Das Evangelium nach Jona

Artikel von Stephen Witmer
28. April 2021 — 8 Min Lesedauer

Michael Pollan, Bestsellerautor einiger ausgezeichneter Bücher über Nahrungsmittel, erlegte vor einigen Jahren ein kalifornisches Wildschwein, um ein Gericht zuzubereiten, das in freier Wildbahn gejagt und gegessen werden sollte. Nachdem er das Schwein erschossen hatte, ging er darauf zu, kniete nieder und berührte es. Er sah, wie das Blut auf den Boden floss, und erlebte eine Flut von Gefühlen, einschließlich Stolz, Erleichterung und Glück.

Die andere Emotion, die er fühlte (aber nicht erwartet hatte), war Dankbarkeit. Pollan fragte sich, für was oder wen genau er diese Dankbarkeit empfand: „Für mein Glück, denke ich…, aber auch für dieses Tier, weil es unaufgefordert über den Gipfel dieses Hügels geschritten ist, aus der Wildnis hinaus und in meine Sicht. Das Tier war vielmehr ein Geschenk als das Ergebnis meiner Arbeit (abgesehen von meiner Aufnahmefähigkeit) – von wem oder was konnte ich nicht sagen –, aber Dankbarkeit schien angebracht zu sein und Dankbarkeit ist das, was ich fühlte“ (Das Omnivoren-Dilemma).

Es ist ein heiliger Moment für Pollan, obwohl er nicht in der Lage zu sein scheint, eine Verbindung mit Gott herzustellen. Er ist dem Schwein dankbar, aber auch jemandem, der ihm das Schwein gegeben hat. Am Ende scheint er sich damit zufrieden zu geben, die Gefühle, die er empfindet, einfach festzuhalten und es dabei zu belassen. Doch was für ein Moment und was für eine bemerkenswerte Beschreibung! Diese Passage lässt etwas vom Evangelium erahnen. Pollan äußert sogar ein Bewusstsein von Gnade – das Schwein wäre mehr ein Geschenk als das Ergebnis seiner Arbeit und seine Rolle hauptsächlich die eines Empfängers. Die Terminologie klingt wie eine neutestamentliche Beschreibung des Evangeliums. Jemand hat ein kostenloses, unerwartetes und unverdientes Geschenk bereit gestellt und es fühlt sich richtig an, dafür dankbar zu sein. Es ist vielleicht ungewöhnlich, einen Hinweis auf das Evangelium in einer Beschreibung eines säkularen, liberalen, intellektuellen „Feinschmeckers“ zu finden, der ein Schwein tötet. Doch hier ist er.

Ein noch hellerer Glanz

Es gibt noch deutlichere Hinweise auf das Evangelium an einer anderen, vielleicht unerwarteten Stelle: im Buch Jona. Ich sage unerwartet, weil die in Jona beschriebenen Ereignisse etwa 800 Jahre vor Jesus stattfanden. Das Buch enthält keine explizite Erwähnung einer messianischen Figur. Stattdessen ist die Hauptfigur ein widerspenstiger und sündiger Mann. Aber Jesus selbst lädt uns ein, im Buch Jona nach Hinweisen auf das Evangelium zu suchen.

Er tut dies, indem er seinen eigenen Tod und seine Auferstehung als „Zeichen des Propheten Jona“ bezeichnet (Mt 12,39) und indem er Jonas Erfahrung mit seiner eigenen vergleicht („Denn gleichwie Jona..., so wird der Sohn des Menschen...“). Dies deutet darauf hin, dass die Art der Erfahrung Jesu in etwa der von Jona ähnelt. Wenn wir die Geschichten von Jona und Jesus kennen, können wir die Ähnlichkeiten sofort erkennen. Das tobende Meer und das Kreuz sind beides Orte der Verzweiflung und des Todes. Der Fisch und das Grab (in denen sowohl Jesus als auch Jona „drei Tage und drei Nächte“ liegen) sind – jeweils ganz unerwartet – ein Schritt auf dem Weg zum Leben nach dem Tod. In beiden Fällen ist Gott derjenige, der für dieses neue Leben verantwortlich ist: Er fordert den Fisch auf, Jona auf trockenem Land abzulegen (Jona 2,7.11) und er übt seine große Kraft aus, um Jesus Christus von den Toten zu erwecken (Eph 1,19–20).

