Schränkt Gott seine Kontrolle zugunsten des freien menschlichen Willens ein?

Artikel von Hanniel Strebel
26. Februar 2015 — 31 Min Lesedauer

Um was geht es?

Kein falsches Bild über Gott machen

In den letzten Jahren wurden wiederholt Fragen an Gemeinden herangetragen, welche die Basis des christlichen Glaubens betreffen.

  • Was ist die Bedeutung von Jesu Sühneopfer?
  • Gibt es einen Ort ewiger Verdammnis?
  • Wie müssen wir die Dreieinigkeit Gottes verstehen?

Die Frage, die derzeit in Theologenkreisen im deutschsprachigen Europa diskutiert wird, lautet: Inwiefern kann Gott wissen, was in Zukunft kommen wird?

„Jedes Glied am
Leib Christi sollte unterstützt und dazu befähigt werden, mit offener Bibel Heils-geschichte und einzelne Bibeltexte einzusortieren und zu einem eigenständigen Schluss gelangen zu können.“
 

Die Tragweite dessen ist bedeutend, denn es werden Fundamente des christlichen Glaubens angetastet. Das hört sich dramatisch an und ist es auch! Unsere Gedanken über Gott und sein Handeln beeinflussen nicht nur unser inneres Bild von ihm. Sie steuern unser Handeln (bzw. Nicht-Handeln) und bestimmen unsere Lebensschwerpunkte. Das zweite Gebot, sich kein falsches Bild von Gott zu machen, betrifft auch unsere falschen und fehlgeleiteten Abbilder über ihn.

Der Anspruch lautet nicht, dass jedes Gemeindemitglied Experte zu theologischen Themen werden muss. Doch etwas muss dringend gefördert werden: Jedes Glied am Leib Christi sollte unterstützt und dazu befähigt werden, mit offener Bibel Heilsgeschichte und einzelne Bibeltexte einzusortieren und zu einem eigenständigen Schluss gelangen zu können. Ich bin davon überzeugt, dass manches eine Frage des Gehorsams und der Unterordnung unter die Heilige Schrift ist und nicht an der fehlenden Klarheit ihrer Aussagen über Gott liegt.

Die Fragestellung

Formulieren wir jetzt die These näher aus. Sam Storms, ein US-amerikanischer Pastor und Autor, hat sie so zusammengefasst:

Gott kennt Vergangenheit und Gegenwart erschöpfend, die Zukunft aber nur in dem Maße, als sie logisch erkennbar ist. Gott sieht voraus, was er (Gott) unabhängig von menschlicher Beteiligung tun will. Gott kann jedoch nicht wissen, was wir, die Menschen, tun werden, bis wir es tun. Gott kennt zwar das Spektrum von Möglichkeiten und Potenzialen. Er erkennt sie jedoch nicht als Tatsachen, solange sie durch den freien Willen von Menschen ins Leben gerufen worden sind. Daher bleibt die Zukunft wirklich „offen“ für Gott und den Menschen.[1]

Ich untersuche diese These, indem ich Einzelaussagen der Heiligen Schrift in drei Schritten zusammentrage und sie Schritt für Schritt systematisch zusammenfasse.

  1. Was berichtet die Bibel allgemein über das Ausmaß des göttlichen Wissens?
  2. Unter Einbezug der zeitlichen Dimension: Gibt es Ereignisse unter Einwirkung von Handlungen freier Menschen, die in der Zukunft liegen und von Gott vorausgesehen werden?
  3. Welche Stellen der Bibel deuten auf ein „Lernen“ Gottes im Sinne obiger These hin?

Nimm dir die Zeit, und schlage die Stellen nach. Die Bibel ist Gottes Selbstoffenbarung. Ohne sie wüssten wir nur ganz verschwommen, dass es Gott gibt und dass er mächtig ist (vgl. Röm 1,20).

Bevor ich loslege, muss ich noch erklären, was ich nicht tue: Ich setze mich nicht mit der Herleitung der obigen These aus logischen Schlüssen auseinander. Ebenfalls stelle ich nicht dar, inwiefern diese These Antworten auf zeitgenössische Problemstellungen zur Gottesfrage bietet. Das heißt, ich erörtere die Fragestellung nicht anhand von logischen Argumenten, sondern anhand der Schrift.

Auslegungsprinzipien

Im heutigen Gemeindeumfeld ist es wichtig, einige Prinzipien zur Schriftauslegung klar zu formulieren. Manche Menschen erkennen nicht, dass sie über unbewusste Prinzipien verfügen, die sie unhinterfragt anwenden. Oftmals haben sie diese Prinzipien von ihrem direkten geistlichen Umfeld bzw. ihren Rollenvorbildern übernommen. Es gibt keinen Bibelleser ohne Vorannahmen.

