Das Erlassjahr
Fünf Mythen
In der aktuellen Diskussion um Gerechtigkeit, Armut und Schuldenerlass gewinnt die in 3. Mose 25 beschriebene Praxis des Erlassjahres an Bedeutung. So erwähnen evangelikale Autoren das Erlassjahr als ein biblisches Beispiel für Schulderlass und Umverteilung von Land. Sogar Zeitungsartikel widmeten sich diesem Thema.
Ein Erlassjahr wird von mehreren Seiten als Lösung für unsere aktuelle Wirtschaftskrise gesehen. So wirft Erik Kain vom Forbes-Magazin folgende Frage in den Raum: „Könnte ein Schulden-Erlassjahr unsere Wirtschaft ankurbeln?“ Auf der Nachrichtenseite Reuters wurden etwa Ökonomen vorgestellt, die das Erlassjahr als Wirtschaftsinstrument ernsthaft in Erwägung ziehen würden, um eine derzeitige Rezession zu beenden. Und in der Huffington Post wurde die Praxis eines Erlassjahres mit den Forderungen von Occupy Wallstreet verknüpft. Es ist in einem Zeitalter erdrückender Staats- und Verbraucherschulden leicht nachvollziehbar, dass eine Praxis, die finanzielle Bürden erlässt, ziemlich populär wird.
„Sinn und Zweck des Erlassjahres war die Sicherstellung des Besitzes des Landes für die Stämme und Familien, denen das Land ursprünglich gegeben wurde.“
Doch was ist eigentlich der historische Kontext für die biblische Praxis des Erlassjahres? Als die Israeliten das verheißene Land erreichten, teilte Gott das Land zwischen den 12 Stämmen auf (Jos 13,7 und 23,4). Sinn und Zweck des Erlassjahres war die Sicherstellung des Besitzes des Landes für die Stämme und Familien, denen das Land ursprünglich gegeben wurde.
Laut 3 Mose 25,8–10 soll am Tag der Versöhnung des 50. (bzw. 49.) Jahres ein Schopharhorn (bzw. Widderhorn) erschallen und jeder Israelit ist angehalten, zu seinem Eigentum und seiner Familie zurückzukehren. Die Verse 14–16 beschreiben detailliert, wie dieser Prozess auszusehen hat:
„Wenn ihr nun eurem Nächsten etwas verkauft oder von eurem Nächsten etwas abkauft, so soll keiner seinen Bruder übervorteilen; sondern nach der Zahl der Jahre seit dem Halljahr sollst du es von ihm kaufen; und nach der Zahl der Erntejahre soll er [es] dir verkaufen. Wenn es viele Jahre sind, sollst du ihm den Kaufpreis erhöhen, und wenn es wenige Jahre sind, sollst du ihm den Kaufpreis verringern; denn eine [bestimmte] Anzahl von Ernten verkauft er dir.“
Über diese antike Praxis herrschen heutzutage viele Vorurteile. Wir werden fünf dieser Mythen unter die Lupe nehmen.
Mythos #1: Das Erlassjahr bedeutet Schuldenerlass
Aus dem alttestamentlichen Text in 3 Mose 25 und aus den vielen Kommentaren hierzu wird deutlich, dass das Erlassjahr nicht den Schuldenerlass bedeutet, zumindest nicht nach heutigem Verständnis. Es wird keine Schuld erlassen, weil sie bereits gezahlt ist. Hier die Erklärung: Israelitische Familienmitglieder konnten im Falle einer Verschuldung bei der Person, die ihr Land bewirtschaftet, um eine Art Pauschalzahlung bitten, dessen Summe sich nach der Anzahl der Jahre vor dem Erlassjahr richtet. Die tatsächliche Höhe der Summe ergibt sich aus der Anzahl der Ernten, die bis zu dem Erlassjahr noch ausstehen. Ein Fallbeispiel mit modernen Zahlen soll das illustrieren: Sie haben Schulden in Höhe von 250.000 €. Bis zum Erlassjahr sind es noch 5 Jahre und jede Ernte wird mit einem Wert von 50.000 € veranschlagt. In unserem Beispiel würde der „Käufer“ Ihnen nun 250.000 € für die Rechte zur Bewirtschaftung des Landes geben und zum Zeitpunkt des Erlassjahres würden Sie Ihr Land zurückerhalten, weil die Schulden getilgt sind.
