Warum predigen wir?

Artikel von Brad Wheeler
6. Mai 2021 — 7 Min Lesedauer

Ich habe in der vergangenen Woche ungefähr 25 Stunden mit der Predigtvorbereitung für diesen Sonntag zugebracht. Ich habe über 1. Samuel 9–11 gepredigt. Während der Predigt habe ich den gesamten Text vorgelesen und dann gut 40 Minuten die Bedeutung des Texts erklärt und praktische Anwendungen vermittelt. Wir können also gut und gerne von einer Auslegungspredigt sprechen. Und nein, ich lebe nicht im Mittelalter. Es war auch kein besonderer Gedenktag an die Puritaner (solche forcierten Festtage im Kirchenkalender kann unser Hauptpastor überhaupt nicht ausstehen, aber das sei nur am Rande erwähnt...). Nein, es war ein ganz normaler Sonntag in einer ganz normalen Woche.

Wie kommt man darauf, so viele Stunden über Gottes Wort zu brüten? Und warum lässt die Gemeinde eine (zuweilen anstrengende) Stunde Monolog über sich ergehen? Solche Fragen höre ich immer wieder. Und ich habe Freunde, die mich sanft und sicher gut gemeint, zurechtweisen. Sie fragen mich: Warum hebst du dir Predigt so sehr gegenüber anderen Formen der Anbetung hervor? Ist das nicht einfach nur ein Ausdruck deiner westlichen Neigung zu einem rationalen, begründeten und geordneten Diskurs? 95 Prozent von dem, was du sagst, vergessen die Leute am Ende doch sowieso! Mit anderen Worten: Hör auf, deine Zeit – und unsere – zu verschwenden!

Bevor du jetzt aber das Handtuch wirfst und die Schrift gegen ein mediales Feuerwerk eintauschst, lass mich dir einige Gründe mit auf den Weg geben, warum die Predigt nicht nur Teil des Gemeindelebens sein sollte, sondern sogar zentraler Bestandteil sein muss.

Gottes Volk versammelt sich, um Gottes Wort zu hören

Ob du es mir glaubst oder nicht, es entspricht genauso wenig meiner natürlichen Neigung, mich hinzusetzen und einem langen Vortrag zuzuhören, wie deiner. Ich würde mich auch lieber von einem Film oder einem dröhnenden Schlagzeugsolo oder einem bewegenden Kunstwerk motivieren und wachrütteln und berühren lassen. Aber der durchgehende Tenor der Schrift ist ein anderer: Gottes Volk versammelt sich, um Gottes Wort zu hören. Wir sollen still sein, während er spricht.

Als Gott beim Auszug aus Ägypten seine Bundesbeziehung zu seinem Volk ins Leben rief, gebrauchte er Worte und gebot seinem Volk, sich zu versammeln und diese Worte anzuhören (Ex 24,7). Während die Israeliten ihre Feinde in die Flucht trieben, als sie ins verheißene Land einzogen, gebot Gott seinem Volk anzuhalten und gut 30 km zu zwei gegenüber gelegenen Bergen weiter nördlich zu marschieren. Die steilen Berghänge boten als eine Art natürliches Amphitheater, in dem Josua gut hörbar „alle Worte des Gesetzes [las], den Segen und den Fluch [...]. Es war kein Wort von allem, was Mose geboten hatte, das Josua nicht gelesen hätte vor der ganzen Gemeinde Israels, auch vor den Frauen und Kindern und den Fremdlingen, die in ihrer Mitte lebten“ (Jos 8,34–35).

Es erscheint merkwürdig, dass sie dafür ihren „Blitzkrieg“ durch den Süden unterbrechen. Aber es ist kein gewöhnlicher Krieg und sie sind kein gewöhnliches Volk. Das Wort, das sie erschaffen hat, ist dasselbe Wort, das sie formt. Als König Josia sein Volk Jahre später zurück zu Gott führt, tut er das, indem er „vor ihren Ohren alle Worte des Buches des Bundes, das im Haus des HERRN gefunden worden war“, vorlesen lässt (2Chr 34,30). Als sich Gottes Volk nach der Rückkehr aus dem Exil versammelt, macht Nehemia mit ihnen keine CrossFit-Trainingseinheit oder einen Fingermal-Workshop oder eine ausführliche Meditation über den Kreuzweg. Stattdessen lässt er Esra auf eine hölzerne Kanzel treten (Neh 8,4), während das Volk an seinen Plätzen bleibt (8,7). Esra und die Schriftgelehrten „lasen aus dem Buch des Gesetzes Gottes deutlich vor und erklärten den Sinn, sodass man das Gelesene verstand“ (Neh 8,8).