  1. Ein wichtiges Prinzip der Auslegung lautet: Die Bibel legt sich selbst aus. Das heißt, wir haben in erster Linie darauf zu achten, dass wir die ganze Bibel in ihrem Zusammenhang lesen und Schlüsse daraus ziehen.
  2. Um zu schlussfolgern, ist es nötig, einzelne Bibeltexte und -aussagen systematisch zusammenzuziehen. Erst so wird die Gesamtaussage der Schrift angemessen wiedergegeben. Ein solches Unterfangen korrigiert unsere Vorannahmen. Deshalb sollten wir besonders auf die Bibeltexte achten, die uns irritieren oder Anstoß erregen. Sie enthalten wichtiges Korrekturpotenzial.
  3. Die wichtigen Dinge sind allesamt genügend oft und in für uns Menschen ausreichender Klarheit in der Bibel dargelegt worden. Das heißt, sie werden an verschiedenen Stellen in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederholt. Dunkle, für uns schwer verständliche Stellen werden deshalb von den helleren her ausgelegt und nicht umgekehrt.
  4. Altes und Neues Testament sind von einer fortschreitenden Offenbarung Gottes, v.a. seines Heilsplans, gekennzeichnet. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich Aussagen über Gott über die Dauer der Heilsgeschichte geändert hätten. Das Nichtbeachten von einzelnen Bibelteilen, insbesondere des Alten Testaments, führt zu Verzerrungen der Gesamtaussage. Vor allem darf Neues nie gegen Altes Testament ausgespielt werden.
  5. Es gibt besonders in Bezug auf die Lehre über Gott zwei Gefahren. Erstens, über das hinauszugehen, was Gott offenbart hat; zweitens, das zu ignorieren, was er offenbart hat. Die Evangelikalen haben sich – so der Neustestamentler D. A. Carson – nicht eben darin hervorgetan, die Lehre über Gott (theology proper) gründlich zu erforschen.
  6. Von manchen Auslegern wird behauptet, dass Gott der „völlig andere“ sei. Sie übernehmen eine Denkvoraussetzung, die in letzter Konsequenz darauf zielt, gar keine Aussagen über Gott als zuverlässig anzunehmen. Durch das äußere Zeugnis der Bibel und das innere Zeugnis des Heiligen Geistes sind wir jedoch in der Lage, Dinge über Gott zuverlässig zu wissen.
„Eine häufige Ursache für Missverständnisse und Verzerrungen ist die Übernahme von eigenen Denk- und Verstehensvoraus-setzungen.“
 

Eine häufige Ursache für Missverständnisse und Verzerrungen ist die Übernahme von eigenen Denk- und Verstehensvoraussetzungen. Was meine ich damit? Wir neigen dazu, die Aussagen der Bibel in unseren bestehenden Denkrahmen einzusortieren und bei Abweichungen unserem Verstand erste Priorität zu geben. So sind manche Theologen eher bei zeitgenössischen Philosophen in die Schule gegangen und haben das fortlaufende Studium der gesamten Schrift darüber vernachlässigt oder zumindest in den Hintergrund gerückt. Über die Zeit vollzieht sich unmerklich eine Umkehrung: Philosophische Annahmen entscheiden über den Wahrheitsgehalt der Schrift statt umgekehrt.

Schriftbelege für Gottes Wissen[2]

Ein Gott des Wissens

Die Bibel stellt Gott als den Gott des Wissens hin, das sich von den größten bis auf die kleinsten Dinge bezieht, aber auch Gerechtigkeit im weltweiten Gericht garantiert. Dies ist unabhängig davon, dass gottlose Menschen davon ausgehen, dass Gott fern von ihrem täglichen Handeln ist und Dinge nicht registriert.

1Sam 2,3 Denn der Herr ist ein Gott, der alles weiß
Ps 144,1
(Gott vermittelt Fähigkeiten)
Gelobt sei der Herr, mein Fels, der meine Hände geschickt macht zum Kampf, meine Finger zum Krieg
Ps 67,5
(Gott übt gerechtes Gericht)
Die Nationen sollen sich freuen und jauchzen, weil du die Völker recht richtest und die Nationen auf Erden führst.
Ps 10,11
(Gottlose irren sich)
Er spricht in seinem Herzen: »Gott hat es vergessen, er hat sein Angesicht verborgen, er sieht es niemals!«

Umfassendes Wissen

An vielen Stellen wird Gottes umfassendes Wissen bestätigt. Als Schöpfer überblickt er den gesamten Kosmos, aber auch jeden Gedanken und jedes Einzelereignis des einzelnen Menschen.

1Mose 1,31 Und Gott sah alles, was er gemacht hatte
Ps 147,4–5 Er zählt die Zahl der Sterne und nennt sie alle mit Namen. Groß ist unser Herr und reich an Macht; sein Verstand ist unermesslich.
Hiob 28,24 Denn Er schaut bis zu den Enden der Erde und sieht alles, was unter dem Himmel ist.
Dan 2,21–22 Er führt andere Zeiten und Stunden herbei; er setzt Könige ab und setzt Könige ein; er gibt den Weisen die Weisheit und den Verständigen den Verstand. Er offenbart, was tief und verborgen ist; er weiß, was in der Finsternis ist, und bei ihm wohnt das Licht!
Ps 94,9–11 Der das Ohr gepflanzt hat, sollte der nicht hören? Der das Auge gebildet hat, sollte der nicht sehen? Der die Völker züchtigt, sollte der nicht strafen, er, der die Menschen Erkenntnis lehrt? Der Herr erkennt die Gedanken der Menschen, dass sie nichtig sind.
1Kor 3,19–20 Denn die Weisheit dieser Welt ist Torheit vor Gott; denn es steht geschrieben: »Er fängt die Weisen in ihrer List«. Und wiederum: »Der Herr kennt die Gedanken der Weisen, dass sie nichtig sind«.
Mt 10,29–30 Verkauft man nicht zwei Sperlinge um einen Groschen? Und doch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Bei euch aber sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt.
1Mose 18,15 Da leugnete Sarah und sprach: Ich habe nicht gelacht!, denn sie fürchtete sich. Er aber sprach: Doch, du hast gelacht!
Ps 56,9 Du zählst, wie oft ich fliehen muss; sammle meine Tränen in deinen Schlauch! Stehen sie nicht in deinem Buch?
Spr 16,2
(Wege des
Menschen)
Alle Wege des Menschen sind rein in seinen Augen, aber der Herr prüft die Geister.
Joh 21,17 [Petrus] Herr, du weißt alle Dinge
2Chr 16,9 Denn die Augen des Herrn durchstreifen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist.
2Kön 6,12 Nicht doch, mein Herr und König; sondern Elisa, der Prophet in Israel, verrät dem König von Israel alles, was du in deiner Schlafkammer redest!
1Joh 3,20 Wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles weiß.
Hebr 4,13 Kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern alles ist enthüllt und aufgedeckt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft zu geben haben.
Röm 11,33 O welche Tiefe des Reichtums sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Gerichte, und wie unausforschlich seine Wege!

