Was man über die Sexuelle Revolution wissen sollte
1. Sie hat eine lange Geschichte
Unter Christen trifft man immer wieder auf die Fehlannahme, die Sexuelle Revolution sei etwas, das in den 1960er Jahren zustande kam – im Zuge der generellen Lockerung der herkömmlichen Moral, die in jenem Jahrzehnt zu beobachten war. Tatsächlich reichen die Wurzeln der Sexuellen Revolution aber viel tiefer und weiter in die Vergangenheit. Man kann das leicht übersehen, weil der Blick an den Phänomenen hängenbleibt, die sie mit sich brachte, z.B. den weithin feststellbaren Veränderungen in der Haltung der Menschen zu vorehelichem Sex, zu Homosexualität und zu Abtreibung. Dabei ist uns oft nicht klar, dass diese Phänomene in Wirklichkeit nur Symptome von tieferliegenden Veränderungen der Gesellschaft sind – und zwar insbesondere im Hinblick auf die Frage, was es bedeutet, als Mensch ein erfülltes Leben zu haben. Die Sexuelle Revolution beruht auf der Idee, dass Erfüllung eine Sache des persönlichen, psychologisch verstandenen Lebensglücks ist. Entsprechend ist dann per Definition alles, was dem im Wege steht – insbesondere die traditionellen Verhaltensnormen im Bereich der Sexualität –, Unterdrückung und hindert uns an unserer Entfaltung. Die Deutung von Sinn und Ziel des Menschen mittels dieses psychologischen Konstrukts reicht mindestens bis zu Rousseau und den Romantikern des 18. und 19. Jahrhunderts zurück. Die Sexuelle Revolution ist lediglich eine Erscheinungsform einer umfassenderen Kultur, die wir „expressiven Individualismus“ nennen können.
2. Sie hat komplexe Wurzeln
Wie zuvor bereits angedeutet, liegt unter der Sexuellen Revolution ein kompliziertes Wurzelgeflecht. Da ist zunächst die Psychologisierung des Ich, wie sie durch Rousseau und die Romantik geformt wurde. Dazu kommt die Sexualisierung der Psychologie durch Sigmund Freud und seine Nachfolger – die Idee, dass unsere sexuellen Wünsche und ihre körperliche Befriedigung das sind, was uns zutiefst ausmacht. Außerdem haben wir da noch die Politisierung von Sex durch die Neue Linke, wobei Unterdrückung nicht mehr so sehr in ökonomischen Dimensionen, sondern nun eher in psychologischen Dimensionen neu gedacht wird. Damit ist die Bühne für Debatten über Sexualität bereitet – wodurch eine der persönlichsten und intimsten menschlichen Angelegenheiten zu dem Thema wird, das in unserer Zeit wie kaum ein anderes in breitester Öffentlichkeit diskutiert wird.
3. Sie betrachtet Monogamie schon lange als Problem, nicht als schützenswert
Ein Charakteristikum der Sexuellen Revolution war die Loslösung sexueller Aktivität aus dem Kontext einer lebenslangen, monogamen Beziehung. Von der Propagierung der Promiskuität in den 1960ern bis zu den heutigen „offenen Ehen“ ist die Grundidee immer, dass monogame Keuschheit eine problematische Sache ist, die uns daran hindert, wirklich wir selbst zu sein, und die sogar soziale Missstände provoziert. Das ist keineswegs ein neuer Gedanke. William Godwin, ein Radikaler im England des 18. Jahrhunderts, argumentierte in seinem bekannten Werk Political Justice auf genau diese Weise, und diese Tradition wurde von Künstlern wie Shelley und politischen Theoretikern wie Marx und Lenin weitergeführt.
