Spiritualisierung oder Psychologisierung?

Rezension von Tanja Bittner
3. Juni 2021 — 10 Min Lesedauer

Der vorliegende Band enthält eine Reihe von Aufsätzen, die größerenteils auf die Vorträge des 6. Symposiums des Marburger Instituts für Religion und Psychotherapie (Evangelische Hochschule Tabor) im November 2018 zurückgehen. Die Beiträge beleuchten ein breites Spektrum an Themen, die im weiteren Sinne als „außergewöhnliche religiöse Erfahrungen“ gedeutet werden können.

Zunächst zum Inhalt: Am Anfang stehen zwei Beiträge, die einerseits aus der Sicht des Theologen, andererseits aus Sicht des Psychologen einen aktuellen Stand ihrer Disziplinen zur Thematik des scheinbar „Dämonischen“ bieten. Thorsten Dietz skizziert anhand einiger historischer Eckpunkte die Abkehr des Protestantismus vom Teufelsglauben. Man erkannte zunehmend, dass zuvor abergläubisch dem Teufel zugeschriebene Phänomene (die dann so große Übel wie die Hexenverfolgungen ausgelöst hatten) tatsächlich auf natürliche Ursachen zurückzuführen waren. Man fand daher neue Wege der „Rede vom Bösen“. Zwar gebe es (wie auch die Aufklärung generell vom Erstarken einer okkulten Subkultur begleitet war) abseits der „wissenschaftlichen Theologie“ nach wie vor eine Fülle erfahrungsbasierter Zugänge zum Thema der Befreiung von personhaften, okkulten Mächten – Befreiungsdienste im Stil eines Kurt Koch, deren Popularität ungebrochen sei, die aber auch zu Machtmissbrauch, Spaltungen, usw. führen. Eine Alternative bietet Kierkegaards existenziale Deutung des Dämonischen als Verweigerung der Freiheit, außerdem in neuerer Zeit Walter Winks Ansatz, Transzendenz nicht als eine Parallelwelt, sondern als die „unsichtbare Innenseite von allem“ (S. 28) zu verstehen. Die gefallenen „Mächte und Gewalten“ seien daher im Rahmen des größeren biblischen Narrativs der Herrschaftskritik zu deuten.

Immerhin drei Viertel der Deutschen geben an, bereits mindestens eine „außergewöhnliche Erfahrung“ gemacht zu haben, daher bemühe sich die Psychologie um Erklärungsansätze, so Michael Utsch. Die Parapsychologie habe sich als nicht allzu hilfreich erwiesen, eine aktuelle Alternative sei insbesondere die Transpersonale Psychologie. Man fragt hier nach der spirituellen Dimension des Menschen, nach seiner Fähigkeit, sich selbst zu transzendieren und Zustände der „‚Einswerdung‘ von und mit Allem“ (S. 41) herbeizuführen, beispielsweise durch Meditation. Allerdings existiere eine gewisse Spannung zur christlichen Theologie, da diese in ihrer Gottesbeziehung auf ein persönliches Gegenüber ausgerichtet ist. Zudem werden in der akademischen Psychologie Bewusstseinserweiterung und mystische Einheitserlebnisse nicht als Entwicklungsziel des Menschen (als nächste Stufe nach der Selbsterfahrung) anerkannt. Daher ist fraglich, inwiefern die Transpersonale Psychologie überhaupt als Zweig der Psychologie betrachtet werden darf. Aus Sicht der Religionspsychologie sei es jedenfalls für einen Behandlungserfolg wichtig, das jeweilige Weltbild und die Glaubensüberzeugungen des Hilfesuchenden in die Therapie mit einzubeziehen. Wenn die Psychologie sich nicht auch mit den religiös-spirituellen Bedürfnissen der Menschen befasst, werden diese zu ihrem Schaden in der Esoterik nach Antworten suchen.

Es folgen Untersuchungen zu Einzelphänomenen: Henning Freund fragt anhand des Phänomens der Stigmatisation (dem Auftreten von Wunden an jenen Stellen, an denen sich die Wundmale Christi befanden), ob sich nicht in solchen „exzentrischen, außergewöhnlichen und psychopathologischen Grenzbereichen der religiösen Erfahrung“ (S. 64) möglicherweise das Wesen der Religion am klarsten zeigt. Johann Heinrich Demling beleuchtet den religiösen Wahn – Wahn definiert als „Privatwirklichkeit“ (S. 71) des Betreffenden, mithilfe derer er unbewusste Bedürfnisse erfüllt (z.B. durch die Verschiebung eigener Schuld auf externe Mächte). Gabriele Stotz-Ingenlath befasst sich mit dem Themenkreis von Schuld und Schuldgefühlen, auch und insbesondere in religiösem Kontext. Der Karmeliterpater Michael Plattig stellt die Erfahrung einer geistlichen Krise in Form der „Dunklen Nacht“ vor (nach Johannes vom Kreuz, einem Mystiker des 16. Jhdts.), in der der Zugang zu Gott „völlig blockiert“ scheint (S. 105), und beleuchtet die Unterschiede zur Depression.