Jesus sieht Jonas Erfahrung als analog zu seiner eigenen an. In diesem Fall ist die Verwendung des Alten Testaments durch das Neue Testament (d.h. der Hinweis Jesu auf Jona) tatsächlich ein Hinweis auf die Verwendung des Neuen Testaments durch das Alte Testament (d.h. Jonas Geschichte, die auf eine größere, noch bevorstehende Geschichte hinweist: das Erlösungsgeschehen, das das Zentrum des Evangeliums bildet).

„Die Ähnlichkeiten zwischen Jona und Jesus zeigen uns die Herrlichkeit des Evangeliums, aber die Unterschiede lassen es noch heller leuchten.“
 

Gibt es andere Hinweise auf das Evangelium in Jonas Leben? Der Selbstvergleich Jesu mit Jona lädt uns ein, diese Frage zu stellen. Ich denke die Antwort ist: ja. Die meisten dieser Hinweise stellen sich jedoch eher als Kontrast zwischen Jona und Jesus heraus, anstatt als Parallele. Dies ist nicht verwunderlich. Es ist leicht vorstellbar, dass die Geschichte eines eigensinnigen und ungehorsamen Dieners Gottes als negatives Beispiel auf den perfekten Diener Gottes hinweist, der seine Mission ganz und gar erfüllt hat. Jesus selbst sagt, er sei „größer als Jona“ (Mt 12,41). Die Ähnlichkeiten zwischen Jona und Jesus zeigen uns die Herrlichkeit Jesu und des Evangeliums, aber die Unterschiede lassen das Evangelium noch heller leuchten.

Und Unterschiede gibt es viele. So starb Jona beispielsweise nicht im tobenden Meer oder im hungrigen Fisch, obwohl er seine Erfahrung im Meer und im Fisch mit Begriffen beschreibt, die nach Tod klingen (Jona 2,1, 5–7). Das liegt daran, dass seine Mission im Predigen und nicht im Sterben bestand. Im Gegensatz dazu bestand Jesu Mission darin, zu predigen und auch zu sterben. Zum Glück durchlebte Jesus mehr als eine Nahtoderfahrung. Er starb tatsächlich (Joh 19,34; 1Kor 15,3). Und weil er wirklich gestorben ist, wird das Evangelium gepredigt.

Darüber hinaus war der Grund, warum Jona fast gestorben ist, dessen eigene Sünde. Er selbst sagt dies zu den Seeleuten auf dem Schiff: „Denn ich weiß wohl, dass dieser große Sturm um meinetwillen über euch gekommen ist“ (Jona 1,12). Tatsächlich sehen wir im ganzen Buch Jona Heiden, die ehrenhafter und gerechter handeln als der Prophet. Der Prophet, der nicht-jüdische Völker verachtet und ihnen Unheil wünscht (Jona 4,1–2), ist der Empfänger ihrer aufopferungsvollen Güte (Jona 1,13). Der Prophet, der nur langsam eine Herzensveränderung erlebt (und bis zum Ende des Buches ist nicht klar, ob sich sein Herz wirklich verändert hat), sieht, wie heidnische Seeleute (Jona 1,16) und heidnische Niniviten (Jona 3,10) umkehren und sich Gott nähern. Jonas Nahtoderfahrung ist eindeutig auf seine eigene Sünde zurückzuführen. Die Todesursache Jesu ist dagegen völlig anders. Er stirbt nicht wegen seiner eigenen Sünde, sondern wegen der Sünden der anderen (2Kor 5,21). Der Gerechte stirbt für die Ungerechten (1Petr 3,18).

