The Tree of Life
Der beste christliche Film aller Zeiten
In den zehn Jahren seit der Veröffentlichung von The Tree of Life hat der Film immer mehr an Ansehen gewonnen. Terrence Malicks Meisterwerk wird von Kritikern und Kinoliebhabern als „bester Film aller Zeiten“ gehandelt und ist eines der besten Beispiele einer ausgeprägt christlichen Filmkunst geworden – ohne dabei aus der christlichen Filmindustrie selbst zu stammen.
Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, The Tree of Life bedeute für das Kino, was Händels Messias für die Musik oder die La Sagrada Familia für die Architektur darstellt: Es ist ein christliches Meisterwerk.
Über die Theologie des Films ist bereits viel geschrieben worden: der Umgang mit Kierkegaard, Augustinus und Dostojewski, das Thema der Erbsünde, das Verhältnis zwischen Natur und Gnade und die Erforschung der Themen und Struktur des Buches Hiob. Renommierte Theologen haben über The Tree of Life geschrieben, unter anderem Michael Horton und David Bentley Hart, der ihn als einen „zutiefst christlichen Film“ und „nahezu alarmierend biblisch“ beschreibt. Ein ganzes Buch über die die Theologie des Films stammt aus der Feder Peter Leitharts.
Auch ich habe bereits viel über The Tree of Life und dessen christliche Themen geschrieben (siehe hier und hier und hier). Aber die vor einiger Zeit von der Criterion Collection herausgegebene erweiterte Version des Films (mit 50 Minuten neuem Material) bietet eine gute Gelegenheit, den Film erneut zu sehen. Tatsächlich unterstreicht diese Version, die vor allem die Darstellung der „Kindheit in Texas“ erweitert, die zutiefst christliche Natur des Films.
The Tree of Life, so viel ist sicher, ist ein unkonventioneller Film, der von Christen begrüßt und gefeiert werden sollte. Der Film ist sowohl implizit als auch explizit gottesfürchtig, liturgisch strukturiert und ehrlich über die Kämpfe des Glaubens. The Tree of Life, vom christlichen Künstler Malick liebevoll angefertigt, ist von Anfang bis Ende mit biblischen Worten und Bildern durchzogen. Er ist der Citizen Kane [1] des christlichen Kinos: der beste christliche Film aller Zeiten.
Ein Gebet
Überall in The Tree of Life ist das Gebet präsent, was sogar von säkularen Kritikern wie Roger Ebert angemerkt wurde, der den Film eine „Form des Gebets“ nannte. Es ist auf mindestens drei Ebenen voll des Gebets.
Zunächst taucht das Gebet buchstäblich dort auf, wo die Familie O’Brien (Brad Pitt, Jessica Chastain, Hunter McCracken, Laramie Eppler, Tye Sheridan) vor dem Essen gemeinsam betet oder der junge Jack O’Brien ein humorvolles Kindergebet vor dem Schlafengehen spricht: „Hilf mir, meinen Vater nicht zu reizen. Hilf mir, dass ich Hunde nicht zum Kämpfen reize. Hilf mir, für alles, was ich habe, dankbar zu sein. Hilf mir nicht zu lügen.“
Zweitens ist der Film mit einer Sprecherstimme durchzogen, die die stillen Gebete der verschiedenen Personen artikuliert. Die ersten Worte des Films bestehen in einem geflüsterten Gebet des erwachsenen Jack (Sean Penn): „Bruder. Mutter. Sie waren es, die mich zu deiner Tür geführt haben.“ Und auch in dem mittleren Teil hören wir konstant Jacks Gebete. „Du hast durch sie zu mir gesprochen”, betet er an einer Stelle, „Du hast aus dem Himmel zu mir gesprochen, aus den Bäumen. Bevor ich dich liebte, an dich glaubte.” Die Gebete sind häufig bruchstückhaft und kaum hörbar, fast wie Pinselstriche in einem impressionistischen Gemälde (ein wiederkehrendes Motiv in Malicks letzten Werken). Manchmal ist nicht einmal klar, wessen Gebet gesprochen wird, aber darum geht es gerade. Wir können uns selber in den Gebeten, Ausrufen und Glaubenswegen dieser einen texanischen Familie wiederfinden. The Tree of Life ist eine Liturgie, die uns zum Mitsingen einlädt.