Gottes Vorwissen

Gott beansprucht selbst als Kriterium für die Göttlichkeit die Fähigkeit zur Voraussage zukünftiger Ereignisse. Er setzt es zudem als Kriterium für die Erkennung von Propheten fest.

Jes 44,7 Und wer ruft wie ich und verkündigt und tut es mir gleich, seit der Zeit, da ich ein ewiges Volk eingesetzt habe? Ja, was bevorsteht und was kommen wird, das sollen sie doch ankündigen!
5Mose 18,21–22
(Test der Propheten)
Wenn du aber in deinem Herzen sprichst: »Woran können wir das Wort erkennen, das der Herr nicht geredet hat?«, [dann sollst du wissen:]
Wenn der Prophet im Namen des Herrn redet, und jenes Wort geschieht nicht und trifft nicht ein, so ist es ein Wort, das der Herr nicht geredet hat; der Prophet hat aus Vermessenheit geredet, du sollst dich vor ihm nicht fürchten!
Jes 41,21–23 Bringt eure Rechtssache vor, spricht der Herr; schafft eure stärksten Beweisgründe herbei! spricht der König Jakobs. Sie mögen sie herbeischaffen und uns verkünden, was sich ereignen wird! Das Frühere, was ist es? Verkündet es, so wollen wir es bedenken und dessen Ausgang erkennen! Oder laßt uns hören, was kommen wird, verkündet, was künftig geschehen wird, so werden wir erkennen, daß ihr Götter seid!

Gibt es ein Vorauswissen von der Entscheidung freier Geschöpfe?

Zusätzlich prüfen wir: Sieht Gott auch Entscheidungen frei handelnder Geschöpfe voraus? Vorab einige Beispiele mit Nennung der Textstellen.

1Mose 15,16 Sie aber sollen in der vierten Generation wieder hierherkommen; denn das Maß der Sünden der Amoriter ist noch nicht voll.
Ps 139,1–6 Herr, du erforschst mich und kennst mich! Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Du beobachtest mich, ob ich gehe oder liege, und bist vertraut mit allen meinen Wegen; ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht völlig wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar, zu hoch, als dass ich sie fassen könnte!
Hes 38,10 So spricht Gott, der Herr: Ja, es wird geschehen zu jener Zeit, da wird dir allerlei in den Sinn kommen, und du wirst böse Pläne schmieden.
2Mose 3,19 Ich weiß, dass euch der König von Ägypten nicht ziehen lassen wird, auch nicht durch eine starke Hand.
2Kön 8,12 Da sprach Hasael: Warum weint mein Herr? Und er sprach: Weil ich weiß, was für Unheil du den Kindern Israels antun wirst! Du wirst ihre festen Städte mit Feuer verbrennen und ihre junge Mannschaft mit dem Schwert töten und ihre Kindlein zerschmettern und die schwangeren Frauen aufschlitzen!
1Kön 22,17 Ich sah ganz Israel auf den Bergen zerstreut wie Schafe, die keinen Hirten haben; und der Herr sprach: »Diese haben keinen Herrn; ein jeder kehre wieder heim in Frieden!«
2Kön 13,18–19 Und er sprach: Nimm die Pfeile! Und als der sie nahm, sprach er zum König von Israel: Schlage auf die Erde! Da schlug er dreimal und hielt inne. Da wurde der Mann Gottes zornig über ihn und sprach: Wenn du fünf- oder sechsmal geschlagen hättest, dann hättest du die Aramäer bis zur Vernichtung geschlagen; nun aber wirst du die Aramäer nur dreimal schlagen!
Mt 7,22–23 Viele werden an jenem Tag zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen geweissagt und in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wundertaten vollbracht?
Und dann werde ich ihnen bezeugen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Gesetzlosen!
Joh 6,70
(Verrat durch Judas)
Jesus antwortete ihnen: Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und doch ist einer von euch ein Teufel!
Apg 2,23
(Kreuzestod)
Jesus, der nach Gottes festgesetztem Ratschluß und Vorsehung dahingegeben worden war, habt ihr genommen und durch die Hände der Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und getötet.
Röm 8,29 Denn die er zuvor ersehen hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Ebenbild seines Sohnes gleichgestaltet zu werden, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.
1Petr 1,2 … die auserwählt sind gemäß der Vorsehung Gottes, des Vaters, in der Heiligung des Geistes, zum Gehorsam und zur Besprengung mit dem Blut Jesu Christi: Gnade und Friede werde euch mehr und mehr zuteil!

 

Hier sind weitere Beispiele:

1Mose 9,24–27 Zukunft von Noahs Söhnen
1Mose 27,27–29 Prophezeiungen Isaaks über die Zukunft seiner Söhne
1Mose 49 Jakobs Segen über seine 12 Söhne bzw. spätere Stämme
4Mose 23–24 Orakel Bileams über die Zukunft Israels
5Mose 32 Lied Moses bezüglich Zukunft Israels
5Mose 33 Segen Moses bezüglich Zukunft Israels
1Sam 10,1–7 Präzise Ankündigung der Begegnungen auf der Reise Sauls
1Sam 23,12 Möglichkeit Davids in Kehila zu bleiben (locus classicus)
1Kön 13,1–4 Ankündigung der Reform Josias
2Kön 8,12 f. Ankündigung der Greueltaten des syrischen Königs Hasael
Jes 44,20–45,13 Ankündigung der Taten von Cyrus, des späteren persischen Herzens
Jer 1,5 Vorgeburtliche Bestimmung Jeremias zum Dienst
Jer 37 Ankündigung der Entscheide der beiden kriegsführenden Völker Ägypten und Babylonien
Dan 2, 9, 11 Prophezeiungen Daniels über kommende Reiche
Mk 13,32 Tag Gottes nach den freien Taten von Menschen (siehe Vers 1–31)
Mt 24,2 Zerstörung des Tempels durch die Römer
Mt 26,24 Dreimalige Verleugnung Jesu durch Petrus
Joh 21,18–19 Märtyrertod des Petrus

