Zugerüstet in der Herde Gottes

Teil 6

Artikel von Hanniel Strebel
5. Mai 2021 — 6 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist Teil der Artikelreihe „Was ist denn, bitteschön, reformatorische Theologie?“, in der Hanniel Strebel in Kürze die wichtigsten Themenfelder der Dogmatik aus reformatorischer Perspektive beleuchtet.

Keine Insellösung

Auf meinem bisherigen Streifzug durch die reformatorische Theologie besann ich mich als erstes auf die Wurzel, nämlich die Rückorientierung hin zur Heiligen Schrift. Damit einher geht die Wiederentdeckung grundlegender Wahrheiten, in denen die die Kirche in den ersten Jahrhunderten Übereinstimmung errang.

Wenn wir die Klarheit der Schrift bejahen, so legt sie uns beim Studium der Bibel zuerst den Blick auf die Herrlichkeit des dreieinigen Gottes frei, der seine Schöpfung weit übersteigt und trotzdem in ihr wirkt. Sie weist uns überdies auf Christus als Mitte der Schrift. Erst von diesem Standort aus bekommt der Mensch seinen angemessenen Platz.

„Der Mensch ist für die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott inmitten der Erlösten geschaffen.“
 

In diesem Artikel will ich über die Stellung des erlösten Menschen innerhalb der Gemeinschaft der christlichen Kirche nachdenken. Der Mensch muss von Anfang an in seinen Gott-geschaffenen Bezügen gesehen werden. Er ist keine „Insellösung“, obwohl er häufig so dargestellt wird. Der Mensch ist für die Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott inmitten der Erlösten geschaffen.

Die Kennzeichen der wahren Kirche

Die Reformatoren rangen in der Auseinandersetzung mit der Katholischen Kirche intensiv um die entscheidenden Kriterien für die wahre Kirche. Nach dem Augsburger Bekenntnis (Confessio Augustana, 1530) und dem Niederländischen Bekenntnis (Confessio Belgica, 1561) gibt es zwei bzw. drei Kennzeichen.

„Die feste Zuversicht, dass durch die Verkündigung des Wortes Gottes Menschen gerettet werden, führt zur starken Betonung der Auslegungspredigt.“
 

Als erstes Kennzeichen wird die lautere Verkündigung von Gottes Wort genannt. Für die reformatorische Theologie ist die Predigt das zentrale Stück des gesamten Gottesdienstes. Das Helvetische Bekenntnis (Confessio Helvetica Posterior, 1566) spitzt dies am stärksten zu, da es die Predigt des Gotteswortes als Gottes Wort bezeichnet. Ein Teil der reformatorisch gesinnten Gemeinden hat zudem das sogenannte regulative Prinzip des Gottesdienstes verankert. Dies bedeutet, dass die einzelnen Elemente des Gottesdienstes stets dem Wort Gottes entnommen werden sollten. Das Wort Gottes wird im Gottesdienst gebetet, gesungen, vorgelesen und ausgelegt. Gott bringt schließlich im Alten wie im Neuen Testament deutlich zum Ausdruck, wie er angebetet werden will. Die Zentralität der Verkündigung bzw. Auslegung des Wortes Gottes wird u.a. auf die Aussage von Paulus in Römer 10,17 zurückgeführt, dass die Verkündigung das notwendige Verbindungsstück zur Errettung von Menschen darstelle. Ebenso wird in 2. Timotheus 3,16–17 festgestellt, dass die Schrift (Paulus meinte das damals schon geschriebene vorliegende Alte Testament) Kraft hat, Menschen zu retten und zuzurüsten. Es geht also auch um die Erneuerung nach dem Bild Gottes. Als Christi Braut sollten die Erlösten tadellos vor ihm dargestellt werden (Eph 5,27).

Die feste Zuversicht, dass durch die Verkündigung und Auslegung des Wortes Gottes Menschen gerettet und zugerüstet werden, führt zur starken Betonung der Auslegungspredigt. Bereits Ulrich Zwingli, Zürcher Reformator, führte die fortlaufende Auslegung eines Bibelbuches (lectio continua) ein. 1519 begann er mit einer Predigt über Matthäus 1,1. Abschnitt für Abschnitt wird so über die Jahre durch das gesamte Alte und Neue Testament gepredigt. Wie ich bereits aufgezeigt habe, fokussiert sich diese Auslegung auf Christus als Brennpunkt. Ebenso liegt ihr der Gesamtblick für die Heilsgeschichte sowie die Theologie des einen Bundes in zwei Testamenten (Administrationen) zu Grunde.