Die dritte Ebene des Gebets im Film ist schließlich die Struktur. The Tree of Life zu sehen fühlt sich an wie ein filmischer Abendgottesdienst. Die von Malick sorgsam ausgewählte klassische Musik leitet uns. An einigen Stellen spiegelt die Musik das Lied der Schöpfung von der Herrlichkeit ihres Schöpfers (Smetanas „Die Moldau“) oder spricht von der großen Würde des menschlichen Lebens (Respighis „Siciliana Da Antiche Danze Ed Arie Suite III“, Holsts „Hymne an Dionysus”). Während des Abspanns hören wir die Instrumentalversion der alten Hymne „Welcome Happy Morning!“, in deren erster Zeile es triumphierend klingt: „Gegrüßt seist du, froher Morgen! Von Äon zu Äon soll es klingen: Heute wurde die Hölle besiegt, heute hat der Himmel gewonnen!“
Auch in dem Soundtrack des Films spielen Requiems eine zentrale Rolle, angefangen mit Taverners „Funeral Canticle“ über Preisners „Lacrimosa“ aus dem „Reqiuem for my Friend“ im Mittelteil bis hin zum majestätischen Agnus Dei aus Belioz Requiem Op. 5 (Grande Messe des Morts) im Finale. Die lateinischen Worte des abschließenden Liedes liefern einen wunderschönen Segenswunsch, während auf dem Bildschirm die Auferstehung und Erneuerung gefeiert und betende Hände in den Himmel erhoben werden:
„Lamm Gottes, das die Sünden der Welt auf sich nimmt, gib ihnen ewige Ruhe. Du, O Gott, bist in Zion gelobt und dir sollen die Gelübde in Zion erfüllt werden. Höre mein Gebet, zu dir soll alles Fleisch kommen. Gewähre den Toten ewige Ruhe, O Herr, und möge ewiges Licht auf sie scheinen, mit deinen Heiligen für immer, Herr, weil du gnädig bist. Amen.“
Ein Problem
Die musikalische Prominenz des Requiems, die Totenmesse, in The Tree of Life ist deshalb so stimmig, weil es im Kern des Films um Tod geht. Das Problem des Schmerzes. Das Böse. Leid. Sünde. Sterblichkeit. Es geht darum, den Verlust und das Fehlen von Eden zu fühlen und sich nach einer Wiederherstellung des Shalom zu sehnen. Es geht um einen Glaubenskampf. Wie können wir in einer Welt des allgegenwärtigen Todes an eine Auferstehung glauben? Wie können wir an einen Gott glauben, der doch für all das verantwortlich ist?
Der von Sean Penn gespielte Charakter (ebenso wie Ben Affleck in To the Wonder oder Christian Bale in Knight of Cups) ist ein Stellvertreter für Malick selbst. So scheint der größte Teil von The Tree of Life in seinem Kopf und seinen Erinnerungen zu existieren – eine Kollage von allen Menschen, Orten, Bildern und Ideen, die ihn zurück zum christlichen Glauben führten.
Der Film wird durch Penn getragen, der in seiner Rolle als erwachsen gewordener Jack den Film als Wanderer in einer spirituellen Wüste beginnt. Diese Szenen sind mit einer Art leerem Hedonismus und Orientierungslosigkeit gefüllt, die auch die spirituelle Suche von Malicks letzten Filmen charakterisiert: Knights of Cup (2015) und Song to Song (2017).
„Wie habe ich dich verloren? Gewandert. Vergessen.“ So hören wir Jack beten, den Verlust seines Glaubens beklagend, während er zwischen Frauen, Alkohol und Partys dahinlebt. Verloren in einer Welt aus Metall, Glas und Neonlichtern, fühlt sich Jack von dem Guten, der Wahrheit und der Schönheit weit entfernt. „Erinnere dich“, wispert Jack, während wir eine Frau auf einem Handybildschirm in einer Kunstgalerie sehen – ein Symbol für die allgegenwärtige Ablenkung, die unser Technologiezeitalter plagt. Jack sehnt sich nach dem Übernatürlichen. Einem wiederhergestellten Glauben. Der Film ist eine Reflexion dieser geistlichen Wiederherstellung.