 

„Ihre Handlungen
und Taten folgen logisch und frei ihrem Wesen und doch sind sie letztendlich ein Teil von Gottes Geschichte.“
 

In gewisser Weise lässt sich die Heilsgeschichte Gottes mit der Beschreibung eines Autors vergleichen. Alle Charaktere handeln aufgrund ihrer eigenen internen Überzeugungen, ihrer individuellen Hintergründe und Bedürfnisse. Je mehr der Autor schreibt, desto deutlicher kommt dies zum Vorschein. Ihre Handlungen und Taten folgen logisch und frei ihrem Wesen und doch sind sie letztendlich ein Teil von Gottes Geschichte.

Mögliche Einwände

Einzelne Stellen der Bibel scheinen dem eben aufgestellten Gesamtbild entgegenzustehen. Gott fragt Menschen und testet sie.

1Mose 3,8–9 Gottes Ruf an den Menschen „Wo bist du?“ ist eine didaktische Handlung. Sie betrifft nicht Gottes Vorauswissen.
1Mose 9,15–16 Das Erinnern Gottes hängt nicht mit Unwissen zusammen, sondern ist im Sinne der Einlösung eines Bundesversprechens gemeint.
1Mose 11,5 Dass Gott auf die Erde herabsteigt, ist ein Anthropomorphismus, das heißt eine Angleichung an menschliche Sprache und Ausdrucksweise. Was Gott in Erfahrung bringt, liegt zudem in der Gegenwart, nicht in der Zukunft.
1Mose 18,21 Dies ist eine der wenigen Stellen, die in sich und ohne den breiteren Zusammenhang betrachtet, in eine andere Richtung deuten könnte: Gott spricht davon, nach Sodom und Gomorra „hinabzufahren“ und zu sehen, „ob sie alles getan haben“. Es soll hier jedoch betont werden, dass Gott sich Gewissheit vor Ort beschafft. Dies sagt nichts über Gottes grundsätzliches Wissen aus.
1Mose 22,12 Wiederum geht es um Gottes Gewissheit (analoge Begründung wie in 1Mose 18,21).
5Mose 13,3 Gott testet sein Volk im Wissen um das Resultat.
Jer 7,31 Hier geht es um die Absicht des Herzens, nicht die Präsenz der Idee.
Jer 26,2–3 Erneut testet Gott Antworten von Menschen.

Schlussfolgerung

Aufgrund dieser Einzelbelege und der Gesamtaussage der Heiligen Schrift gelange ich zu folgender Schlussfolgerung.

Gott weiß um alles, was in der Zukunft geschehen wird, denn er hat alles, was passieren wird, vorherbestimmt. Der Mensch verfügt insofern über einen freien Willen, als er gemäß seinen eigenen Wünschen handelt. Aber sowohl diese Wünsche als auch die anschließende Willensbetätigung fallen unter die souveräne, vorzeitliche (ewige) Absicht Gottes.[3]
„Gott weiß alle Dinge zusammen durch einen einfachen, unveränderbaren, ewigen Akt des Verstehens.“
 

Wir gehen noch einen Schritt weiter: Die vielen Zeugnisse über Gottes Wissen bezüglich Zukunft rechtfertigen einige weitere Schlussfolgerungen. Wie es der Westminster Katechismus, Art. 1.6, darlegt, dürfen aus dem Zeugnis der Bibel solche Schlussfolgerungen gezogen werden. Zu welchen Schlussfolgerungen gelangten reformierte Theologen des 17. Jahrhunderts?[4]

Was weiß Gott? (Bénédict Pictet, 1655–1724)

  • Gesamtes Geschehen und Einzelereignisse
  • Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
  • Dinge, die weder sind, waren, noch sein werden
  • Dinge, die notwendig und bedingt (contigent), gemacht und gedacht, vom umfassendsten bis zum kleinsten

Wie unterscheiden sich das Wissen Gottes und das Wissen der Menschen? (Leonard van Rijssen, 1636–1695)

  • In seinen Objekten (Gott kennt sämtliche)
  • In seiner Art und Weise (Gott kennt sie gemäß seinem eigenen Wesen)
  • In seiner Ausprägung (Gott kennt sie vollkommen)

In welcher Zeit weiß Gott um Dinge? (Edward Leigh, 1602–1671)

Wir verstehen Dinge in einer Reihenfolge; wir schreiten vom Unwissenden zum Wissenden, vom weniger Bekannten zum Bekannten. Gott weiß alle Dinge zusammen durch einen einfachen, unveränderbaren, ewigen Akt des Verstehens.

Gottes Souveränität und der menschliche Wille

Im ersten Teil haben wir festgestellt, dass Gott die Zukunft vollständig vorhersieht, und dies unter Beteiligung frei handelnder Menschen. Sam Storms schreibt ja im zweiten Teil seiner Definition: „Der Mensch verfügt insofern über einen freien Willen, als er gemäß seinen eigenen Wünschen handelt. Aber sowohl diese Wünsche als auch die anschließende Willensbetätigung fallen unter die souveräne, vor-zeitliche (ewige) Absicht Gottes.“

Das bringt uns zu einem zweiten Aspekt von Gottes Wesen, nämlich seinem Willen. Ich kann dieses weitläufige Thema nicht umfassend abhandeln und beschränke mich daher auf zwei Aspekte:

  1. den Abriss über das biblische Zeugnis der Souveränität Gottes
  2. den scheinbaren Widerspruch zwischen der Souveränität Gottes und dem menschlichen Willen

Das biblische Zeugnis der Souveränität Gottes

John Frame nimmt in den zwei Kapiteln über Gottes Vorsehung eine beeindruckende Zusammenschau der biblischen Lehre vor (in Systematic Theology, S. 141–183).