Jona entschied sich nicht bewusst, ins tobende Meer oder in den Bauch des Fisches zu gehen. Von den Händen der Seeleute wurde er ins Meer geworfen (Jona 1,15). Er wusste aber, dass es in Wirklichkeit Gott war, der ihn ins Meer geworfen hatte (Jona 2,3). Und es war Gottes Entscheidung, nicht die Entscheidung Jonas, dass er in den Fisch eindringen würde: „Und der HERR entsandte einen großen Fisch, der Jona verschlingen sollte“ (Jona 2,1). Im Falle Jesu ist klar, dass Gott ihn ans Kreuz gesandt hat (Apg 4,27–28; Röm 3,25; 8,32). Aber es ist ebenso klar, dass Jesus das Kreuz bereitwillig gewählt hat: „Darum liebt mich der Vater, weil ich mein Leben lasse, damit ich es wieder nehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich lasse es von mir aus“ (Joh 10,17–18).

Jona gehorchte Gott nach seiner Nahtoderfahrung im Fisch nur widerwillig und ging nach Ninive, um zu predigen, obwohl er mit dem Herzen nicht bei der Sache war (Jona 4,1–3). Jonas Fast-Tod war von Gott beabsichtigt, um seinen Gehorsam zu gewinnen. Aber der Tod Jesu war sein Akt des Gehorsams: „Denn gleichwie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern gemacht worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten gemacht“ (Röm 5,19). Am Kreuz konnte Jesus sagen, dass sein Werk vollbracht war (Joh 19,30). Gottes Erlösungsplan wurde durch den Gehorsam Jesu verwirklicht. Mit suboptimalen Ausgangsbedingungen in der Person des Propheten Jona benutzte Gott souverän dessen Ungehorsam, um Menschen zu sich zu ziehen (Jona 1,16).

„Obwohl Jesus tiefer ging als Jona – er starb tatsächlich –, war sein Aufstieg unendlich höher.“
 

Was geschah mit Jona und Jesus nach dem Fisch und dem Grab? Jona kehrte zusammen mit dem Erbrochenen des Fisches zum "Leben" zurück (Jona 2,11). Jesus stand herrlich von den Toten auf (Röm 1,4) und stieg zur Rechten Gottes in den Himmel auf (Eph 1,20–23). Obwohl Jesus tiefer ging als Jona – er starb tatsächlich –, war sein Aufstieg unendlich höher.

Zwei Prediger, zwei Reaktionen

Neben all diesen Unterschieden ist es erstaunlich, welchen Unterschied Jesus zwischen Jona und ihm selbst hervorhebt: die Reaktionen, die hervorgerufen wurden. Die Leute von Ninive akzeptierten Jonas Predigt nach dem Ereignis mit dem Fisch demütig, sofort und vollständig. Sie taten Buße, als sie seine Warnung hörten. Bei den Zuhörern Jesu war dies nicht der Fall. „Die Männer von Ninive werden im Gericht auftreten gegen dieses Geschlecht und werden es verurteilen, denn sie taten Buße auf die Verkündigung des Jona hin; und siehe, hier ist einer, der größer ist als Jona“ (Mt 12,41). Obwohl Jesus es nicht explizit sagt, ist die Schlussfolgerung doch klar: Seine eigene Generation hat seine Botschaft im Großen und Ganzen nicht ernst genommen.

Warum ist dieser Vergleich zwischen Jona und Jesus wichtig? Er ist wichtig, weil er uns auf unseren vollkommenen Retter hinweist, einen Retter, der bereitwillig für unsere Sünden starb (und nicht für seine eigenen) und dann durch Gott von den Toten in unvorstellbare und ewige Herrlichkeit auferweckt wurde. Er wurde von vielen seiner eigenen Generation abgelehnt, wird aber von seinem Volk für immer gelobt werden. Dies ist das Evangelium nach Jona.