Der „Käufer“ besitzt das Land also nicht, sondern pachtet es. Die Schulden werden durch das Land (d.h. die Ernten) getilgt. Es ist nicht klar, mit welchem Berechnungsschlüssel der Preis für ein Erntejahr festgelegt wurde, vor allem vor dem Hintergrund der Gefahr einer Missernte durch Unwetter oder anderen Risikofaktoren. So berücksichtigte der Preis vielleicht, dass einige Erntejahre profitabler sein würden als andere.
Am Tag der Versöhnung würden Sie sich natürlich darüber freuen, dass Ihre Schulden getilgt wurden und Ihr Land wieder voll nutzbar ist, aber Sie würden dem Pächter nicht für den „Erlass“ Ihrer Schulden danken. Viel eher gleicht die Erlassjahrerklärung einer „Hypotheken-Verbrennungs-Feier“. Sie würden mit Freunden feiern, dass diese bedeutende Schuld gezahlt wurde. Die Schuld ist nicht „vergeben“ oder „erlassen“, weil sie bezahlt ist.
Zahlreiche Kommentatoren befürworten ein solches Verständnis. Derek Tidball schreibt etwa: „Der Kauf des Landes war wie der Kauf einer Pacht“[1] und R.K. Harrison kommentiert: „Nur der Ertrag des Landes konnte also ordnungsgemäß ge- oder verkauft werden.“[2]
Mythos #2: Das Erlassjahr bedeutet Umverteilung von Besitz
Ich habe schön häufiger gehört, das Erlassjahr sei ein Paradebeispiel für eine obligatorische, gesetzliche (d.h. durch die Regierung vorgegebene) Umverteilung von Reichtum. Das Argument dahinter: Gott verlangte qua Gesetz alle 50 Jahre eine Umverteilung des Landes.
„Das Erlassjahr bewahrt Land und Reichtum an ihrer ursprünglichen Stelle.“
Wenn das Erlassjahr jedoch, wie bereits festgestellt wurde, gar keinen Schuldenerlass, sondern eine Schuldentilgung zelebriert, dann gibt es keine Umverteilung von Reichtum. Das hat den Hintergrund, dass das Land immer im Besitz der Familie verblieb, der es ursprünglich von Gott zugesprochen worden war.
Das Erlassjahr bewahrt Land und Reichtum an ihrer ursprünglichen Stelle. Reichtum und Land werden nicht an eine neue Familie umverteilt. Sie werden gemäß Gottes ursprünglicher Verteilung an dieselbe Familie zurückgegeben.
Mythos #3: Das Erlassjahr zeigt den relativen Charakter des Privateigentums
Ein dritter Mythos vertritt die Behauptung, dass es keinen absoluten Anspruch auf Privateigentum gibt, da Gott das Land besitzt. Wenn es keine absoluten Rechte auf Privateigentum, Land oder Reichtum gibt, ist die Regierung dazu berechtigt, sich Privateigentum anzueignen bzw. dies umzuverteilen.
Tatsächlich festigt das Erlassjahr sogar die Eigentumsrechte, indem es das Land an seine ursprünglichen Besitzer zurückgibt. Letztlich besitzt Gott das Land. Aber er hat das verheißene Land den Stämmen und Familien Israels unter der Bedingung gegeben, dass privates Eigentum nicht verkauft, verschleudert oder dauerhaft verschenkt werden darf. Die Eigentumsrechte verbleiben bei dem Stamm oder der Familie, der das Land ursprünglich gegeben wurde.
Das Erlassjahr unterstreicht den Wert und die Bedeutung des Privateigentums für die Stämme Israels. Eine Familie wird nicht dauerhaft ihres Landes beraubt, stattdessen etabliert die Praxis des Erlassjahres das langfristige, private Eigentumsrecht in Israel.
Mythos #4: Das Erlassjahr führt zu Einkommensgleichheit
Es wird argumentiert, dass die periodische „Umverteilung“ von Land zum Erlassjahr sowohl die Reichen daran hinderte, allzu reich zu werden, als auch die Armen davor absicherte, tiefer in die Armut zu fallen. Es gibt jedoch in dem Kapitel keinerlei Hinweise auf eine Verhinderung von Einkommensungleichheit.