Sein Plan kommt zustande (efficacy)

Nichts ist zu schwierig für Gott (Jer 32,27), nichts zu wunderbar (Sach 8,6), nichts unmöglich (1Mose18,14; Mt 19,26; Lk 1,37). Sein Plan kommt stets zustande, z. B. gegen Assyrien:

Der Herr der Heerscharen hat geschworen und gesagt: Fürwahr, es soll geschehen, wie ich es mir vorgenommen habe, und es soll zustandekommen, wie ich es beschlossen habe: Ich will den Assyrer zerschmettern in meinem Land, und ich will ihn zertreten auf meinen Bergen; so wird sein Joch von ihnen genommen werden und seine Last von ihren Schultern fallen. Das ist der Ratschluß, der beschlossen ist über die ganze Erde, und dies ist die Hand, die ausgestreckt ist über alle Völker! Denn der Herr der Heerscharen hat es beschlossen — wer will es vereiteln? Seine Hand ist ausgestreckt — wer will sie abwenden?
(Jes 14,24–27; vgl. Hiob 42,2; Jer 23,20)

Sein Wort kehrt nicht leer zurück (Jes 55,11; Sach 1,6). Kein Rat kann gegen ihn bestehen bleiben (Spr 21,30; auch 16,9; 19,21). Gott erreicht stets seine Absicht.

Ich verkündige von Anfang an das Ende, und von der Vorzeit her, was noch nicht geschehen ist. Ich sage: Mein Ratschluß soll zustandekommen, und alles, was mir gefällt, werde ich vollbringen
(Jes 46,10; vgl. Dan 4,35; Mt 11,25 f.; Eph 1,4.9).
„So wie ein Töpfer den Ton formt, bestimmt Gott über den Menschen.“
 

So wie ein Töpfer den Ton formt, bestimmt Gott über den Menschen (Jes 29,16; 45,9; 64,8; Jer 18–10; Röm 9,19–24). Sünder widerstehen ihm zwar (Jes 65,12; Mt 23,37–39; Lk 7,30; Ag 7,51; Eph 4,30; 1Thess 5,19; Hebr 4,2; 12,25), können aber nicht gegen ihn ankommen.

Der Ratschluss des Herrn bleibt ewig bestehen, die Gedanken seines Herzens von Geschlecht zu Geschlecht. (Ps 33,11)

Aber unser Gott ist im Himmel; er tut alles, was ihm wohlgefällt. (Ps 115,3)

Alles, was dem Herrn wohlgefällt, das tut er, im Himmel und auf Erden, in den Meeren und in allen Tiefen. (Ps 135,6)

Ja, von jeher bin ich derselbe, und niemand kann aus meiner Hand erretten. Ich wirke — wer will es abwenden? (Jes 43,13)

Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der den Schlüssel Davids hat, der öffnet, so dass niemand zuschließt, und zuschließt, so dass niemand öffnet. (Offb 3,7)

... in der ganzen Welt

a) durch Naturereignisse

Gott hat den ganzen Kosmos geschaffen (1Mose 1; 2Mose 20,11; Ps 33,6.9; 95,3–5; 146,5 f.; Jer 10,12; 51,15–16; Apg 17,24; Kol 1,16). Die Ereignisse der natürlichen Welt werden Gott zugeschrieben (Ps 65,9–11; 135,5–7; 147,15–18). Gott lässt nicht nur zu, dass Ereignisse geschehen, er bringt sie selbst hervor (makes them happen). Selbst zufällige Ereignisse wie Losentscheide sind miteingeschlossen (Spr 16,33). Naturereignisse als Gerichte sind genau zugemessen (2Mose 9,13–26; Am 4,7; 1Mose 41,28–32). Die Kontrolle besteht selbst über die kleinsten Details von Mensch und Schöpfung (Mt 5,45; 6,26–27; Mt 10,29 f.; Lk 12,4–7).

b) in der menschlichen Geschichte

Gott teilt den Völkern Grenzen zu (Apg 17,26). Er ist nicht nur der Gott Israels, sondern der ganzen Erde (Ps 2,6–12; 47,1–9; 95,3; 1Mose 18,25). Sein Wirken lässt sich durch die gesamte Heilsgeschichte verfolgen:

  • Gott führt Josephs Leben (1Mose 41,16.28.32; 45,5–8; 50,20).
  • Er bringt Israel ins Land (2Mose 23,27; 5Mose 2,25; 1Mose 35,5; Jos 21,44 f.).
  • Er bewahrt sein Volk vor Angriffen (Mi 4,12; Spr 21,31), er gewährt Sieg (5Mose 20; Ri 7,1–8; 1Sam 14,6).
  • Das Ergebnis von Kriegen liegt stets in Gottes Hand (5Mose 3,22; Jos 24,11; 1Sam 17,47; 2Chr 20,15; Sach 4,6).
  • Gott braucht Völker als Instrumente zur Züchtigung Israels und richtet diese später selbst (Jes 10,5–12; 14,24 f.; 37,26; Hab 1,6–11).
  • Gott schickt sein Volk ins Exil (Jer 29,11–14). Später zerstören die Meder die Babylonier (Jer 51,11). Er setzt Könige ein und wieder ab (Dan 2,21).
  • Durch Gottes Anordnung schickt der Perserkönig einen Überrest Judas zurück ins Land (Jes 44,28; 45,1–13; Esra 1,1).
  • Durch Gottes Ratschluss wird Jesus ans Kreuz gebracht (Apg 2,23–24; vgl. 3,18; 4,27 f.; 13,27).
  • Judas schreckliche Handlung ist, obwohl er selbst die Verantwortung trägt, festgelegt (Lk 22,22).
  • Der Tod Jesu geschah zur bestimmten Stunde (Joh 2,4; 7,6.30.44; 8,20; 12,23.27; 13,1; 16,21; 17,1).
  • Gott erweckte Jesus von den Toten und schickt die Gemeinde an seiner Stelle in die ganze Welt (Mt 28,19 f.; Apg 1,8).
  • Gott ordnete an, dass wenige Juden und viele Heiden glauben würden (Röm 9–11).
  • Gott kündigte an, dass Paulus viel leiden würde (Apg 9,16.23; 21,10 f.).

Paulus bricht angesichts von Gottes Weisheit in seiner Heilsgeschichte in Jubel aus (Röm 11,33–36).

c) im einzelnen menschlichen Leben

  • Gott erwählte die Seinen vor Grundlegung der Welt (Eph 1,4).
  • Die Kontrolle beginnt vor der Geburt (Jer 1,5).
  • Die gesamte menschliche Fortpflanzung steht unter Gottes Kontrolle (1Mose 4,1.25; 18,13 f.; 25,21; 29,31–30,2; 5Mose 10,22; Rut 4,13; Ps 113,9; 127,3–5).
  • Gott ist aktiv während und nach der Zeugung (Ps 139,13–16).
  • Auch nach der Geburt bleibt das Leben in Gottes Hand (2Mose 21,12 f.).
  • Naomi sah das Leben ihrer Söhne in Gottes Hand (Rut 1,13).
  • Hanna realisiert: Gott tötet und macht lebendig (1Sam 2,6 f.).
  • Die Unterschiede der Begabungen kommen aus Gottes Hand (Röm 12,3–6; 1Kor 4,7; 12,4–6).
  • Selbst die Tagespläne stehen in Gottes Hand (Jak 4,13–16).

d) in menschlichen Entscheidungen

Hier können nochmals erwähnt werden: Josefs Brüder (1Mose 45,5–8); Kyrus (Jes 44,28); Judas (Lk 22,22). Gottes Absicht verhindert menschliche Absichten: Josef kann nicht getötet werden; Goliath kann David nicht töten; Jeremia nicht im Mutterleib sterben.

Das menschliche Herz plant, Gott lenkt die Schritte (Spr 16,9; 21,1 in Bezug auf Könige). Gott lenkt die Herzen aller Menschen (Ps 33,15).

  • Gott gab den Israeliten Gunst in den Augen der Ägypter (2Mose 12,26).
  • Gott ordnete an, dass die Israeliten nicht angegriffen werden, wenn sie zum Tempel gehen (2Mose 34,24).
  • Gott setzte Schwert gegen Schwert der Feinde Israels (Ri 7,22).
  • Er war es auch, der Daniel Gnade vor seinem Aufseher gab (Dan 1,9).
  • Er kehrte die Meinung des Königs von Assyrien (Esra 6,22).
  • Die Evangelien erzählen uns ein übers andere Mal, dass sich Dinge ereigneten, damit die Schrift erfüllt wurde.
  • Gott sieht Handlungen nicht nur voraus, sondern er erfüllt in ihnen seine eigenen Absichten (griech. dei, Mt 16,21; 24,6; Mk 8,31; 9,11; 13,7.10.14; Lk 9,22; 17,25; 24,26).

e) durch Sünde

Seine Anordnungen betreffen sogar sündige Handlungen – auch wenn das sündige menschliche Herz (Jer 17,9) sie frei wählt. Gott verhärtete das Herz des Pharao (2Mose 4,21; 7,3.13; 9,12; 10,1.20.27; 11,10; 14,4.8; parallel steht: Er verhärtete sein Herz selbst.) Gott warnt, bevor er verhärtet (Ps 95,7 f.). Gott verhärtete Sihon, als Israel Durchlass begehrte (5Mose 2,30; siehe auch Jos 11,18–20; 1Sam 2,25; 2Chr 25,20). Gott schickte Saul einen bösen Geist (1Sam 16,14) und Ahab falsche Propheten (1Kön 22,20–23). Gott verhärtete das Herz seines Volkes und ihrer bösen Könige (Jes 6,9 f.; 63,17; 64,7). Er veranlasste die Heirat Simsons mit einer Philisterin (Ri 14,4), wie er auch David zur Sünde der Volkszählung reizte (2Sam 24,1). Rehabeam wurde abgehalten auf weisen Rat zu hören, weil die Teilung Israels von Gott beschlossen war (1Kön 12,15).