4. Es geht nicht nur um eine Erweiterung der Bandbreite, was als akzeptable Sexualmoral gelten kann
Es ist wichtig, dass Christen klar ist: Der Sexuellen Revolution geht es nicht einfach nur darum, die Grenzen dessen auszudehnen, welche sexuellen Verhaltensweisen allgemein als akzeptabel gelten. Ein gutes Beispiel ist das Konzept von Anstand und Sittlichkeit. Es ist nicht so, dass die Vertreter der Sexuellen Revolution neu definieren wollen, was anständig ist – wie es in früheren Generationen gemacht wurde, als man darüber diskutierte, wie lang die Röcke von Frauen sein dürfen oder ob Bikinis akzeptabel sind. Nein. Sie wollen das Konzept komplett abschaffen. Das ist daran erkennbar, dass unsere Kultur Anstand und Sittlichkeit als solche als eine von Haus aus lächerliche Idee betrachtet, über die man sich nur lustig machen kann.
5. Es geht nicht (nur) um sexuelles Verhalten
Der vorhergehende Punkt führt uns direkt zu einem weiteren wichtigen Aspekt der Sexuellen Revolution: Es geht nicht nur um Sexualverhalten. Tatsächlich geht es um Identität. Wenn das sexuelle Verlangen erst einmal zum tragenden Element der menschlichen Identität geworden ist, dann sind Debatten über Sex nicht mehr länger Debatten darüber, wie wir uns verhalten, sondern sie werden zu Debatten darüber, wer wir sind. Daher meinen Christen vielleicht, wenn sie Homosexualität ablehnen, lehnen sie bestimmte sexuelle Praktiken ab. Was sie damit aber tatsächlich tun, ist, bestimmte Identitäten abzulehnen.
6. Die kulturellen Auswirkungen sind erheblich
„Indem sie die Bedeutung sexueller Aktivität umgestaltet, gestaltet sie auch die Konzepte von Familie, von Elternschaft und von der Beziehung zwischen den Geschlechtern um.“
Kulturen definieren sich zu einem beträchtlichen Anteil durch das, was sie verbieten. Und typischerweise liegen viele dieser verbotenen Handlungen im Bereich der Sexualität. Ein gutes Beispiel dafür ist das alttestamentliche Gesetz, und typischerweise haben sexuelle Tabus in der westlichen Kultur eine große Rolle gespielt. Wenn sich also die Sexuelle Revolution daran macht, diese Tabus über Bord zu werfen, und stattdessen die Sexualmoral auf die hauchdünne Grundlage des allgemeinen Konsens stellt, dann bedeutet das nicht nur eine Änderung des Sexualverhaltens, sondern die Veränderung der Gesellschaft auf einer sehr grundlegenden Ebene. Indem sie die Bedeutung sexueller Aktivität umgestaltet, gestaltet sie auch die Konzepte von Familie, von Elternschaft und von der Beziehung zwischen den Geschlechtern um. Geht man davon aus, dass sexuelle Aktivität auch soziale Bedeutsamkeit aufweist, nämlich als Schritt in das Erwachsensein, dann wird auf diese Weise zudem ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Kindern und Erwachsenen aufgelöst.
7. Sie ist eine ernsthafte Herausforderung für die Religionsfreiheit
Da es bei der Sexuellen Revolution um Identität geht und um die Legitimation von Sexualverhalten, das mit der Identität verknüpft ist, stellt sie eine ernstzunehmende Herausforderung für die Religionsfreiheit dar. In einer Gesellschaft, die durch die Sexuelle Revolution umgestaltet wurde, wird man Christen, die es beispielsweise ablehnen, homosexuelles Verhalten als legitim anzusehen, als Gegner des Gemeinwohls betrachten. Und da die Religionsfreiheit kein absolutes, bedingungsloses Recht ist, können solche Christen, die an einer traditionellen Sexualmoral festhalten, damit rechnen, dass die freie Ausübung ihrer Religion eingeschränkt oder sogar untersagt wird.
