Entdeckungen in Paulus’ kürzestem Brief

Artikel von Justin Taylor
21. April 2021 — 8 Min Lesedauer

Es klingt vielleicht etwas seltsam, aber von allen Briefen des Apostel Paulus ist der kürzeste – der Brief an Philemon – wohl mein Lieblingsbrief. Ich bin froh, dass dies nicht der einzige paulinische Brief ist, den wir haben. Aber es wäre ein großer Verlust für die Gemeinde, wäre dieses kleine Buch nicht im Kanon enthalten. Im Laufe der letzten Jahre habe ich den Brief unzählige Male gelesen und kann bezeugen, dass er viele Schätze enthält: einzigartige Einsicht und Weisheit, die nur darauf warten, entdeckt zu werden.

Der Hintergrund

Der Apostel Paulus, der sich in Rom in Hausarrest befindet, diktiert einen Brief an seinen Freund Philemon. Philemon war ein wohlhabender Christ, der eine Hauskirche in Kolossea beherbergte. Wahrscheinlich hatte er sich einige Jahre zuvor durch Paulus' Dienst in Ephesus zu Christus bekehrt. Zunächst teilt Paulus seinem Freund mit, wie dankbar er für ihn ist und dass er für ihn betet. Dann spricht er über eine Person aus Philemons Vergangenheit: Onesimus.

Onesimus war zu dem Zeitpunkt, als er Philemons Haushalt verließ, dessen Leibeigener oder Sklave. Liest man zwischen den Zeilen, so ist er ihm wohl davongelaufen – und hat diesen dabei womöglich sogar bestohlen. Durch Gottes wunderbare Führung begegnete Onesimus dem inhaftierten Apostel in Rom, 1600 km weit weg von Philemon. In Folge ihrer Gespräche nahm Onesimus Christus als Herrn und Retter an und wurde ein geistlicher Sohn des Paulus – genauso wie Philemon viele Jahre zuvor.

„Sie sollten der Gemeinde und der Welt als lebendes Beispiel für eine evangeliumsbasierte Versöhnung und Zusammenarbeit dienen.“
 

Nun war Paulus alt geworden. Aufgrund seiner Inhaftierung war er abhängig von der Hilfe anderer und wünschte sich, dass Onesimus bei ihm blieb. Paulus ließ sich jedoch nicht von Bequemlichkeit und Komfort bestimmen. Seine Antriebskraft bildete das Evangelium. Dass Paulus Onesimus zurückschickte, tat ihm im Herzen weh, doch er sah in der Wiedervereinigung von Onesimus und Philemon eine Chance: Sie sollten der Gemeinde und der Welt als lebendes Beispiel für eine evangeliumsbasierte Versöhnung und Zusammenarbeit dienen.

Der Bote

Der Brief an Philemon war nicht der einzige Brief, den Paulus während seiner Gefangenschaft schrieb. Wahrscheinlich entstanden zur selben Zeit auch die Briefe an die Epheser und Kolosser. Im Kolosserbrief (Philemon lebte auch in Kolossea) finden wir ein kleines, faszinierendes Detail. Paulus schreibt, dass sein Bote Tychikus „alles, was mich betrifft“, mitteilen wird. Dieser habe auch einen Reisegefährten: „Onesimus, de[n] treuen und geliebten Bruder, der einer der Euren ist“ (Kol 4,7.9).

Wie kam der Brief an Philemon – zusammen mit den Briefen an die Epheser und Kolosser – 1600 km von Rom nach Kleinasien? Mit den Boten Tychikus und Onesimus.

Man kann sich gut vorstellen, wie Onesimus mit einem zusammengerollten Pergament in der verschwitzten Hand an die Haustür seines ehemaligen Herrn klopft. Er überreicht diesem den Brief, in dem Paulus erklärt, wie Onesimus Christ geworden ist, und in dem er eindringlich um die Versöhnung der beiden bittet.

Zu beachten ist, dass es in der antiken Welt kein „stilles Lesen“ gab. Außerdem adressierte Paulus den Brief auch an Appia (wahrscheinlich Philemons Ehefrau), Archippus (wahrscheinlich dessen Sohn) und an die gesamte Hauskirche. Man kann sich also vorstellen, wie intensiv diese Szene sein musste: In Onesimus Gegenwart las Philemon den Brief laut vor.

Das Anliegen

Dies ist der einzige Brief des Paulus, in dem er sein Apostelamt nicht in der Begrüßung erwähnt. Er möchte Philemon gegenüber deutlich machen, dass er ihm in erster Linie als Freund und nicht als geistlicher Vater schreibt. Anstatt seinem geistlichen Sohn einen direkten Befehl zu geben, zieht er es vor, seinen Appell auf der Grundlage der Liebe zu formulieren. Philemon soll am Ende nicht zähneknirschend einlenken, sondern sich bereitwillig und aus eigenem Antrieb fügen. Paulus formuliert seinen Wunsch so, dass Philemon dieses Angebot annehmen möchte.

Dabei bietet Paulus mehrere Anreize, von denen drei hier betrachtet werden sollen:

  1. Es wäre ein Gewinn.

Philemon würde nicht nur seinen Leibeigenen wiederbekommen – er würde auch einen geliebten Bruder in Christus gewinnen. „Philemon, du wünschst dir, dass die Menschen in deiner Gemeinde zum Glauben kommen und eure geistliche Familie wächst? Nun, dann nimm diese Situation als Geschenk an.“

  1. Es gibt nichts zu verlieren.

Falls Onesimus bei seinem Weglaufen etwas gestohlen hatte oder bei ihm verschuldet war, so sagt Paulus im Prinzip: „Schreib es auf meine Rechnung. Du schuldest mir zwar zufällig dein ganzes Leben, aber ich verspreche dir, dass ich alles zurückzahlen werde, was Onesimus dir schuldet.“ Paulus möchte, dass Philemon Onesimus so empfängt, als würde er Paulus selbst empfangen.