Die Juden wurden angesichts von Jesu Dienst verhärtet (Mt 13,14 f.; Joh 12,40). Paulus und Petrus sprechen in ähnlicher Weise von ihrem Dienst (2Kor 2,15; 1Petr 2,6–8). Gottes Wort bringt Heil und Erlösung, aber in einigen Fällen auch Dunkelheit und Unglaube (Röm 11,7 f.). Vor den Juden (Röm 9,22–26; 11,11–16.25–32) verhärtete er die Heiden (Röm 1,19–28). Der Kulminationspunkt von Gottes Souveränität über die Sünde war das Erzverbrechen der Menschen, die Kreuzigung Jesu (Apg 2,23; 4,28; 13,27).

f) durch das Bewirken von Glaube und Erlösung

„Es gibt eine menschliche Ent-scheidung, Christus anzunehmen. Diese Wahl kann jedoch nie die Ursache für Gottes Wahl sein, sondern nur ihre Folge.“
 

Die Erlösung gehört dem Herrn (Jona 2,9). Ohne seine Erlösung sind wir ohne Hoffnung in der Welt, tot in unseren Übertretungen (Eph 2,1–10.12). Die Erlösung ist Gottes Werk (Eph 1,4–6; 2Tim 1,9), sie geschieht durch seine Anordnung (1Thess 1,4; 5,9; 2Thess 2,13 f.). Es gibt eine menschliche Entscheidung, Christus anzunehmen (Joh 1,12; 3,15 f.; 6,29.40; 11,26). Diese Wahl kann jedoch nie die Ursache für Gottes Wahl sein, sondern nur ihre Folge. Wie kann die Erlösung das einzige Ereignis außerhalb der göttlichen Kontrolle sein? Undenkbar! Die menschliche Antwort ist Gottes Geschenk (Joh 6,37.44,65; Röm 8,15; Apg 16,14; 13,48 vgl. 11,21.23; 18,27). Buße ist Gottes Werk in uns (Apg 5,31; 11,18; 2Tim 2,25). Gottes Ruf zur Einheit in Christus kommt zustande (Röm 1,6 f.; 8,30; 11,29; 1Kor 1,2.9.24.26; 2Thess 2,13 f.; Hebr 3,1; 2Petr 1,10). Auch unser geistliches Verständnis ist ein göttliches Geschenk (Mt 11,25–27; 1Joh 5,20; 2,20.27). Die Kraft der Verkündigung kommt durch das Wort Gottes (1Kor 2,4 f.; 1Thess 1,5; 1Thess 2,14). Gott beschneidet und wechselt unsere Herzen aus (5Mose 30,6; Jer 31,31–34; Hes 11,19; 36,26; Tit 3,4–7; 2Kor 5,17). Auch unser weiterer Gehorsam hängt ganz von Jesus ab. Ohne ihn können wir nichts tun (Joh 15,5). Ohne Gottes Gnade bleiben wir in der Sünde (Eph 2,1; Röm 7,18; 8,6–8); er bewirkt Wollen und Vollbringen (Phil 2,13).

Schlussfolgerung

Nichts ist wichtiger, speziell bei dieser Stelle in der Geschichte der Theologie, als das Volk Gottes zu überzeugen, dass die Schrift Gottes unwiderstehliche, universelle Kontrolle über die Welt lehrt, und das an allen Ecken und Enden! Was er spricht, kommt zustande (Kgl 3,37 f.). Die Zuversicht, dass Gott alle Dinge führt, endet im großen Lied: Nichts kann uns von ihm trennen (Röm 8,38 f.). Alles Geschehen zielt auf die Verwirklichung seines Ratschlusses (Eph 1,11).

Gottes Engagement in dieser Welt ist dreifach (vgl. Röm 11,36):

  • Er ist Schöpfer (alles ist „von ihm“),
  • Herrscher (besteht „durch ihn“)
  • und letztes Ziel (existiert „für ihn“).

Der menschliche Wille: Eine Präzisierung

Kommen wir zurück zum Thema des Willens. Ich glaube, dass Greg Forster eine wesentliche Klärung vornimmt.[5] Der Calvinist lehrt nicht, dass wir keinen freien Willen hätten. (Ich betrachte die Ausdrucksweise „freier Wille“ übrigens für so vorbelastet, dass sie automatisch zu falschen Überlegungen führt.) Dem Willen des Menschen wird keine Gewalt angetan. Die Reformatoren verstanden diesen Begriff im Übrigen anders als wir heute. Sie setzten den freien in Gegensatz zum versklavten (nicht jedoch determinierten) Willen. Obige Ausführungen sprechen nie und nimmer gegen Selbstkontrolle oder die moralische Verantwortlichkeit des Menschen.

Im letzten Kapitel seines Buches über die Prinzipien der Psychologie schreibt Herman Bavinck über den menschlichen Willen. Er unterscheidet drei verschiedene Definitionen, die alle mit der Macht über sich selbst zu tun haben:[6]

  1. den Willen bzw. Nichtwillen etwas zu tun
  2. die Wahl zwischen verschiedenen Optionen
  3. die Wahl zwischen zwei oder mehreren Möglichkeiten, die einander entgegenstehen (ethische Entscheidungen). Wichtig ist insbesondere die Unterscheidung zwischen dem Willen, geistlich Gutes oder aber Gutes im ordentlichen Sinn des sozialen Lebens zu tun (153).

Die große Frage lautet: Wie steht die menschliche Willensfreiheit zu Gottes Vorherwissen und – Bestimmung? Bavinck betont, dass die Reformation jeglichen Zwang ausschloss, nicht aber die Notwendigkeit (153). Von Gottes Seite aus bleibt alles geplant, sogar die Sünde, denn es entzieht sich nichts seiner Kontrolle (154). Es gibt zwei Denkschulen, welche die Spannung aufzulösen versuchen: Während die einen den freien Willen proklamieren, sehen die Deterministen eine ungebrochene Ursache-/Wirkungskette. Beide Seiten nehmen wichtige Argumente für sich in Anspruch (155). Wo steht Bavinck?