In einem sehr aufschlussreichen Artikel schildert Claudia Währisch-Oblau dann die Herausforderungen auf dem asiatischen und afrikanischen Missionsfeld. In den Kirchen treffen die in „westlicher“ (!; S. 119) historisch-kritischer Exegese und der Entmythologisierung biblischer Geschichten geschulten Pfarrer auf Gemeindeglieder, die den alles durchdringenden Einfluss dämonischer Mächte in ihrem Alltag zu erleben meinen. Kommt der Pastor der Bitte um Exorzismus nicht nach, so suchen die Menschen Hilfe in charismatischen und pfingstlerischen Gemeinden oder bei traditionellen Schamanen.

Samuel Pfeifer verweist auf das zusätzliche Problem der Stigmatisierung (sozialen Ausgrenzung), der sich Betroffene neben ihrem eigentlichen Leiden ausgesetzt sehen, wenn sie durch einen spiritualisierende Diagnose „in den Ruch des Bösen“ (S. 136) geraten. Im Umgang mit hochreligiösen Patienten gelte: Wenn ein solcher Patient (welcher Religion auch immer) sein Problem spirituell deute, dann sei eine „Suche nach der ‚Ursache‘“ (S. 141) seitens des Therapeuten selten zielführend, zumal Medizin und Psychologie oft keine letztgültige Erklärung haben. Stattdessen sei neben dem wissenschaftlich-psychologischen Know-how vor allem die empathische Einfühlung in die persönliche Wahrnehmung des Betroffenen wichtig, aus der heraus er im weiteren Verlauf behutsam an eine mit seinem spirituellen Denken kompatible Reinterpretation seines Problems herangeführt werden kann.

Schließlich stellt Martin Grabe mit der „Stühlearbeit“ im Rahmen der Schematherapie einen neueren Therapieansatz der Tiefenpsychologie vor. Dadurch wird es möglich, eine „destruktive geistige Macht“ (i.S.v. Lebenslügen), die das Leben beeinträchtigt, „hinauszuwerfen“ (S. 150). Generell sei ihm im Lauf seiner langjährigen Erfahrung noch nie ein Fall mit einem „innewohnenden personalen Dämon“ begegnet (S. 146).

„Es steht außer Frage, dass säkulare Therapien hilfreich sein können. Trotzdem können säkulare Therapien als solche nur ein Heilwerden im innerweltlichen Sinn vermitteln und nicht ‚zu Christus führen‘.“
 

Man muss Grabe zugutehalten, dass er sich immerhin um eine biblische Verankerung seiner Thesen bemüht (was sonst im Buch selten anzutreffen ist). Ihm ist definitiv zuzustimmen, dass es im Hinblick auf die Frage nach dem Bösen oft in den Gemeinden an gesunder Theologie mangelt, was zu problematischen Praktiken führt. Aber gerade deswegen lässt sich dieses Problem nicht mit dem Verweis, die Bibel biete ohnehin keine „zusammenhängende Lehre“ vom Bösen (S. 153; lohnt es sich – insbesondere für den „normalen“ Christen – dann überhaupt, sich damit zu befassen?) und auch nicht mit schnellen Generalisierungen oder Gleichsetzungen lösen. Grabe plädiert zunächst mit Verweis auf Matthäus 6,24 (wo allerdings, selbst wenn man hier eine Personifizierung des Besitzes sehen will, von einem „Dämon“ oder „Besessenheit“ nicht die Rede ist) dafür, wir sollten uns von der „typisch westlichen“ Unterscheidung zwischen Sünde und personal gedachter Besessenheit lösen (S. 150). Etwas später stellt er fest, dass im NT zwar oft, aber nicht immer „Krankheit [...] als Besessenheitszustand“ dargestellt werde, was bedeute, dass es eben einerseits Krankheiten im herkömmlichen Sinn gebe, daneben aber auch Krankheiten „mit Verstrickung in innere oder äußere Konflikte [...], mit inneren und äußeren Kämpfen“ (S. 151–152). Im Klartext: „Besessenheit“ = Beherrscht-werden durch Sünde = Krankheit mit psychischen Konflikten und Kämpfen? Glücklicherweise (vor allem für die Betroffenen!) ist das NT hier weit differenzierter. Wenn es um Dämonisierte geht (der dt. Begriff „besessen“ ist als Übersetzung des griech. δαιμονίζομαι unzureichend), fragt Jesus weder nach verursachender Sünde im Leben des Betroffenen noch erarbeitet er mit ihm konfliktträchtige Persönlichkeitsanteile, um sie am Ende der Therapiesitzung symbolisch „hinauszuwerfen“. Wie sollte man sich das in einer Situation wie Markus 1,32–34 auch vorstellen? Eine ähnlich unangemessene Vereinfachung lautet: „Es gibt im christlichen Glauben nur eine Wahrheit: Christus (Joh 14,6). Das heißt, alles, was der Wahrheit dient, führt zu ihm hin“, somit auch säkulare Therapien (S. 153). Natürlich: Es steht außer Frage, dass säkulare Therapien (auch für Christen) hilfreich sein können. Trotzdem können säkulare Therapien als solche nur ein Heilwerden im innerweltlichen Sinn vermitteln und nicht „zu Christus führen“ (Röm 10,17). Aber vor allem: Der Wahrheitsbegriff ist bereits innerhalb der Bibel vielschichtig, daher kann schon innerbiblisch nicht mit einer stereotypen Gleichsetzung Wahrheit = Christus operiert werden (vgl. Mk 5,33; Joh 17,17; Eph 5,9). Man wird der Sache nicht gerecht, wenn man diese erste Simplifizierung zusätzlich mit einem diffusen, offenbar am Therapieerfolg zu messenden Wahrheitsbegriff, vermischt.