8. Sie ist mit anderen Formen von Identitätspolitik verknüpft
Die über die Sexualität definierte Identität ist nur eine Spielart menschlicher Selbst-Konzepte, die sich wesentlich auf die Psychologie stützen – auf unsere Empfindungen, unser inneres Gefühl des Wohlbefindens. Man kann das Gleiche in der Art und Weise sehen, wie heute andere Identitätsmodelle konstruiert werden. In letzter Zeit gab es einigen Wirbel um Äußerungen von J.K. Rowling zum Thema Transgender und was es bedeutet, eine Frau zu sein. Dadurch wurde ein lange schwelender Konflikt innerhalb des Feminismus weithin öffentlich gemacht: Hat Frausein überhaupt etwas damit zu tun, ob man einen Frauenkörper hat, oder ist es letztendlich ein psychologisch definierter Zustand? Der neue Feminismus ist tief verwurzelt in der Psychologisierung von Identitäten, bei der die sexualisierten Identitäten der Sexuellen Revolution nur einen Teilbereich ausmachen. Die gleiche Art von Fragen bricht nun auch im Zusammenhang mit der Anti-Rassismus-Politik auf. Eine Gruppe wie Black Lives Matter macht auf ihrer Internetseite deutlich, dass sie die Frage der Rassengerechtigkeit und der LGBTQ-Rechte als eng miteinander verbunden betrachtet.
9. Es geht nicht nur um Begierde
Wenn Christen aus einem moralischen Blickwinkel über Sex nachdenken, passiert es leicht, dass sie Sünde mit unangemessenem Verlangen und deplatzierter Lust gleichsetzen. Das ist zwar richtig, aber es ist nicht das einzige Problem mit sexueller Aktivität, die aus dem Kontext einer lebenslangen, monogamen Beziehung herausgelöst wird. Man denke hier beispielsweise an One-Night-Stands oder an Pornografie. Es ist eine Folge der Sexuellen Revolution, dass beides im Mainstream der Gesellschaft als kulturell etabliert wahrgenommen wird. Solcher Sex, der abgekoppelt von einer tiefen und bedeutungsvollen, bereits vorhandenen Beziehung stattfindet, birgt in sich die Gefahr von mindestens zwei weiteren, unmoralischen Folgen: Erstens wird der Zweck von Sex reduziert auf das egoistische persönliche Vergnügen hier und jetzt. Und zweitens verändert sich die Wahrnehmung des Partners, der nicht mehr das Ziel an sich darstellt, sondern ein Mittel zum Zweck wird. Anders gesagt: Der Sinn einer sexuellen Begegnung liegt nicht darin, die Beziehung zu einer bestimmten Person zu besiegeln; sondern es geht darum, einen anderen Körper für mein persönliches Vergnügen zu benutzen. Das ist zutiefst entmenschlichend. Und in der Pornografie wird dieser Ansatz konsequent zu Ende gebracht: Die Personen spielen keine Rolle, es zählen nur die Körper.
10. Wir sind alle darin verstrickt
„Wir wollen alle gern glauben, dass wir die Herren über unsere eigene Identität sind.“
Hier könnte nun die Versuchung bestehen, sich das Chaos und den Scherbenhaufen der Sexuellen Revolution anzusehen und dann zu sagen: „Danke, Herr, dass ich nicht so bin wie andere Leute!“ Das ist aus dem einfachen Grund falsch, weil wir alle in diese Revolution verstrickt sind. Damit ist nicht gesagt, dass jeder von uns Pornografie konsumiert oder den Lügen der sexuellen Freizügigkeit folgt. Aber jeder von uns ist Teil einer Kultur des psychologisierten Menschseins, in der die Sexuelle Revolution nur ein Symptom ist. In uns allen wohnt die Neigung, unser Lebensglück durch die psychologische Brille zu betrachten. Wir alle haben eine Abneigung gegen jegliche Art von externer Autorität. Wir wollen alle gern glauben, dass wir die Herren über unsere eigene Identität sind. Das ist aber im Kern das, worum es bei der Sexuellen Revolution geht. Es mag sein, dass wir nicht die Sexualität als Sprache wählen, um das auszudrücken. Es mag sein, dass wir die Dinge sogar in der Sprache der Religiosität zum Ausdruck bringen, indem wir uns z.B. für die Gemeinde entscheiden, in der wir uns wohlfühlen oder in der wir ganz wir selbst sein können. Aber damit sind auch wir nur Symptome einer Kultur des expressiven Individualismus, zu der auch die Sexuelle Revolution als eine ihrer Spielarten gehört.