„Die menschliche Freiheit ist deshalb weder willkürliche Entscheidung noch unumgänglicher Zwang, sondern
eine ‚rationale Selbstfestlegung‘.“

Der Theismus, so die Schlussfolgerung, der die Schöpfer-/Geschöpf-Unterscheidung aufrecht hält, löst das Problem des freien Willens nicht auf. Der Akt des Willens ist weder Syllogismus noch Metabolismus des Gehirns (160). Die Sphäre der ethischen Entscheidungen wird jedoch von eigenen, übergeordneten menschlichen Reaktionen wie Schuld, Verantwortung, Verdienst, Bestrafung etc. regiert. Den Indeterminismus gibt es nicht, und der Mensch bleibt dennoch frei.In der ihm typischen Weise gesteht Bavinck beiden Seiten legitime Anliegen zu. Der Wille des Menschen bleibt all seinen Motiven zum Trotz frei. Deutlich wird das z. B. am Verantwortungs-, Schuld- und Reuegefühl, das der Mensch zeigt. Im Wollen ist immer eine konkrete Person involviert, ebenso ihr Verständnis (156). Auf der anderen Seite tun die Vertreter eines freien Willens so, als ob es Freiheit gäbe alles zu tun, was immer der Wille auszuführen wünsche. Auf diese Weise wird der Wille von der Person und vom Kontext losgelöst, was pure Abstraktion und fern von der Realität ist (157). Wenn der Mensch sagen könnte „Ich will es einfach“, dann würde er zum Schöpfer und Gott aufsteigen (158). Erziehung, Charakter und moralische Entwicklung würden so unmöglich werden. Bavinck sieht aber auch einen großen Unterschied zwischen dem physischen, monistischen Determinismus des Islam und dem Prädestinationsverständnis von Calvin. Ersterer wird durch die alltägliche Erfahrung ebenfalls widerlegt: Die meisten Sünden geschehen nämlich wider besseres Wissen (159).

Die menschliche Freiheit ist deshalb weder willkürliche Entscheidung noch unumgänglicher Zwang, sondern eine „rationale Selbstfestlegung“ (160). Die Liebe beispielsweise ist die höchste Form des Willens, eine ernsthafte, andauernde Richtung des Willens, die Gutes ansteuert. Oder in einem negativen Beispiel ausgedrückt: Der Alkoholiker weiß genau, dass es besser wäre nicht zu trinken; aber die Lust ist stärker als alle anderen Motive. Die Entscheidung des Willens ist offenbar das Resultat einer Reihe von Einsichten, Argumenten, Kräften, Wünschen und Leidenschaften (163). Der Mensch kann niemanden sonst beschuldigen, er ist das Subjekt seiner Taten. Wer sündigt, ist ein Sklave der Sünde. Wo Gottes Ordnung übertreten wird, entstehen Schuldgefühle. Verloren gegangen ist der Wille, das wahrhaft Gute zu tun (164).

Bavincks Schluss des Buches ist bemerkenswert. Er sieht Allwissen, Prädestination und Vorauswissen als Basis und Grund der menschlichen Freiheit. Freiheit spiegelt etwas von Souveränität wider. Es ist Teil der Imago Dei. Sogar die Freiheit, von der der Mensch Gebrauch macht, um zu sündigen, ist immer noch ein Schatten seiner von Gott verliehenen Souveränität (165).


Literaturhinweise

Für ein weiterführendes Studium empfohlen, allerdings nur in englischer Sprache:

Paul Helm. Bruce A. Ware. Roger Olson. Perspectives on the Doctrine of God: Four Views, B & H Publishing, 2008. (Im vorliegenden Artikel wird die Sichtweise von Paul Helm vertreten.)

Justin Taylor. John Piper. Beyond the Bounds, Crossway, 2008. (umfassende Aufsatzsammlung von namhaften evangelikalen Autoren, freier Download)

John M. Frame. No Other God. P & R, 2001. (ausführliche Monografie)

Steven C. Roy. How Much Does God Foreknow?: A Comprehensive Biblical Study. IVP, 2006. (ausführliche Dissertation)


[1]  Sam Storms, Open Theism, http://www.samstorms.com/all-articles/post/open-theism---part-i (05.12.2014). Die dreiteilige Artikelserie ist dem englischsprachigen Leser sehr zu empfehlen. Ich bin mir bewusst, dass Vertreter des OP diese These mit der Begründung ablehnen würden, sie beschreibe gar nicht deren Verständnis und ziele deshalb an der Kernfrage vorbei. Siehe z. B. Greg Boyd. „Do you deny that God knows the future? This is the most common misconception regarding Open Theism. I believe God knows everything, including the past, present and future. But I also believe the future is different from the past in that the future contains possibilities while the past is irrevocably settled. So I hold that, precisely because God’s knowledge is perfect, God knows the future exactly as it is – that is, as containing possibilities. Some things about the future are “maybes,” and God knows them as such.” http://reknew.org/about/faq/ (19.12.2014). Mir scheint jedoch, dass die Diskussion, auch wenn sie über die Argumentationslinie „Einschränkung der Kontrolle Gottes zugunsten der Willensfreiheit des Menschen“ verläuft, vom biblischen Zeugnis des göttlichen Vorherwissens übersteuert wird. Zum Thema des göttlichen und menschlichen Willens komme ich im zweiten Teil zu sprechen.

[2]  Für die Aufstellung griff ich auf John M. Frame, Systematic Theology. P & R: Philippsburg, 2013, zurück. Frame ist in der Gottesfrage zu Hause; bei den Literaturempfehlungen habe ich auf seine Monografie zum Thema verwiesen.

[3]  Siehe Sam Storms, ebd.

[4]  Ich konnte enorm von den Ausführungen in Richard A. Muller. Post-Reformation Reformed Dogmatics. Vol. 3. Baker: Grand Rapids, 2003, S. 397ff, profitieren.

[5]  Greg Forster. The Joy of Calvinism: Knowing God’s Personal, Unconditional, Irresistible, Unbreakable Love. Crossways: Wheaton, 2012.

[6]  Herman Bavinck. Jack Vanden Born (trans.) Herman Bavinck’s Foundations of Psychology. Calvin College: Grand Rapids 1981. S. 152.