Warum wir keine Jüngerschaft leben

Artikel von Barry Cooper
18. Mai 2021 — 7 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist Teil einer Artikelreihe zum Thema „Jüngerschaft“ und beleuchtet verschiedene Gründe, warum in unseren Gemeinden keine Jüngerschaft stattfindet.

Vor einigen Jahren wurde John Stott von Christianity Today gebeten, das Wachstum der evangelischen Gemeinden zu bewerten. Seine Antwort war:

„Wachstum ohne Tiefe“. Niemand von uns wird bestreiten wollen, dass die Gemeinde weltweit außergewöhnlich stark gewachsen ist. Doch es handelte sich größtenteils um ein Wachstum, das in Zahlen und Statistiken ausgedrückt werden kann. Gleichzeitig fehlte es an Wachstum in der Jüngerschaft, das mit dem Wachstum in Zahlen vergleichbar wäre.

Leider entspricht diese Aussage auch heute noch der Wahrheit. Auch wenn sich unser Wachstum so weit erstreckt wie das Meer, ähnelt seine Tiefe höchstens der einer Pfütze. Wieso ist das so? Was läuft falsch? In den folgenden Artikeln werde ich einige Gründe dafür nennen, warum wir keine Jüngerschaft betreiben – oder zumindest nicht sehr gut darin sind.

Doch erst müssen wir herausfinden, was die Bibel über Jüngerschaft sagt. Es gibt viele Verse dazu, doch den wichtigsten finden wir in Matthäus 28,18–20:

„Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mit ist gegeben alle Macht im Himmel und auf Erden. So geht nun hin und macht zu Jüngern alle Völker, und tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehrt sie alles halten, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit! Amen.“

Es entsteht jetzt die Frage, ob dieser Auftrag („geht nun hin und macht zu Jüngern…“) nur den elf Aposteln galt, zu denen Jesus gesprochen hatte, oder ob er auf alle Jünger in Christus anzuwenden ist.

„Es ist ein Auftrag, der Jüngerschaft zu einem wichtigen Punkt auf der Agenda und zu einer Priorität jeder Gemeinde und jedes christlichen Jüngers macht.“
 

Einige Übersetzungen dieser Verse vermitteln den Eindruck, dass „geht hin“ der Schwerpunkt des Auftrags ist – so wurde der Vers zum Auslöser der modernen Missionsbewegung. Doch das Hauptverb des Satzes ist „macht zu Jüngern“. Ein Ausleger beschreibt es folgendermaßen: „Bei Jesu Auftrag geht es hier grundsätzlich nicht um die Mission in einem anderen Land. Es ist ein Auftrag, der Jüngerschaft zu einem wichtigen Punkt auf der Agenda und zu einer Priorität jeder Gemeinde und jedes christlichen Jüngers macht.“

D.A. Carson zieht den gleichen Schluss:

„Der Aufruf gilt mindestens den Elfen, aber den Elfen in ihrer eigenen Rolle als Jünger. Deshalb richten sich diese Paradigmen an alle Jünger… Es ist für alle Jünger Jesu verbindlich, andere zu dem zu machen, was sie selbst sind – Jünger Jesu Christi“.

Das bringt mich zu einer unangenehmen Frage: Wenn der Herr Jesus selbst jeden Christen dazu aufgefordert hat, „zu Jüngern zu machen“, wieso tun wir es dann nicht? Was hält Gemeinden davon ab, eine wachsende Gemeinschaft von Menschen zu sein, die andere zu Jüngern macht?

Ich sehe dafür fünf mögliche Gründe – einen ersten führe ich in diesem Artikel auf. Die vier weiteren folgen in zukünftigen Beiträgen.

Wir leben keine Jüngerschaft, weil wir „billige Gnade“ predigen

Dietrich Bonhoeffer definierte billige Gnade folgendermaßen: „Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße, ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus“ (Nachfolge, S. 5–6).

Was hören die Menschen, wenn das Evangelium in deiner Gemeinde gepredigt wird? Hören sie so etwas wie: „Natürlich hast du gesündigt. Aber jetzt wurde dir alles vergeben. Jesus hat den Preis für deine Sünde bezahlt. Also brauchst du selbst nichts mehr zu machen“?

So weit, so gut. Doch das geht noch nicht tief genug. Das Problem ist, dass diese Art von Evangelium keine Aufforderung zur Jüngerschaft beinhaltet. Es ist keine Umkehr erforderlich. Kein Bedarf an Heiligung besteht. Steht das nicht im Widerspruch zu Jesus' Aussage in Markus 8,34: „Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“?

Man sagt, Gnade kostet nichts – doch das macht sie nicht billig. Sie hat Jesus das Leben gekostet. Und sie wird uns auch unser Leben kosten, wenn wir ihm nachfolgen wollen. Auch wenn die Einladung allen gilt, werden nur die, die Jesu Aufforderung – verleugne dich selbst und nehme dein Kreuz auf dich – folgen, sie auch annehmen können.