Jacks Reise zurück zum Glauben (visualisiert durch eine Tür, durch die er endlich durchgeht) beginnt, wie sein Gebet am Anfang suggeriert, durch seinen jüngeren Bruder R. L. und seine Mutter Mrs. O’Brien (Jessica Chastain). Während er über den Tod seines Bruders mit nur 19 Jahren und die anhaltende Trauer seiner Mutter nachdenkt, beginnt Jack seinen Erinnerungsprozess und ebenso eine Konversation mit Gott, die den Hauptteil des Films einnehmen wird.
Diese Konversation beginnt aus der Sicht Gottes mit einer Inschrift aus Hiob 38,4–7: „Wo warst du, als ich den Grund der Erde legte? […] Als die Morgensterne miteinander jauchzten und alle Söhne Gottes jubelten?“
Mrs. O’Brien gibt diese Frage nach dem Verlust ihres Sohnes an Gott zurück. Zu Beginn der berühmten Schöpfungsszene (in der die Momente verbildlicht werden als Gott „die Fundamente der Welt“ legte und die „Morgensterne gemeinsam sangen“), hören wir sie beten: „Herr, wo bist du? Wusstest du es? Wer sind wir für dich? Antworte mir.“
An einer späteren Stelle im Film gibt es eine bemerkenswerte Kirchszene, in der ein großer Teil einer Predigt zu Hiob (von dem realen Bischof Kelly Koonce) gehalten wird:
„Unglück trifft auch die Guten. Wir können uns nicht davor schützen. Wir können unsere Kinder nicht schützen. Wir können nicht zu uns selbst sagen: Auch wenn ich nicht glücklich bin, werde ich dafür sorgen, dass sie es sind.
Wir verschwinden wie eine Wolke. Wir verwelken wie das Herbstgras und werden wie ein Baum entwurzelt.
Gibt es da einen Betrug im Plan des Universums? Gibt es nichts Unsterbliches? Nichts, das nicht vergeht?
Wir können nicht bleiben, wo wir sind. Wir müssen uns vorwärts bewegen. Wir müssen das finden, was größer ist als Glück oder Schicksal. Abgesehen davon kann uns nichts Frieden bringen.“
Die Reise der Charaktere in The Tree of Life, insbesondere von Jack, ist eine Reise hin zu Gott, der größer ist als Glück und Schicksal; der Ewige, der unser Verlangen nach Unsterblichkeit beantwortet; der Baum des Lebens, der das wiederherstellt, was durch die Sünde entwurzelt wurde.
Die große biblische Erzählung
Die Bibel beginnt mit dem Baum des Lebens im Garten Eden (Gen 2,9) und endet mit einem Baum des Lebens „zur Heilung der Völker“ (Offb 22,2.14.19).
Der Baum des Lebens schließt die Bibel ab, indem er das wahre und zukünftige Königreich Gottes in seiner Perfektion symbolisiert: das Paradies, bevor es verloren wurde, und das Paradies, nachdem es wiederhergestellt sein wird. Der Spannungsbogen der Bibel geht von einem Baum des Lebens zum anderen. Der Weg von dem einen zum anderen erfordert jedoch unbedingt einen Baum des Todes (1Petr 2,24), das Kreuz Christi, das die Brücke zwischen Gott und uns darstellt.
Wie die Überschrift bereits andeutet, hat Malicks Film The Tree of Life diese erlösende Struktur bereits im Hinterkopf. Diese nahezu dreistündige Reise des Films kann grob in die Baum-zu-Baum-Struktur der Bibel – Schöpfung, Sündenfall, Erlösung und Wiederherstellung – eingeteilt werden. Der Film ist kein Evangeliumstraktat und mag zeitweilig zu uneindeutig sein. Aber für diejenigen, die „Ohren zum Hören und Augen zum Sehen“ haben (wie Jack O’Brien im Film), kann die Reise in The Tree of Life den Glauben stärken.
I. Schöpfung
Die Schöpfungsszene in The Tree of Life nimmt etwas mehr als 30 Minuten der Filmzeit in Anspruch. Sie beginnt mit der mittlerweile legendären Sequenz „Schöpfung des Universums”: Hier wird die konventionelle Erzählung unterbrochen und die Zuschauer werden dazu eingeladen, sich vorzustellen, wie es tatsächlich ausgesehen hat, als Gott „den Grund der Erde legte“. Begleitet von Preisners Operngesang „Lacrimosa” ist diese Sequenz – voll Nebelfetzen, werdenden Sternen, DNA-Strängen, entstehenden Zellen, erstem Pflanzenleben, Dinosauriern – unmissverständlich liturgisch: eine ehrfurchterregende Hymne, in der die Anbetung aus Psalm 8,19 und 139 nachhallt.
