Ist das Buch Jakobus wirklich christlich?

Artikel von Michael Kruger
15. Mai 2021 — 6 Min Lesedauer

Im Neuen Testament gibt es viele Bücher. Wir glauben, dass ein jedes davon göttlich inspiriert ist. Und doch lesen wir manche von ihnen mehr und andere weniger. Das Lesemuster der meisten von uns ist sehr unausgeglichen und konzentriert sich hauptsächlich auf die Paulusbriefe (insbesondere Römer und Galater) und die Evangelien (allen voran Johannes). In der Tat werden einige Bücher (wie z.B. 3. Johannes) kaum gelesen.

Diese Tendenz wirft die spannende Frage auf, warum bestimmte Bücher überhaupt in das Neue Testament aufgenommen worden sind. Welchen Zweck erfüllen diese weniger bekannten Bücher? Diese Frage ist besonders in Bezug auf das Buch Jakobus interessant. Obwohl bereits 500 Jahre, nachdem Luther es als „stroherne Epistel“ bezeichnete, ins Land gezogen sind, haben sich die Zweifel an seinem Wert nie ganz verflüchtigt.

„Natürlich werden selbst Gläubige dem perfekten Standard des Gesetzes keineswegs gerecht. Aber durch Christus ist das Gesetz kein Feind mehr; es ist ein Freund.“
 

Es überrascht uns dabei nicht, dass diese Skepsis unter theologisch liberalen Gelehrten anhält – Martin Dibelius, zum Beispiel, hat einmal beteuert, dass Jakobus „keine Theologie“ habe. Aber auch unter Evangelikalen halten sich hartnäckige Zweifel – wenn auch auf subtilere Weise. Manchmal scheint das Buch Jakobus einfach nicht sehr christlichzu sein. Es spricht nicht viel über Jesus (sein Name kommt nur zweimal vor), und es geht hauptsächlich um Moral – eine Reihe von Dos und Don‘ts.

Um es ganz einfach zu sagen: Das Buch Jakobus klingt so nach Gesetz, während wir als Evangelikale doch darauf getrimmt sind, dass wir über allem das Evangelium brauchen. Da klingt der Jakobusbrief für uns fast wie ein unangemessenes Überbleibsel aus der Zeit des Alten Testaments.

Diese Skepsis gegenüber Jakobus ist bedauerlicherweise aus einer Fehldeutung sowohl der alttestamentlichen als auch der neutestamentlichen Zeit entstanden. Wir wollen auf beides kurz eingehen.

Gnade im Alten Testament

Hinter dieser Kritik an Jakobus verbirgt sich eine tief verwurzelte Wahrnehmung, die in weiten Teilen des amerikanischen Evangelikalismus (und nicht weniger bei dem „durchschnittlichen“ deutschen Christen) immer noch vorherrscht, nämlich dass die Epoche des Alten Testaments in erster Linie vom Moralismus bestimmt gewesen sei. Der Alte Bund wird dabei als ein strenger und legalistischer Vertrag gesehen, bei dem der Mensch im Wesentlichen durch Werke gerettet werde. Nicht das Herz, sondern lediglich äußere Rituale stünden im Fokus der alttestamentlichen Ordnung. Wenn nun Jakobus so klingt wie dieses Alte Testament, lassen wir besser die Finger davon.

„Neben den Pharisäern gibt es noch andere Bedrohungen für die Gemeinde. Deshalb brauchen wir das Buch Jakobus in unseren Bibeln. Jakobus erinnert uns daran, dass Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit eine Gemeinde zerstören können.“
 

Wie bei den meisten Karikaturen gibt es hier einen gewissen Wahrheitsgehalt. Sicherlich konzentrierte sich der Alte Bund auf Rituale – er war voller sichtbarer Typologien und Schattenbilder. Es ist auch wahr, dass die Ordnung des Alten Bundes eine starke gesetzliche Seite hatte, in der die Zehn Gebote im Mittelpunkt standen.

In dieser Karikatur wird jedoch übersehen, dass der Alte Bund letztendlich eine Vereinbarung voller Gnade war, bei der die Menschen nicht durch ihre Werke gerettet wurden, sondern durch das vollständig ausreichende Wirken des Erlösers, der kommen würde. Als Gott das Gesetz gab, erinnerte er sein Volk zuerst an den Kontext von Gnade und Erlösung: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten [...] geführt habe” (Ex 20,2).

Ein Grund dafür, dass Menschen die Natur des Alten Bundes missverstehen, liegt an der Auffassung, dass die Pharisäer – denen Jesus oft entgegen trat – die Ideale des Alten Bundes verkörperten. Daher meinen wir, dass Jesus gegen den Alten Bund selbst gekämpft haben müsse. Ein genauerer Blick auf wichtige Passagen wie die Bergpredigt zeigt jedoch, dass Jesus nicht gegen den Alten Bund war, sondern gegen die pharisäischen Verzerrungen des Alten Bundes. Und diese beiden Dinge dürfen niemals verwechselt werden.