Lehren wir diese Art von Evangelium in unseren Gemeinden? Beinhaltet unsere Lehre die Notwendigkeit der Jüngerschaft? Oder umgehen wir Markus 8,34 und schieben es in das Kleingedruckte, in der Hoffnung, dass es nicht bemerkt wird, bevor man auf der gepunkteten Linie unterschrieben hat? Mindern wir den Preis der Jüngerschaft in der Erwartung, dass mehr Menschen sie uns abkaufen?

Eine andere, ähnliche Frage: Beschreiben wir Gottes Liebe als „bedingungslos“? Wenn wir das tun, dann tragen wir unwissentlich zum Problem der billigen Gnade bei. Denn in gewisser Weise ist Gottes Liebe überhaupt nicht bedingungslos. David Powlison sagt dazu:

„Auch wenn es wahr ist, dass Gottes Liebe nicht von dem abhängt, was du tust, hängt es doch sehr davon ab, was Jesus für dich getan hat. In diesem Sinne ist Gottes Liebe nicht bedingungslos. Sie hat Jesus das Leben gekostet“ (God’s Love: Better than Unconditional, S. 11).

Wenn wir nicht lehren, dass Gottes Liebe an eine „Bedingung“ geknüpft ist, werden wir nur eine billige Gnade anbieten können. Gnade, die keinen radikalen Gehorsam erfordert, sondern nur ein schläfriges Nicken. Gnade, die nichts bewegen, sondern nur beruhigen kann.

„Es ist eine Sache, ein Gebet nachzusprechen, aber eine andere, ganz umzukehren und zu glauben.“
 

Gnade ist nicht an eine klassische Bedingung geknüpft („Wenn du mir gehorchst, dann liebe ich dich“). Sie ist aber auch nicht bedingungslos („Ich liebe dich, egal, ob du mir gehorchst“). Sie ist kontra-konditional („Ich liebe dich, obwohl du mir nicht gehorcht hast, denn mein Sohn tat es“). Und der Gehorsam des Sohnes in unserem Namen bewegt uns dazu, zu lieben und zu gehorchen. Jesus drückt es so aus: „Liebt ihr mich, so haltet ihr meine Gebote!“ (Joh 14,15).

Ich befürchte, dass unser evangelistischer Wunsch, Menschen zu einer „Entscheidung“ zu bringen, viele dieser „Entscheidungen“ bedeutungslos gemacht hat. Es ist eine Sache, ein Gebet nachzusprechen, aber eine andere, ganz umzukehren und zu glauben. Es ist viel einfacher, auf dem ausgetretenen Pfad zu gehen als auf der Straße nach Golgatha.

Wie kann Gnade wieder an „Wert“ gewinnen?

Was können wir also tun, um die Gnade, vorsichtig ausgedrückt, wieder „wertvoller“ machen?

Erstens: Beim Predigen des Evangeliums sind wir mitunter dazu verleitet, uns ausschließlich auf die Identität und Mission Christi zu konzentrieren („Jesus ist der Sohn Gottes und er ist für Sünder wie dich gestorben“). Doch wir müssen auch von seinem Auftrag predigen: „Wer mir nachkommen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“ (Markus 8,34).

Es sollte jedem in der Gemeinde klar sein: Ein Christ demonstriert seinen Glauben, indem er sich selbst verleugnet und sein Kreuz auf sich nimmt. Das bedeutet, dass wir bei unserer Evangeliumspredigt nicht vergessen dürfen, wie Jesus selbst das Evangelium predigte: Er rief die Menschen dazu auf, sowohl Buße zu tun, als auch zu glauben (Markus 1,15). Diese beiden Dinge sind untrennbar miteinander verbunden. Wir dürfen in unserer Predigt niemals einen Keil zwischen sie treiben, so als ob „Glaube“ unbedingt notwendig ist, um Christ zu werden, und „Umkehr“ nur ein optionales Extra für die wirklich frommen Christen ist. Diese beiden Dinge sind nicht verhandelbar.

Zweitens: Wenn Leute fragen, wie sie wissen können, dass sie wirklich in Christus sind, sollten wir sie nicht auf ein bestimmtes Gebet oder einen Gang zur Kanzel verweisen. Der biblische Grund unserer Gewissheit ist unser Gang auf der Straße nach Golgatha, auf der wir sowohl das Kreuz der Schande als auch die Früchte der Buße tragen (Mt. 3,8).

Billige Gnade ist einfacher „zu verkaufen“. Sie kann dazu beitragen, unsere Gemeinden zu füllen. Aber wir werden sehen, dass sie sich mit Menschen füllen werden, die keine Schüler sind und kein Interesse daran haben, welche zu sein, oder die keine Lust haben, anderen etwas beizubringen. Wir werden eine Kultur schaffen, in der Jüngerschaft mehr oder weniger irrelevant ist.