Ganz konkret spiegelt sich die Schöpfungsszene in der Entstehung einer Familie in Waco um 1950 wieder: die Liebesbeziehung der O'Briens (gespielt von Pitt und Chastain), in der die drei Söhne Jack (Hunter McCracken), R. L. (Laramie Eppler) und Steve (Tye Sheridan) geboren werden.
Die Szenen der frühen Kindheit der Jungen sind wunderschön und erinnern an Eden, das Paradies vor dem Sündenfall. Um diese Parallelen zu unterstreichen, wird die Gartenarbeit groß geschrieben, sodass man die Jungen bei der Gartenarbeit mit ihrem Vater beobachtet (Gen 2,15). Doch gibt es auch dort Grenzen und Regeln. Der Vater zeigt die Grenzen des Besitzes und verbietet Jack, diese zu übertreten. Die Mutter liest den Söhnen Beatrix Potter vor: „Geht nicht in den Garten von Mister McGregor!“ Das Verbotene wird klar dargestellt, so dass die Möglichkeit einer Verfehlung bereits ihren Schatten wirft.
II. Sündenfall
Der Filmabschnitt zum Sündenfall ist der längste und nimmt mehr als eine Stunde des Hauptteils ein. Die Unschuld des jungen Jacks wird durch Rebellion ersetzt. Widerstand beim Abendbrot. Geschwisterrivalität („Wen liebst du am meisten?”, fragt Jack seine Mutter). Im Vorgarten kriecht eine Schlange an der Hacke der Mutter vorbei (einen Anspielung auf Gen 3,15). Die Jungen verstehen, dass es Dunkelheit, das Böse, Leid und Sterblichkeit gibt. Sie sehen Gefangene in Handschellen, Menschen mit Behinderungen, einen Jungen mit einer Brandnarbe, einen Freund, der von seinem Vater misshandelt wird, einen Hund mit nur drei Beinen. Sie werden der Existenz von Gut und Böse bewusst. In neuem Material, das in der erweiterten Fassung hinzugefügt wurde trifft ein Tornado auf Waco (ein Hinweis auf Hiob) und hinterlässt eine Schneise der Verwüstung (Malicks Kamera fokussiert dabei insbesondere auf entwurzelte Bäume). Die Welt ist nicht so, wie sie sein sollte.
Jack hinterfragt die Regeln seines irdischen Vaters (Pitt) und auch die Beziehung zu Gott, die oft als miteinander verknüpft empfunden werden. Er fragt auch, weshalb sein Vater nicht an diese Regeln gebunden ist: „Er sagt: ‚Ellbogen vom Tisch!‘ Und tut es doch selbst!“ Er fordert einen Anteil an Gottes Allwissenheit: „Ich will wissen, was du bist. Ich will sehen, was du siehst.“
Als ein Freund von Jack beim gemeinsamen Schwimmen stirbt, wird ein Wendepunkt erreicht. Bezeichnenderweise zeigt eine Szene in der erweiterten Fassung die beiden Jungen direkt vor dem Schwimmen in der Kirche. Sie sprechen dort mit dem Pastor über die Taufe. Der verstorbene Junge ist wahrscheinlich mit Jack in einer Gruppe, weshalb Jack dem Problem des Bösen früh begegnet. Welcher Gott lässt einen guten Jungen, der zur Kirche geht und den Katechismus kennt beim Schwimmen mit seinem Freund sterben? Jack hinterfragt Gottes Güte: „Wo warst du?”, fragt Jack Gott, die Frage seiner Mutter wiederholend. „Du hast einen Jungen sterben lassen. Du lässt alles passieren… Warum sollte ich gut sein, wenn du es nicht bist?“
Ab hier beschleunigt sich Jacks Abstieg. Als sein Vater auf Geschäftsreise geht, treiben Jack und seine Brüder mit einer Bande von Jungen aus der Nachbarschaft Unfug. Sie jagen Mädchen, binden Frösche an Flaschenraketen, zerstören Eigentum, stehlen Dinge. Sie pflücken „verbotene Früchte“ aus einem Gemüsegarten. „Ich glaube, das gehört uns nicht“, sagt einer der Jungen. „Wen interessiert das schon“, antwortet der Anführer, „sie gehören allen“.