Fazit

Die Autoren benennen eine ganze Reihe von tatsächlich vorhandenen Problemen, die Folge einer unangemessenen Spiritualisierung in christlichen Kontexten sind. Hier ist noch viel differenzierende Arbeit zu tun – es ist aber fraglich, wie viel Hilfestellung das Buch hier bieten kann. Man könnte aufgrund des Titels erwarten, hier das Ringen innerhalb eines Spannungsfelds vorzufinden: Inwiefern werden psychische Problematiken in christlichem Umfeld fälschlicherweise „spiritualisiert“ (etwa Dämonen zugeschrieben), inwiefern werden geistliche Erfahrungen fälschlicherweise „psychologisiert“, und wie könnte eine sinnvolle Kooperation der beiden Perspektiven aussehen? Doch solches Ringen sucht man vergebens. Im Grundtenor herrscht unter den Autoren offenbar große Einigkeit, dass ein personhaftes transzendentes Böses (sprich: Teufel oder Dämonen) – wenn auch in der Bibel so dargestellt – als Erklärungsmuster prinzipiell nicht in Frage kommt. Der Leser darf also lernen: Eine Spiritualisierung in dem Sinn, unerklärlich scheinende Vorgänge dem Wirken personaler transzendenter Mächte zuzuschreiben, ist grundsätzlich unangebracht, auch wenn man um des Behandlungserfolges willen das Weltbild des Betreffenden respektieren sollte.

Die Argumentation bleibt also insgesamt einem Paradigma verhaftet, das Transzendenz innerweltlich zu zähmen sucht, sie letztendlich in „Anschauung und Gefühl“ auflöst – aber warum eigentlich? Sicherlich mag es beruhigend sein, auf diesem Weg das nicht Händelbare, Unerklärliche (mag man dabei an den Teufel oder vielleicht auch an Gott denken), das immerhin beängstigend persönlich sein könnte, zu entpersonifizieren, als außergewöhnliche Leistung der Psyche händelbar zu machen. Aber ist das schlüssig?

Die vielleicht erstaunlichste Wahrnehmung beim Lesen des Buches war für mich, dass man auf 150 Seiten wieder und wieder darlegt, wie universal die Überzeugung von der Existenz einer transzendenten und dabei häufig auch personal verstandenen Welt verbreitet ist – biblisch, historisch, geografisch, auch nach wie vor als starke Strömung in unserem aus der Aufklärung hervorgegangenen Westen –, dass man teils nur noch gefühlte Millimeter davon entfernt ist, die eigene Voreingenommenheit zu entlarven (vgl. S. 128: „Im Blick auf westlich-entmythologisierende Exegese stellt sich die Frage, ob nicht die Menschen in Kamerun, die an eine unsichtbare Welt glauben, gegenüber westlich-säkularisierten Christen einen hermeneutischen Vorsprung haben.“) – und dennoch gerade diese eine Möglichkeit von vornherein kategorisch ausschließt. Ob nicht vielleicht doch eine gewisse Betriebsblindheit vorliegen könnte? Das Bekenntnis zur „weltanschauliche[n] Gebundenheit aller unserer Aussagen“ wirkt hohl, wenn nur wenige Zeilen später empfohlen wird, dass man auch Menschen, die die Dinge anders wahrnehmen, anhören und respektieren müsse, „auch wenn man ihre Weltdeutung naiv finden mag und sich ihr aus guten Gründen nicht anschließen wird“ (so Thorsten Dietz; S. 32). Ob die vorgebliche Wertschätzung von den Menschen, deren Sicht man für „naiv“ hält, nicht vielleicht doch durchschaut wird?

Wer also nach Einblicken sucht, wie das Ringen mit dem Phänomen außergewöhnlicher Erfahrungen unter dem Vorzeichen der Nichtexistenz eines personalen transzendenten Bösen aussieht, wird hier reichlich fündig werden. Die Fragen, die sich ergeben, wenn man eine solche Existenz nicht kategorisch ausschließt, bleiben allerdings außen vor.

Buch

Henning Freund, Samuel Pfeifer (Hg.). Spiritualisierung oder Psychologisierung? Deutung und Behandlung außergewöhnlicher religiöser Erfahrungen. Stuttgart: Kohlhammer, 2019, 159 S., 22,00 Euro.

Tanja Bittner ist Wissenschaftliche Assistentin am Martin Bucer Seminar. Sie ist glücklich verheiratet mit Andreas.