Gesetz im Neuen Testament

Das andere Missverständnis hinter der Kritik an Jakobus kommt von einem falschen Verständnis der neutestamentlichen Zeit. Da wir durch Gnade und nicht durch Werke gerettet sind, gehen manche davon aus, dass jedes Buch oder jede Passage, die vom „Gesetz“ spricht, per Definition dem Evangelium widersprechen müsse.

Und Jakobus spricht viel von „Gesetz”. Der Brief ist voller Imperative – mehr als jedes andere neutestamentliche Buch. Jakobus hat das Anliegen, dass wir nicht nur Hörer des Wortes sind, sondern auch Täter (Jak 1,22). Er spricht über Bevorzugung (2,1–4), Zügelung der Zunge (3,1–12), Begehren (4,2), Stolz (4,6), Missbrauch der Armen (5,1–6) und vieles mehr.

Macht eine ausführliche moralische Ermahnung ein Buch – oder, wenn man den Bogen noch weiter, spannt eine Predigt – nichtchristlich? Das kommt darauf an. Wenn die moralischen Ermahnungen als eine Möglichkeit dargestellt werden, wie eine Person ihre Errettung verdienen kann, dann ja: Sie stehen auf jeden Fall im Widerspruch zum Evangelium. Paulus hat durchaus viel Zeit damit verbracht, genau diesen Missbrauch zu bekämpfen. In dem Brief an die Galater geht Paulus sehr entschieden gegen Werksgerechtigkeit in der Gemeinde vor. Folgendermaßen malt Paulus das Gesetz oft in einem negativen Licht: „Denn alle, die aus Werken des Gesetzes sind, die sind unter dem Fluch“ (Gal 3,10).

Aber wenn man das Gesetz – damit meine ich nicht das alttestamentliche Gesetz als solches, sondern ganz allgemein Gottes moralische Anweisungen – nicht als einen Weg zur Rettung darstellt, sondern als einen Leitfaden für ein gottgefälliges Leben, dann ist an diesem Bestreben nichts „unchristliches“. Wahre Gläubige mit neuen Herzen sollten das Gesetz lieben und sind vom Geist befähigt, es zu halten (Hes 36,27; Röm 8,4).

Natürlich werden selbst Gläubige dem perfekten Standard des Gesetzes keineswegs gerecht. Aber durch Christus ist das Gesetz kein Feind mehr; es ist ein Freund. Wir sollten uns an den ersten Psalm erinnern: „Wohl dem, der [...] seine Lust hat am Gesetz des HERRN und über sein Gesetz nachsinnt Tag und Nacht“ (Ps 1,1–2).

Paulus und Jakobus widersprechen sich nicht; sie bekämpfen schlichtweg verschiedene Feinde des Evangeliums. Paulus kämpft gegen Gesetzlichkeit, Jakobus gegen Gesetzlosigkeit (Jak 2,14).

Wie Jakobus unseren Dienst prägen kann

Sobald wir erkennen, dass Jakobus‘ Fokus auf Moral nicht unchristlich ist, ergeben sich daraus tiefgreifende Auswirkungen für den Dienst. Zum einen erinnert es uns daran, dass der Kampf gegen Werksgerechtigkeit nicht unser einziges Anliegen sein sollte. Neben den Pharisäern gibt es noch andere Bedrohungen für die Gemeinde. Deshalb brauchen wir das Buch Jakobus in unseren Bibeln. Jakobus erinnert uns daran, dass Gesetzlichkeit und Gesetzlosigkeit eine Gemeinde zerstören können.

„Wenn Rechtfertigung alles ist, was zählt, dann könnte man Jakobus für unnötig halten. Aber wenn Heiligung auch wichtig ist, dann ist der Jakobusbrief von großer Bedeutung.“
 

Jakobus sollte auch die Art und Weise beeinflussen, wie wir Christus lehren und predigen. Aus verschiedenen Gründen haben Evangelikale begonnen, das Predigen Christi mit dem Predigen der Rechtfertigung allein durch den Glauben gleichzusetzen. Beides ist fast zu Synonymen geworden. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, Christus zu predigen. Jakobus erinnert uns daran, dass wir Christus auch verkündigen, wenn wir predigen, wie wir Christus nachfolgen, Christus gehorchen und Christus ähnlich sein sollen.

Christ zu sein bedeutet schließlich nicht, dass wir aufhören, über das Gesetz zu reden. In dieser Hinsicht täuschte sich Luther in Bezug auf Jakobus. Wenn Rechtfertigung alles ist, was zählt, dann könnte man Jakobus für unnötig halten. Aber wenn Heiligung auch wichtig ist, dann ist der Jakobusbrief von großer Bedeutung.