Jack spielt sich in der Schule auf, ist in Kämpfe verwickelt, so dass sich seine Mutter mit den Lehrern und dem Direktor treffen muss. Seine Eifersucht auf den Bruder und die Wut auf seinen Vater werden immer größer (an einer Stelle bittet er Gott, dass dieser seinen Vater töten soll). Er begehrt eine Frau aus der Nachbarschaft und erlebt die Scham sexueller Sünde. Und wie bei Adam und Eva in Genesis 3,7 werden seine Augen geöffnet. Eine kurze Szene zeigt, wie er ein Handtuch um seine Hüfte hält, um seine Nacktheit zu bedecken. Als seine Mutter ihn aus dem Flur sieht, schließt er peinlich berührt seine Tür.
Diese Sequenz wird von Jacks Fall dominiert, aber auch sein Vater erlebt einen Abstieg. Zu Wut, Kontrolle und Härte seinen Kindern und seiner Frau gegenüber neigend, bringt aber der Stolz Mr. O’Brien schließlich zu Fall.
„Mach dich selbst zu dem, der du bist… Ergreife Kontrolle über dein eigenes Schicksal“, sagt er seinen Söhnen. „Ich kann mich selber erlösen“, beharrt er. In dem ultimativen Streben nach Selbstrechtfertigung misst sich Mr. O’Brien an seinen Errungenschaften und guten Taten. Als er später im Film seine Arbeitsstelle verliert, kann er nicht verstehen, wie Gott so etwas zulassen kann, obwohl er doch ein verdienstvoller Mann ist: „Ich habe keinen einzigen Tag auf Arbeit versäumt. Ich habe jeden Sonntag den Zehnten gegeben.“
Warum, Gott? Wie sein Sohn Jack steht Mr. O’Brien dem Hiob-Dilemma gegenüber.
III. Erlösung
„Was habe ich losgetreten? Was habe ich getan?“
Jacks Erlösung (die den Großteil des dritten Aktes einnimmt) beginnt mit dem Bewusstwerden der eigenen Verdorbenheit. Er ist ein Sünder. Und das weiß er.
„Während der Weg der Natur uns dazu führt zu erobern und zu beschützen, was uns gehört, empfangen wir auf dem Weg der Gnade, was wir nicht verdient haben, und nehmen dankbar Gottes Geschenke, vor allem ihn selbst, an.“
„Ich stelle immer dumme Sachen an. Ich möchte wieder jung sein“, sagt er seiner Mutter. „Wie komme ich dahin zurück, wo sie sind“, überlegt er, während er seine Brüder in dem reinigenden Wasser eines Flusses und Wasserfalls spielen sieht.
In der folgenden Szene wird eine Antwort angedeutet. Der Vater kommt von seiner Geschäftsreise zurück. Die Jungen rennen raus und umarmen ihn, erleichtert, dass seine Ordnung und harte Liebe wieder Zuhause sind. Erlösung, so deutet diese Szene an, wird durch Beziehung kommen.
Die erlösende Wende des Films folgt auf Jacks Tiefpunkt der Sünde. Er missbraucht das Vertrauen seines Bruders R. L. und schießt ihm mit einem Luftgewehr in den Finger. Unmittelbar geplagt von Schuldgefühlen ist Jacks Stimme aus dem Hintergrund eine Paraphrase von Römer 7,15: „Was ich tun möchte, kann ich nicht tun. Ich tue, was ich hasse.“
Nun folgt eine bemerkenswerte Szene von Buße, Vergebung und Versöhnung zwischen den beiden Brüdern. „Du darfst mich schlagen, wenn du möchtest“, sagt Jack in dem Wissen, dass er Vergeltung für seine Sünde verdient hat. Stattdessen zeigt ihm R. L. Gnade, tut so, als würde er ihn mit einem Stock hauen (eine Andeutung an das Kreuz?), lächelt ihn dann aber stattdessen an. „Es tut mir leid“, sagt Jack, während ihn sein Bruder sanft an der Schulter und am Kopf berührt – eine Geste der Versöhnung, die mehrfach zwischen verschiedenen Charakteren bis zum Ende des Film beobachtet werden kann.