Mit Sicherheit hat das Erlassjahr dazu beigetragen, dass eine Person bzw. eine kleine Gruppe von Menschen davon abgehalten werden, den größten Teil des Landes aufzukaufen, Personen, die „ein Feld zum anderen fügen, bis kein Platz mehr bleibt“ (Jes 5,8). Das Erlassjahr verhinderte aber nicht, dass einige Menschen wohlhabender wurden als andere. Sie konnten Häuser in Städten kaufen, die dann zu ihrem dauerhaften Besitz gehörten (3Mose 25,30). Wenn sie während der Pacht Profit erwirtschafteten, konnten sie in den nächsten 50 Jahren sogar noch mehr Land pachten.
Die primäre Intention des Gesetzes ist nicht die wirtschaftliche Gleichheit. Vielmehr wollte Gott verhindern, dass die Israeliten das verheißene Land nicht mehr genießen können. Er hat ihnen die Freiheit von der Sklaverei verheißen, ein Land, in dem „Milch und Honig fließen“. Hier sollten sie ihr Leben führen und genießen, indem sie ihre Kreativität einsetzen, um das Land zu bewirtschaften und die Früchte ihrer Arbeit zu genießen.
Das Erlassjahr diente also nicht der Einkommensgleichheit, sondern vielmehr dazu, dass kein Israelit dauerhaft die Freude daran verliert, „unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum“ zu sitzen (Mi 4,4).
Mythos #5: Das Erlassjahr ist ein universell anzuwendendes Prinzip
Eigentlich galt die Praxis des Erlassjahres nur für Israeliten. Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt, der in den gewöhnlichen Darstellungen über das Erlassjahr fast gänzlich ausgeblendet wird.
Nicht-Israeliten konnten zwar Land pachten bzw. vertraglich verpflichtete Diener einstellen, sie konnten aber nicht dauerhaft Land besitzen (3 Mose 25,47). Dieses Privileg hatten nur die Israeliten (3Mose 25,44–46). Es gab keine Umverteilung bzw. Rückgabe von Land an Fremde. Die ärmsten Bewohner des Landes, Witwen, Waisen und Ausländer, sollten zwar in die Feste einbezogen werden, aber sie hatten außerhalb der Mauern der Stadt keine Eigentumsrechte.
Das Erlassjahr und der Staat
Wählt man einen heilsgeschichtlichen Ansatz zum Verständnis des Erlassjahres, so hat man den Vorteil, dass Debatten über Kapitalismus und Sozialismus vermieden werden. Angesichts der Komplexität und der vielen Missverständnisse, die das Erlassjahr umgeben, sind die heutigen Anwendungen einer solchen Praxis nicht offensichtlich. Sie sind nicht so einfach zu erklären und anzuwenden wie diejenigen, die diese Mythen aufrechterhalten, uns wissen lassen wollen. Klar ist jedoch, dass das Erlassjahr nicht als Argument dazu benutzt werden kann, die Umverteilung von Reichtum durch den Staat zu verteidigen.
„Wir Christen müssen uns um die Armen, Waisen, Witwen und Fremden kümmern, weil Gott uns dazu auffordert.“
Natürlich kann ein Staat, unabhängig vom Befehl der Bibel, Reichtum umverteilen. Ob der Staat der beste Garant ist, um die Bedürfnisse armer Menschen zu erfüllen, ist eine andere Frage.
Es gibt gute Argumente, die für eine staatliche Bereitstellung eines Sicherheitsnetzes für die Armen sprechen. Aber die Beteiligung des Staates entbindet Christen nicht von ihrer individuellen und gesellschaftlichen Verantwortung. Wir Christen müssen uns um die Armen, Waisen, Witwen und Fremden kümmern, weil Gott uns dazu auffordert. Jesus sagt, dass jeder, der einem der „Geringsten“ dient, ihm dient (Mt 25,45).
Die biblischen Gebote richten sich nicht an den unpersönlichen, säkularen Staat, sondern an an den einzelnen Christen, sich persönlich mit seiner Zeit und seinem Schatz um die Bedürftigen zu kümmern.