„Das Auge stimuliert, aber das Ohr befähigt.“
 

Das öffentliche Wirken Jesu beginnt im Lukasevangelium damit, dass Jesus in eine Synagoge geht, die Jesaja-Schriftrolle nimmt, daraus vorliest und anschließend daraus lehrt (Lk 4,14–22). In Apg 2 werden die Menschen nicht durch eine Luftwerbung oder irgendeine andere spektakuläre Aktion gerettet, sondern durch Petrus‘ öffentliche Auslegung von Joel 2. Die Diakone werden in Apg 6 nicht eingesetzt, damit die Apostel endlich Zeit finden, sich die neuesten theaterpädagogischen Ansätze anzueignen oder sich die hippsten Klamotten zu besorgen. Die Apostel werden freigesetzt, damit sie Gottes Wort verkündigen können. Paulus ermahnt Timotheus, das Wort zu predigen (2Tim 4,2).

Die Liste ließe sich fortsetzen. Das Auge stimuliert, aber das Ohr befähigt. Wir brauchen keine Anspiele à la Johannes Tetzel von Himmelspforte und Höllenflammen. Gottes Volk muss sich einfach versammeln und Gottes Wort hören.

Predige Gottes Wort, damit deine Gemeinde lernt, selbst Gottes Wort zu lesen

Vor nicht allzu langer Zeit beklagte David Wells, dass die Evangelikalen nicht mehr den Mut haben, Protestanten zu sein. Heute fehlt uns oft vor allem der Mut, am historischen Christentum festzuhalten. Über uns bricht die kulturelle Flutwelle der Gender- und Sexualitätsthematik einher und viele denken, dass wir dazu nichts sagen können – weil wir nicht glauben, dass die Bibel endgültig spricht, oder weil wir nicht wissen, was die Bibel dazu sagt, oder weil die Bibel für uns nicht mehr als eine Sammlung moralischer Geschichten umfasst, eine Art religiöse Form von Aesops Tierfabeln, die wir neu deuten können, wie es uns passt, damit sie unsere aktuellen kulturellen Sitten widerspiegeln.

Wenn du allerdings Gottes Wort im Mittelpunkt des Gemeindelebens lässt (insbesondere durch fortlaufende Predigttexte), dann bringst du den Gemeindemitgliedern bei, wie man Bibel liest. Um das zu verstehen, brauchen sie keinen theologischen Hermeneutik-Kurs. Was sie brauchen, ist die treue Verkündigung von Gottes Wort. Eine Verkündigung, die die Kraft von Gottes Schöpferwort, den Sündenfall durch den ersten Adam, das erforderliche Sühneopfer und die Verheißung eines zweiten Adams und eines neuen Garten Edens in Zusammenhang bringt. Eine Verkündigung, die das, was Gott durch Israel getan hatte, mit Jesus und dem neuen Israel Gottes verbindet.

Meine ersten Gemeindeerfahrungen machte ich in Gemeinden, die zwar Gottes Wort liebten, aber es nicht wie die Goldmine behandelten, die es in Wirklichkeit ist. Vielmehr behandelten sie die Bibel wie einen kleinen Hügel, von dem wir einzelne, verstreute Steine aufheben und flüchtig betrachten können, aber mehr auch nicht. Erst als ich Mitglied einer Gemeinde wurde, die die Schätze des Wortes aushob, indem sie sorgfältig die reichen biblischen Themen verknüpfte und aufzeigte, dass sie alle auf Christus hinweisen, begann ich selbst, mutiger und sicherer mit dem Alten Testament umzugehen. Wenn du Gottes Wort im Mittelpunkt deiner Lehre und Verkündigung lässt, dann bringst du den Gemeindemitgliedern nicht nur bei, wie man Bibel liest, sondern machst ihnen außerdem Mut, selbst darin zu graben.

Predige Gottes Wort, um deine Gemeinde Woche für Woche zu verändern

Was nutzen all diese Predigten, wenn wir das Gehörte zu Großteilen doch kurz danach wieder vergessen? Wir vergessen natürlich nicht alles, was wir hören. Ich denke, die meisten von uns, können sich noch relativ gut an bestimmte Predigten erinnern, die unser Denken in Hinsicht auf Gott, Ehe, Geld usw. hinterfragt und nachhaltig verändert haben. Lass uns also nicht die Predigt per se abschreiben.

Außerdem soll uns das wöchentliche Wort zum Sonntag nur bis zum nächsten Sonntag durchtragen. Der Wochenrhythmus, den Gott uns geschenkt hat, zeigt, dass Gott versteht, dass wir nach einer Woche schon wieder ausgehungert sind und erneut mit seinem Wort genährt werden müssen.

Unsere Predigten, meine wie deine, müssen sich unseren Zuhörern nicht für alle Zeiten einprägen. Sie müssen ihr Leben nicht auf diese Weise verändern. Sie müssen sie nur bis zur kommenden Woche stärken. Woche für Woche. Bis zum Himmel. Und dort wird das fleischgewordene Wort für immer mitten unter uns wohnen und wir werden keine Predigten mehr brauchen.