Liebe beginnt ganz nah
„Unsere Generation neigt zum Radikalismus ohne Einsatz und Konsequenzen“, schreibt Kevin DeYoung. „Wir wollen die Welt verändern, haben aber noch nie Windeln gewechselt.“
Schon über zehn Jahre begleitet mich dieses Zitat. Immer wieder ist es mir in Erinnerung gekommen, wenn das Leben meine jugendliche Leidenschaft für massive Veränderungen in der Kultur oder in der Gemeinde gebremst hat. In ähnlicher Weise hat Andy Crouch davor gewarnt, unser Augenmerk darauf zu richten, „die Kultur“ da draußen zu verändern (was auch immer das heißt), wenn wir es fast unmöglich finden, bei uns zu Hause überhaupt eine blühende Kultur nach unserer Vorstellung zu schaffen und zu erhalten. Wer denkt, die Welt zu verändern sei einfach, versuche zuerst, sich selbst zu ändern.
„Erst der Umgang mit den kleinen Dingen und den uns nahestehenden Menschen deckt unsere unschönen Seiten und Lieblosigkeit auf.“
Nachdem ich viel von G. K. Chesterton gelesen habe, kommen mir all jene suspekt vor, die sich vorwiegend abstrakt ausdrücken: „die Wirtschaft hinbiegen“ oder „die Kultur verändern“ oder auch „die Menschen lieben“. Warum? Weil man leicht der Selbstgerechtigkeit zum Opfer fällt, wenn es darum geht, utopische Visionen mit massiven Veränderungen zu verfolgen. Erst der Umgang mit den kleinen Dingen und den uns nahestehenden Menschen deckt unsere unschönen Seiten und Lieblosigkeit auf.
In einem Peanuts-Trickfilm aus dem Jahre 1959 sagt Linus Van Pelt, einer der Charaktere der erfolgreichen amerikanischen Serie: „Die Menschheit liebe ich ... aber Menschen kann ich nicht ausstehen!“ Wir reden immer abstrakt davon, „andere zu lieben“ und „Menschen zu lieben“ oder „deinen Nächsten zu lieben“. Doch sobald wir der „Andern“ um uns herum wirklich gewahr werden, sie als reale Personen erkennen, dann stellt sich häufig schnell heraus, dass es doch schwieriger ist als erwartet, unseren Nachbarn aus Fleisch und Blut zu lieben.
In Fjodor M. Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow erinnert sich der Starez an das Bekenntnis eines Arztes, den er einst kannte. Dieser sagte:
Ich liebe die Menschheit, […] aber ich wundere mich über mich selbst: Je mehr ich die Menschen liebe, desto weniger liebe ich den einzelnen Menschen, das Individuum. Wenn ich mich so meinen Träumereien hingab, hatte ich manchmal die seltsamsten Absichten, der Menschheit zu dienen. Ich würde mich vielleicht für die Menschen kreuzigen lassen, wenn das einmal irgendwie nötig wäre – und dabei bin ich außerstande, auch nur zwei Tage mit jemandem dasselbe Zimmer zu teilen. Ich weiß das aus Erfahrung. Kaum kommt er mir nahe, verletzt seine Persönlichkeit schon meine Eigenliebe und beeinträchtigt meine Freiheit. Ein einziger Tag genügt schon, mich den besten Menschen hassen zu lehren: den einen, weil er mittags zu langsam isst, den anderen, weil er Schnupfen hat und sich fortwährend schneuzt. Sobald die Menschen mit mir in Berührung kommen, werde ich ein Menschenfeind […]. (Deutsch von Hermann Röhl, Verlag Reclam jun., Leipzig 1924)
Viele von uns können ein Lied davon singen, welche Ärgernisse und Hindernisse es uns erschweren, die uns nahestehenden Menschen zu lieben. Bei der Ehe gehe es hauptsächlich um die „Kompatibilität“ der Partner, heißt es. Was aber, wenn das bedeutungsvollere Geheimnis darin besteht, ausgerechnet die „Inkompatibilität“ miteinander anzupacken, um ein ganzes Leben lang dem manchmal unausstehlichen Ehepartner treu zu sein? Weiter wird gesagt, unsere Kinder zu lieben sei eine ganz natürliche Sache. Was aber, wenn dazu übernatürliche Ausdauer benötigt wird? Einverstanden: Man legt sich darauf fest, die Kinder bedingungslos zu lieben, aber diese Liebe verlangt einen oft großzügigen Umgang mit dem, was man an ihnen in bestimmten Momenten so ganz und gar nicht mag.