Auf das erste Kennzeichen folgt die rechte Verwaltung der zwei biblischen Sakramente, Taufe und Abendmahl. Von reformierter Seite wird als drittes Kennzeichen noch die Ausübung von Kirchenzucht genannt. Die Disziplinierung von Gemeindegliedern, die in der Sünde verharren, geschieht zum Schutz der gesamten Herde. Paulus demonstriert dies in 1. Korinther 5, wenn er die dortige Gemeinde auffordert, einen Mann in einem inzestuösen Verhältnis aus der Gemeinschaft auszuschliessen. Im selben Abschnitt wird deutlich, dass mit der Gemeinde eine bestimmte örtliche Versammlung in der Stadt Korinth gemeint war und nicht die unsichtbare Einheit all derer, die dem Leib Christi weltweit zugehörig waren (Vgl. auch 1. Korinther 1,2 mit der Formulierung „an die Gemeinde Gottes in Korinth“). Auch an anderen Stellen erwähnt Paulus Maßnahmen gegen Irrlehrer, die Unruhe stiften (Röm 16,17) oder der apostolischen Lehre nicht Folge leisten (2Thess 3,6).

Ein großes Anliegen für Evangelisation

„Weltmission wird durch die klare Betonung der Souveränität Gottes und der Kraft von Gottes Wort zur Aufgabe, die nicht ernst genug genommen werden kann.“
 

Wenn Gott durch sein Wort wirkt, dann wird der Prediger zum Gefäß, das dieses Wort durch die Kraft des Heiligen Geist treu ausrichtet. Das Wirken des Geistes überführt und rettet Menschen. Sie erhalten den Glauben als Geschenk und werden im täglichen Wandel mit Gott mehr und mehr in sein Bild zurückverwandelt. Hier ist eine wichtige Ergänzung vorzunehmen. Die reformatorische Theologie legt einen Schwerpunkt auf Evangelisation. Dieser Auftrag ergeht in Anklang an den Auftrag an den ersten Menschen und besteht darin, unter allen Völkern durch Taufe und Lehre zu jüngern (das griechische Wort ist eigentlich ein Verb, vgl. Mt 28,19).

Meines Erachtens ist die Umsetzung dieser Jüngerschaft in weiten Teilen der reformatorischen Theologie etwas in den Hintergrund gerückt. Insgesamt hat sie jedoch ein starkes Gewicht sowohl bei den Reformatoren und auch bei späteren reformatorischen Initiativen – ich denke etwa an George Whitfield (1714–1770) oder William Carey (1761–1834), der nach Indien ging. Weltmission wird durch die klare Betonung der Souveränität Gottes, der Zentralität von Jesu Sühneopfer und der Kraft von Gottes Wort zur Aufgabe, die nicht ernst genug genommen werden kann.

Eine robuste Theologie des Leids

„Wir leiden als Schafe innerhalb der Herde und können uns der Wachsamkeit der Hirten und der Zurüstung durch den Oberhirten gewiss sein.“
 

Ich füge der Lehre der Kirche noch ein drittes Element hinzu, welches von ihrem Platz her der praktischen Theologie zuzuordnen ist. Es geht um die Theologie des Leidens. Die Theologie des Kreuzes (theologia crucis) wurde sowohl von Luther wie von Calvin gelehrt. Wer sich mehr damit beschäftigen möchte, dem sei der Psalmenkommentar von Johannes Calvin ans Herz gelegt. Die bewusste Zuwendung zum Leid innerhalb des christlichen Lebens steht im Gegensatz zur Lehre des Säkularismus, der im Westen dominanten Sichtweise, der im Denken und Handeln von Gott entwöhnt ist. Dem Leid zu entfliehen, es zumindest auszublenden oder es zu betäuben ist das Gebot der Zeit. Dies ist verbunden mit dem Anspruch auf eine vollständige und unmittelbare Befriedigung. Im Neuen Testament werden wir eines Besseren belehrt. Wir gelangen durch Leiden zur Herrlichkeit, wie es schon Barnabas der ersten Gemeinde in Antiochia verkündigte (Apg 14,22). Der gesamte erste Petrusbrief sowie der erste Thessalonicherbrief sind von diesem Gedanken durchzogen. Paulus stellt in 2. Timotheus 3,12 fest, dass alle, die an Christus glauben, Verfolgung leiden müssen. Petrus malt eindrücklich das Lauern Satans vor Augen und fügt hinzu, dass dies die gesamte Bruderschaft in der Welt betrifft (1Pet 5,8–9). Wir ergänzen bzw. vervollständigen damit die Leiden Christi (Kol 1,24). Dabei halten wir uns in dem Marathon des Lebens wie Jesus die Freude der kommenden Herrlichkeit vor Augen (Heb 12,3).

Hier schließt sich der Kreis zur Lehre der Kirche. Wir leiden als Schafe innerhalb der Herde und können uns der Wachsamkeit der Hirten (d.h. der Ältesten, Heb 13,17) und der Zurüstung durch den Oberhirten (Heb 13,20) gewiss sein.