The Rise and Triumph of the Modern Self

Rezension von Daniel Vullriede
14. April 2021 — 18 Min Lesedauer

Was beschäftigt unsere Mitmenschen aktuell (abgesehen von der Pandemie)? – Was war den Menschen hingegen vor zehn, dreißig oder fünfzig Jahren wichtig?

Man braucht keinen Doktortitel, um zu sehen: Unsere Werte und das kulturelle Klima haben sich enorm gewandelt. Unterschiedliche Interessengruppen konkurrieren um Einfluss, um die Gesellschaft vor unliebsamen Trends zu schützen. Aber was ist am Ende allgemeingültig, was ist richtig und gerecht, gut und schön?

Dies ist keine neue Frage. Allerdings hat sich sowohl die Art der Antworten als auch der Tonfall geändert. So reicht heute schon ein Unterstrich oder Sternchen aus, um heftige Debatten über Gerechtigkeit, die Gesellschaft und das Menschsein anzufachen.

An dieser Stelle bietet der britische Theologe, Historiker und Professor Carl R. Trueman einen interessanten und notwendigen Blick in die Geschichte. Über die bloßen Symptome hinaus möchte er in seinem Sachbuch The Rise and Triumph of the Modern Self helfen zu verstehen, wie sich der Westen verändert hat und was alles dahintersteckt.

Das komplexe Buch wird nicht jedermann interessieren, dennoch ist es ein wichtiger Titel. Der Autor beleuchtet tiefgehende Fragen, bietet vielfältige Analysen und leistet Vorarbeit für dringend notwendige Diskussionen, die weit über eine platte Kulturkritik hinausgehen. Auch wenn der Autor seine eigenen Überzeugungen nicht verhehlt, stehen sie nie verzerrend im Vordergrund. An keiner Stelle schreibt Trueman polemisch, unfair, feindselig oder unsachlich.

Eine spannende Ausgangsfrage mit vielen Facetten

Nach einem Geleitwort von Rob Dreher (streitbarer Autor von Die Benedikt-Option) erläutert Trueman die Entstehungsgeschichte des Buches während seiner Zeit als Fellow an der Princeton University. Der Startpunkt für seinen Gedankengang ist die Aussage einer transgender Person: „Ich bin eine Frau, gefangen im Körper eines Mannes.“

Wie kommt es, dass dieses Statement heute für viele normal ist, vor wenigen Jahrzehnten aber noch Schulterzucken oder Kopfschütteln ausgelöst hätte? Der Brite ist überzeugt, dass hinter der sexuellen Revolution der letzten 60 Jahre eine viel längere und grundsätzlichere Umwälzung steckt.

Ein kurzer Überblick: Teil 1 des Buches („Die Architektur der Revolution“) stellt hilfreiche philosophische Konzepte vor, um den kulturellen Wandel in der Moderne differenziert zu verstehen. In Teil 2 („Die Grundlagen der Revolution“) bietet Trueman hingegen eine ideengeschichtliche Analyse anhand von Schlüsselgestalten des 18. und 19. Jahrhunderts, die das Menschsein v.a. psychologisch definiert haben.

Während Teil 3 („Die Sexualisierung der Revolution“) die Sexualisierung der Psychologie und schließlich die Politisierung der Sexualität in den Blick nimmt, geht Teil 4 („Der Triumph der Revolution“) auf aktuelle gesellschaftliche Trends im Westen ein, die nicht frei von Widersprüchen sind. Erst in einem abschließenden Kapitel nennt Trueman einige Gedanken und Vorschläge, wie Christen auf die Entwicklungen in der Gesellschaft reagieren könnten. Ein Stichwortverzeichnis rundet den Titel ab.

Wem dieser erste inhaltliche Überblick schon ausreicht, der kann gerne schon zum vorletzten Abschnitt dieser Buchbesprechung springen.

Sehhilfen für einen unverstellten Blick auf unsere Kultur

Um Einseitigkeiten zu vermeiden, stellt sich Trueman gleich zu Anfang methodisch breit auf. Er lässt unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen und kombiniert sie untereinander: Zunächst stützt er sich auf den katholischen Politikwissenschaftler und Philosophen Charles Taylor. Dessen Theorien veranschaulichen, wie der mit der Selbstverwirklichung einhergehende Individualismus sowie der Zwang zur Authentizität zum höchsten Wert der westlichen Gesellschaft wurde.

Das Weltbild der Menschen hat sich laut Taylor fundamental geändert: Sie können in der Welt um sich herum keine gegebene Ordnung oder gar einen tieferen Sinn entdecken, nach denen sie dann gemeinsam ihr Leben richten könnten („mimesis“). Stattdessen ist die Welt da draußen das sinnfreie und ziellose Rohmaterial, mit dem jeder Mensch allein den Sinn und Zweck für seine Existenz erschaffen muss („poiesis“).

Um die Spannungen in der Gesellschaft besser zu verstehen, kommt Trueman auf weitere Theorien Taylors zu sprechen – z.B. auf die sozialen Vorstellungsschemata (ähnlich den Plausibilitätsstrukturen), auf die dialogische Natur der menschlichen Identität und auf die Dynamik politischer Anerkennung von Minderheiten bzw. Interessengruppen.

Ergänzend dazu bieten die Arbeiten des jüdisch-amerikanischen Soziologen Philip Rieff Einsichten über die Dominanz des Individuellen und Therapeutischen, über den psychologisierten Menschen, über die sogenannte Antikultur von modernen, selbstgenügsamen Gesellschaften. Auch beschreibt er den Einfluss toxischer Kunstwerke („deathworks“), mit denen z.B. kulturelle Eliten die Werte und Tabus der Gesellschaft oft bewusst untergraben haben.