Nach dieser entscheidenden Szene scheint sich Jacks Glaube zu festigen. Er versteht und empfängt Gnade. Als die Kamera den Konturen eines Baumes folgt und dabei Gottes Perspektive enthüllt, betet Jack: „Was hast du mir gezeigt? Ich wusste damals nicht, wie ich dich nennen soll. Aber ich sehe, dass du es warst. Immer hast du mich gerufen.”
Versöhnt mit seinem Bruder erlebt Jack eine wortlose Versöhnungsszene mit seinem Vater im Garten der Familie – wo auch sonst! Wiedervereinigung. Shalom. Die Musik in dieser Sequenz ist eine Klavierversion des Stückes von Respighi, die früher im Film während Jacks Geburt zu hören war. Die subtilen musikalischen Hinweise machen deutlich, was diese Gartenszene sowohl für Jack als auch seinen Vater bedeuten: eine Wiedergeburt.
Während Mr. O’Brien seinen eigenen Moment von Buße und Erlösung erlebt und die Torheit seines selbstgerechten Stolzes zugibt, wird das Lied fortgesetzt: „Ich wollte geliebt werden, weil ich toll bin, ein wichtiger Mann. Ich bin nichts. Schau: die Herrlichkeit um uns herum, die Bäume, die Vögel. Ich habe in Schande gelebt. Ich habe all das nicht geehrt und die Herrlichkeit nicht wahrgenommen. Ein dummer Mann.“
In allen Filmen Malicks ist die Sünde häufig an das Übersehen der Herrlichkeit geknüpft: Undankbarkeit, das Abwenden von Gottes guten Gaben. Die Moderne und Technologie begünstigen dies (man denke an die Frau mit dem Handy im Museum), lenken uns von der „Herrlichkeit um uns“ herum ab. Während der Weg der Natur uns dazu führt zu erobern und zu beschützen, was uns gehört, empfangen wir auf dem Weg der Gnade, was wir nicht verdient haben, und nehmen dankbar Gottes Geschenke, vor allem ihn selbst, an. Wie in Eden, so auch in unserer eigenen Welt: Gott möchte bei uns sein, aber wie so oft wollen wir es alleine schaffen.
Einen kleinen Zusatz in der erweiterten Fassung kann man schnell übersehen: das Bild Albert Schweitzers in dem Artikel eines Magazins (Schweitzer – Bach-Liebhaber, Theologe, Arzt, Nobelpreis-Gewinner, Philosoph), den Mr. O’Brien (selber ein Bach-liebender Organist) wahrscheinlich bewunderte. Unabhängig von Schweitzers Erfolg – in dem Artikel wird er als größter Mann aller Zeiten bezeichnet – verstand er, dass es im Leben weniger darum geht, was wir erreichen, sondern was wir empfangen. „Unser inneres Glück hängt nicht davon ab, was wir erleben“, sagte Schweitzer einst, „sondern von dem Maß unserer Dankbarkeit an Gott, was auch immer wir erleben.“
Was auch immer wir erleben. Glück oder Unglück. Die drei Hauptcharaktere in The Tree of Life (Mr. und Mrs. O’Brien und Jack) erleben alle das Dilemma Hiobs. Wie kann man Gott lieben, wenn er gar nicht gut scheint. Aber sie alle verstehen schließlich, was der Prediger in einer früheren Kirchenszene zu der Liebe zu Gott unabhängig von den Erfahrungen vorschlägt:
„Sieht nur derjenige Gottes Hand, der erkennt, was er empfängt? Oder sieht nicht auch derjenige Gottes Hand, der erkennt, was Gott nimmt?“
„In dem gleichen Moment, in dem Hiob alles genommen wurde, wusste er, dass der Herr es genommen hatte. Er wendete sich von den vorbeiziehenden Schauspielen der Zeit ab. Er suchte das Ewige. Sieht nur derjenige Gottes Hand, der erkennt, was er empfängt? Oder sieht nicht auch derjenige Gottes Hand, der erkennt, was Gott nimmt? Ist nur derjenige sehend, der Gottes Gesicht ihm zugewandt sieht? Ist nicht auch derjenige sehend, der Gott abgewendet sieht?“
Glaube ist eine Entscheidung. Wir entscheiden uns Gott zu lieben und empfangen seine Liebe, auch wenn er uns den Rücken zuzuwenden scheint. Auch wenn uns das Evangelium keinen Wohlstand bringt. Auch wenn du deinen Job verlierst, dein Zuhause, dein Kind oder du ins Internat geschickt wirst (so wie es Jack am Ende des Films passiert).