  1. Es würde Paulus Freude machen.

„Du könntest mir eine große Freude machen“, sagt Paulus. „Wenn ich sehe, dass meine Söhne im Glauben wie Brüder im Herrn zusammenleben, wird mein Herz in Christus erfrischt.“

Der Apostel fügt einen weiteren Anreiz hinzu, indem er sagt: „Ich werde wahrscheinlich bald in deiner Gegend sein. Bereite also bitte schon mal das Gästezimmer für mich vor. (Fühl dich bezüglich deiner Reaktion auf meine Bitte aber nicht unter Druck gesetzt!)“

Obwohl wir keine Überlieferung von Philemons Reaktion haben, wissen wir um Paulus‘ Vertrauen, dass Philemon Onesimus als Bruder im Herrn zuhause willkommen heißen wird.

Zwei Erinnerungen zum Schluss

Die meisten von uns hören an dieser Stelle auf, den Brief zu lesen. Das Ende enthält aber noch zwei ermutigende und ernüchternde Erinnerungen.

  1. Der Fall Markus

Im Schlusswort erwähnt Paulus „Markus“. Das ist nicht irgendein Typ namens Markus, sondern der Markus, der eins der vier Evangelien verfasst hat.

Jahre zuvor hatte Markus Paulus und Barnabas (Markus' Cousin) auf ihrer ersten Missionsreise unterstützt. Aber aus einem nicht näher bekannten Grund hatte er sie während der Reise im Stich gelassen (Apg 13,13). Als Barnabas Markus später zu einer anderen Reise mitbringen wollte, gerieten Paulus und Barnabas deswegen in eine „heftige Auseinandersetzung“ (Apg 15,39). Paulus wollte nicht, dass Markus mitkommt. Die Beziehung war offensichtlich zutiefst gestört.

„Keine Beziehung ist für ihn unwiderruflich irreparabel.“
 

Es wird nirgendwo berichtet, wie der Streit beigelegt wurde. Aber Dank dieses kurzen Briefes wissen wir, dass er beigelegt wurde. Paulus zählt Markus zu seinen Freunden und Mitstreitern des Evangeliums. Paulus hat etwas erlebt, was er sich nun von Onesimus und Philemon wünscht.

Diese kleine Ermutigung am Ende des Briefes sagt, dass wohlgesinnte Christen schmerzhafte Zerwürfnisse und ungelöste Konflikte haben können. Und doch ist das Ende der Geschichte noch nicht geschrieben. Möglicherweise sind da frühere Freunde, die dich tief verletzt haben. Du hast immer noch keine Versöhnung mit ihnen angestrebt, wodurch alles wieder richtiggestellt werden könnte. Das Beispiel von Paulus und Markus zeigt, dass der Versöhnungsprozess Jahre dauern kann, aber Gott ist geduldig. Keine Beziehung ist für ihn unwiderruflich irreparabel.

  1. Der Fall Demas

Ein weiterer Name sticht am Ende heraus: Demas. Paulus‘ Mitarbeiter Demas richtet ebenso wie Markus Grüße an Philemon aus.

Klingt der Name Demas nicht vertraut? Er taucht im zweiten Timotheusbrief, der nach dem Philemonbrief geschrieben wurde, noch einmal auf. Es ist einer der traurigsten Verse, die Paulus je geschrieben hat: „Demas hat mich verlassen, weil er die jetzige Weltzeit liebgewonnen hat“ (2Tim 4,10).

Demas, der nach außen hin ein Mitstreiter im Evangelium war, entpuppte sich als ein Abtrünniger in Verkleidung. Er war zwar dabei, war aber nie wirklich einer von ihnen (1Joh 2,19). Er war ein Wolf im Schafspelz (Matt 7,15). Demas wählte lieber den breiten Pfad der Welt als den schmalen Pfad des Kreuzes.

Und selbst das scheint mir auf seine eigene Art seltsamerweise ermutigend zu sein.

Einige von uns haben erlebt, dass Menschen, die uns nahe stehen, vom Herrn weggegangen sind und ihr Glaube Schiffbruch erlitten hat. Vielleicht ist es ein Freund oder Kollege, die Mutter oder der Vater, ein Bruder oder eine Schwester, der Sohn oder die Tochter. Es könnte sogar ein Pastor sein. Nachdem jemand gefallen ist, gehen wir tief in uns. Gibt es da etwas, dass ich hätte tun können? Etwas, dass ich hätte sehen müssen? Etwas, dass ich hätte sagen sollen?

Ich bin Paulus dankbar, dass er uns nicht bloß auffordert, „mit allen Menschen Frieden“ zu halten (Röm 12,18). Er setzt stattdessen zwei Bedingungen voraus: „Ist es möglich, so viel an euch liegt, so haltet mit allen Menschen Frieden.“

Auch wenn wir uns Mühe geben, werden Menschen, die wir lieben und denen wir vertrauen, sich dazu entscheiden, wegzugehen, damit sie nicht im Licht gehen müssen – egal was wir tun.

Am Ende des Tages

Am Ende des Tages werden wir alle vor dem Herrn stehen. Da gibt es manche, die uns in dieser Welt im Stich gelassen haben, mit denen wir uns eines Tages versöhnen werden. Und da gibt es welche, die zu uns stehen, die uns und Gott aber verlassen werden.

Bis dahin ist es unsere Berufung, Gottes Gnade in unserem Leben herrschen zu lassen (Phlm 1,25). Wir sollen unsere Augen auf ihn richten, auf den Anfänger und Vollender des Glaubens (Hebr 12,2). Zu wem sonst sollten wir gehen?