„Slogans sind einfach, Leiden ist schwer. Und ohne Leiden gibt es keine wahre Liebe.“
Die sozialen Medien machen es uns leicht, uns selbst liebevoller darzustellen, als wir es tatsächlich sind. Denn wir definieren die Liebe neu, nämlich im Sinne unserer „Liebe für die Welt“ oder des „sozialen Wandels“, hinter welchem wir stehen, oder der „Anliegen, die wir unterstützen“. Doch Schlagworte wie „Glaubt allen Frauen“, „Black lives matter“ oder „Make America great again“ taugen nicht zum Prüfstand unserer Liebe. Slogans sind einfach, Leiden ist schwer. Und ohne Leiden gibt es keine wahre Liebe.
Wenn wir etwas Utopisches und Visionäres lieben und damit unser Verständnis der Liebe in eine abstrakte Welt verpflanzen, dann können wir schnell übersehen, wer vor unserer Nase steht: die Menschen um uns herum. Dazu Émile Cammaerts:
Es ist unendlich wertvoller, eine bestimmte Frau zu lieben als die Frauen, sich um fünf statt um fünfhundert Freunde zu kümmern, in einem kleinen statt einem grossen Haus zu wohnen und einem Land, einer Gesellschaft, einer Religion treu zu bleiben als allen Ländern, der Gesellschaft weltweit und allen Religionen.
Vor dem Hintergrund der heute permanenten Online-Präsenz verstehen wir es als Liebe, unsere hunderte oder tausende von Facebook-Freunden auf dem Laufenden zu halten. Doch der Gradmesser echter Freundschaft besteht in der Beziehung und der Sorge um die Handvoll unserer engsten Freunde. Wir meinen, das größere Haus sei besser als das kleinere, Massenprodukte besser als Handgefertigtes, das Essen im Restaurant schmackhafter als nach dem Familienrezept gekochtes.
Doch was ist, wenn wir in der Liebe zu den Dingen, die uns am nahesten sind, wirkliches Glück finden – etwas, was Cammaerts als „Romantik der kleinen Dinge“ beschreibt – und dadurch nebenbei bleibende Veränderung in der Welt bewirken? Was ist, wenn wir unsere Kultur des Zusammenlebens zu Hause fördern und unsere Nachbarn und unsere Gemeinde darin einschließen und sich dadurch nachhaltige Veränderung ergibt?
„Die Liebe kommt dann am weitesten, wenn sie in unmittelbarer Nähe aufbricht.“
Wenn wir nicht zuerst die uns am nächsten stehenden Menschen lieben, dann pulverisieren sich alle unsere Anstrengungen, die Gemeinde zu verbessern und die Gesellschaft zu einigen.
Wir müssen zuerst Gott lieben, bevor wir dem nachjagen, was wir für ihn tun wollen.
Wir müssen uns zuerst auf unsere Familie konzentrieren und erst dann auf die Familie.
Wir müssen zuerst den Nachbarn nebenan lieben, bevor wir die Nachbarschaft verbessern wollen.
Wir müssen zuerst das Gemeindemitglied lieben, mit dem wir wenig gemeinsam haben, bevor wir „die Gemeinde“ lieben.
Die Liebe kommt dann am weitesten, wenn sie in unmittelbarer Nähe aufbricht.