„Wenn du nicht liebst, wird dein Leben an dir vorbeiziehen“, hören wir Mrs. O’Briens Stimme aus dem Hintergrund, während ein junger Jack im Vorhof des christlichen Internats steht, reifer und friedlich aussehend, während sich auf dem hinter ihm liegenden Gebäude ein großes Kreuz abzeichnet.
IV. Wiederherstellung
Die letzten zehn Minuten des Films stellen eine Wiederherstellung dar. Nachdem er durch die Tür des Glaubens gegangen ist, führt uns der erwachsene Jack (Penn) die neue Schöpfung vor Augen. Zu der Agnus Dei Liturgie nach Berlioz sehen wir die Auferstehung, das tatsächliche Aufstehen aus Gräbern. Wir sehen Bilder, die an Offenbarung 21 erinnern: eine Lampe (V. 23), ein offenes Tor (V. 25), eine Braut (V. 2 und 9), die Menge der Völker (V. 24). Wir sehen die besiegte Sünde wie die Maske eines Toren in die Tiefe des Meeres stürzen. Kein Tod mehr oder Klagen oder Schmerz.
„In einem Film über die Annahme der Geschenke Gottes und das Erkennen der Herrlichkeit bleibt der Sohn das größte Geschenk. Der ultimative Baum des Lebens.“
Aber wo ist Christus in dem Ganzen? Für Jack symbolisiert sein kleiner Bruder R. L. Christus. Weshalb hat Malick diesen Charakter ausgerechnet R. L. genannt? Möglicherweise steht dies für „Resurrection and Life“ (im Deutschen: Auferstehung und Leben) - so wie Jesus sich selber in Johannes 11,25–26 nennt. Es ist bemerkenswert, dass Jack in einer Filmszene folgendermaßen betet: „Bruder. Bewahre uns. Führe uns. Bis zum Ende der Zeit.“ Wie eine Art Antwort auf die Bitte „führe uns“ spricht R. L. dann in Anlehnung an Christi Worte in Matthäus 4,19: „Folge mir“.
Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen R. L. und Christus – und hier geht es tatsächlich nur um eine Verbindung, keine Allegorie einer „Christus-Figur“ – sind an anderen Stellen im Film eingestreut. Als der Prediger in der Kirchenszene sagt „Gibt es nichts Unsterbliches?“, ist die Kamera auf R. L. gerichtet und schwenkt dann zu einer Abbildung Christi in den Kirchenfenstern. An mehreren Stellen des Films sehen wir R. L. mit Fischen hantieren. Bei dem Wort „Hoffnung“ erscheint R. L.s Gesicht auf dem Bildschirm. Nachdem Jack R. L. angeschossen hat, vergibt er Jack. Wir sehen Bilder von R. L., wie er ein Licht in der Dunkelheit hält. Und dann sind da die letzten Worte des Films. Mit zur Anbetung erhobenen Händen, während die Musik ein sich wiederholendes „Amen“ spielt, sagt Mrs. O’Brien: „Ich gebe ihn dir. Ich gebe dir meinen Sohn.“ Ihre Trauer über R. L.s Tod hat sich zu Freiheit und Anbetung gewandelt.
Und während diese Worte im Kontext der Familiengeschichte der O’Briens Sinn machen, so haben, wie alle anderen Elemente in The Tree of Life, auch diese eine weitere Bedeutung. Und so verlassen wir diesen Film mit den Worten im Ohr „Ich gebe dir meinen Sohn“. Diese Worte bedeuten eine Sache für Mrs. O’Brien, sie bedeuten aber etwas viel tieferes für alle, die Ohren haben zu hören. In einem Film über die Annahme der Geschenke Gottes und das Erkennen der Herrlichkeit bleibt der Sohn das größte Geschenk. Die Auferstehung und das Leben. Ein Zweig aus dem Baumstumpf Israels (Jes 11,1), der wahre Weinstock, in dem wir Leben finden und Frucht bringen werden (Joh 15,1–8). Der ultimative Baum des Lebens.
The Tree of Life – der beste christliche Film aller Zeiten.
1 Citizen Kane ist ein amerikanischer Film aus dem Jahr 1941, der, anfangs negativ rezensiert, heute vielen nicht zuletzt wegen seiner filmischen Innovationen als bester Film aller Zeiten gilt (Anm. der Red.).