sklaverei zu verkaufen, für das zweite entscheidet. Man könnte ihm zugutehalten, dass er damit Josefs Leben rettete (zusammen mit Ruben, der vorschlug, Josef im Brunnen zurückzulassen, anstatt ihn zu töten, vgl. 1Mose 37,22). Die Wahrheit ist aber, dass Juda die Gelegenheit nutzt, seinen Bruder als tot zurückzulassen, um davon finanziell zu profitieren (1Mose 37,26–27).

Es ist derselbe Juda, der sein Versprechen gegenüber seiner Schwiegertochter Tamar nicht hält. Als seine beiden ältesten Söhne wegen ihrer Bosheit sterben müssen, bleibt Tamar allein. Anstatt sie mit seinem dritten Sohn zu verheiraten, schickt er sie nach Hause (1Mose 38,11). Später hält er sie unwissentlich für eine Prostituierte und behandelt sie entsprechend (1Mose 38,15). Als diese Begegnung zu einer Schwangerschaft führt, verurteilt er sie für ihr Verhalten – bis er erkennt, dass er für das Kind in ihrem Bauch verantwortlich ist. Erst dann gibt Juda seine eigene Sündhaftigkeit zu (1Mose 38,26).

Judas Buße

Derselbe Juda steht Jahre später im Hofe des Pharaos vor einem Mann, der über sein Leben oder Tod entscheiden soll. Als bei seinem jüngsten Bruder Benjamin das vermeintliche Diebesgut gefunden wird, sagt er: „Bestrafe mich an seiner Stelle“ (1Mose 44,33). Ähnlich wie Joseph wurde auch Benjamin von seinem Vater bevorzugt. Juda würde nie den gleichen Status haben wie seine jüngsten Brüder, aber als er hier eine zweite Chance bekommt, für einen seiner Brüder einzustehen, trifft er die richtige Entscheidung. Er setzt sich für Benjamin ein.

Welch eine Entwicklung von „Wir wollen ihn den Ismaelitern verkaufen“ (1Mose 37,27) zu „Darum will nun dein Knecht als Sklave meines Herrn hierbleiben anstatt des Knaben; der Knabe aber soll mit seinen Brüdern hinaufziehen“ (1Mose 44,33). Es wird deutlich, wie Gottes Gnade an Juda arbeitete und ihn dazu befähigte, seine Familie, seinen Vater und die Brüder auf aufopfernde Weise zu lieben.

„Vor ihm stand ein Zeugnis der Gnade Gottes: Juda, der ältere Bruder, ist verändert und nimmt die Stelle des jüngeren, schwächeren Bruders ein.“
 

„Lass deinen Knecht als Sklave meines Herrn hierbleiben anstatt des Knaben.“ Wie müssen diese Worte in Josefs Ohren geklungen haben. Vor ihm stand ein Zeugnis der Gnade Gottes: Juda, der ältere Bruder, ist verändert und nimmt die Stelle des jüngeren, schwächeren Bruders ein. Der Verrat Judas an Josef liegt hinter ihnen. Juda war nun ein Beschützer der Jungen (1Mose 44,32) und der Alten („Ich möchte das Leid nicht sehen, das meinen Vater träfe“, 1Mose 44,34). Im nächsten Vers sehen wir Josef vollständig aufgelöst. Er kann sich nicht länger kontrollieren und gibt sich seinen Brüdern zu erkennen (1Mose 45,1).

Wir kennen leider nicht alle Details, aber manche Ausleger mutmaßen, dass die Tragödie um Tamar der Punkt war, an dem Juda umkehrte. Tamar handelte gerecht, als sie Juda dazu aufforderte, für seine Sünde einzustehen. Als offenbar wird, dass er der Mann ist, der sie geschändet hatte, sagt Juda: „Sie ist gerechter als ich“ (1Mose 38,26). Das sind nicht Worte eines Mannes, der sein böses Handeln rechtfertigt. Judas Antwort impliziert, dass er endlich ehrlich mit seiner Sünde umgeht – vor Gott und vor sich selbst.

Das ist Buße: Umkehr. Das nächste Mal, wenn wir Juda sehen, ist er ein anderer Mensch.

Gottes Treue

Mit Judas schockierender Geschichte vor Augen fällt einem auf, wie gnädig Gott war, die Nachkommen Judas zur königlichen Linie im Stammbaum Jesu zu machen.

„So weit reicht die Güte Gottes: Juda, der langjährige Schandfleck seiner Familie, kehrt um und wird zum Vater des Königs der Könige.“
 

Als Jakobs Söhne am Totenbett den Segen ihres Vaters erhalten (1Mose 49) gelten Juda die ersten positiven Worte (1Mose 49,8–12) – die Brüder vor ihm bekommen nur ernste Worte der Mahnung. Juda wird schließlich der Vater vieler rechtschaffener Könige, darunter David, Josaphat, Ussija, Jotam, Hesekia, und Josia. Und schließlich ist da unter seinen Nachkommen ein anderer Josef, „aus dem Hause und dem Stamm Davids“, der seine junge, schwangere Frau nach Bethlehem bringt, um sich dort für die Volkszählung zu registrieren (Lukas 2). Dieses Baby würde der „Löwe aus dem Stamme Juda“ werden (Offb 5,5).

In 1. Mose 37 träumt Josef, dass seine Brüder sich vor ihm beugen – und das taten sie auch, wenn auch nur vorübergehend. Doch auf lange Sicht betrachtet erkennt man, dass es Judas Nachkomme war, der wirklich über allen steht und vor dem sich alle Menschen beugen: „ihm werden die Völker gehorsam sein“ (1Mose 49,10). So weit reicht die Güte Gottes: Juda, der langjährige Schandfleck seiner Familie, kehrt um und wird zum Vater des Königs der Könige.