„Fragen mit einem tieferen Wahrheitsanspruch werden heute nicht mehr argumentativ ausgewertet, sondern emotional beiseitegeschoben.“
 

Ein dritter Impulsgeber ist der schottischstämmige Philosoph Alasdair MacIntyre. In seinen Augen ist die ernsthafte Diskussion im Westen über moralische Grundfragen zusammengebrochen – unterschiedliche Ideologien stehen sich unversöhnlich gegenüber; Fragen mit einem tieferen Wahrheitsanspruch werden heute längst nicht mehr argumentativ ausgewertet, sondern rein intuitiv abgewogen und emotional beiseitegeschoben.

Wer Truemans Hauptanalysen ernsthaft untergraben möchte, wird schon gleich zu Anfang einzelne Gedankengänge von Rieff, Taylor und MacIntyre dekonstruieren wollen. Allerdings stellt Trueman selbst punktuelle Schwachstellen heraus, um diese dann durch die methodische Kombination der drei Denker aufzufangen oder zu überwinden. Allein für sich genommen stellt der erste Teil des Buches bereits einen hilfreichen Verständnisrahmen bereit, um einigen Pathologien unserer Zeit auf den Grund zu gehen.

Von Dichtern und Denkern, von Radikalen und Weltverbesserern

Die Art, wie Trueman im zweiten Teil des Buches relevante Schlüsselpersonen der letzten 250 Jahre untersucht, ist detailreich und anregend zugleich.

Bereits das Kapitel über den Philosophen Jean-Jacques Rousseau zeigt, wo gewisse Selbstverständlichkeiten von heute herkommen. In seinen Bekenntnissen und weiteren Schriften unterstreicht Rousseau, dass für ihn erst das Innere den wahren Menschen aus- und wertvoll macht, und dass letztlich die Gesellschaft für die Probleme des Einzelnen verantwortlich ist (was jegliche Tradition und Geschichte automatisch in ein negatives Licht rückt). Auch betont er den Wert der Selbstliebe, die Priorität der unschuldigen Natur über die verdorbene Kultur, ebenso das Sentimentale und die eigenen Wünsche als Schlüsselfaktoren auf der Suche nach Selbstverwirklichung.

Vier wirkmächtige Dichter der britischen Romantik (William Wordsworth, Percy Bysshe Shelley, William Blake und Thomas De Quincey) gehen laut Trueman den nächsten Schritt: Sie entwickeln zentrale Grundgedanken der Aufklärung weiter und nutzen die Kunst, um die Menschen mit einer universalen Natur, mit sich selbst und mit einer tieferen Ethik in Verbindung zu bringen. Ihre Tabubrüche auf unterschiedlichen Ebenen sollten den damaligen Lesern vorbildhaft zeigen, dass letztlich die Ästhetik die wahre Ethik ausmacht, dass das eigene Empfinden die Moral bestimmt. Etwas verkürzt formuliert könnte man sagen: „Was sich gut anfühlt, ist auch richtig.“

Was macht den Menschen an sich und im Kern aus? Dass der Mensch gar keine feststehende Größe ist und sich auch keiner objektiven Norm anpasst, stattdessen individuell formbar und veränderlich ist – diese Gedanken führt Trueman auf drei neuzeitliche Denker zurück: Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Charles Darwin.

Nietzsche ist laut Trueman keineswegs Nihilist, allerdings ist er äußerst konsequent in seiner Religions- und Moralkritik. Für Nietzsche ist der Mensch frei von göttlichen Zwängen und zwangsläufig dazu angehalten, das eigene Leben beharrlich und autonom nach den eigenen Maßstäben zu gestalten.

Marx wiederum stellt Hegels idealistische Geschichtsphilosophie auf den Kopf und gibt ihr einen materialistischen Zug. Auf diese Weise stellt er die menschliche Natur als v.a. durch politische und wirtschaftliche Faktoren formbar dar; gleichzeitig stellt er mit Feuerbachs Religionskritik jegliche Vorstellung von Ethik und Moral in Frage, weil diese in seinem Denken von jeher der Unterdrückung dienen. Was Darwin wiederum so einflussreich macht, ist die scheinbar intuitive Logik hinter seiner Evolutionstheorie, mit der er die Menschheitsgeschichte von allen Zielvorstellungen befreit – das Universum folgt keinem Drehbuch und hat kein transzendentes Telos.

Sexualität und Politik – eine folgenreiche Verbindung

Auch wenn seine psychoanalytischen Theorien heute größtenteils überholt sind, so ist Sigmund Freud eine weitere Schlüsselperson. Vieler seiner Theorien haben Kreise in den intellektuellen Kreisen seiner Zeit gezogen, z.B. sein Strukturmodell von Ich, Über-Ich und Es; seine psychologische Kritik an der Religion als etwas Kindisches, Zwanghaftes oder Wahnhaftes; seine sexualtheoretische Entwicklungstheorie des Kindes; ebenso seine Kulturtheorien über die Zivilisation zwischen Zwang und Chaos.

Die einflussreichen und wissenschaftlich gehaltenen Schriften haben praktische Konsequenzen: Moral ist laut Freud ein gesellschaftliches Konstrukt. Außerdem ist die Sexualität weniger eine Aktivität als vielmehr ein Teil unserer Identität – aus diesem Grund geht es für den Menschen umso stärker um das persönliche Glück im Hier und Jetzt. Was die persönliche Erfüllung und Entwicklung verhindert, darf und muss im Prinzip überwunden werden.

Schließlich waren es die frühen Denker der Frankfurter Schule (Horkheimer und Fromm), die sich als Erste an eine mögliche Verbindung von Marxismus und freudschen Theorien heranwagten. Doch erst unter Wilhelm Reich, Herbert Marcuse und Simone de Beauvoir wurde das marxistische Konzept der politischen Unterdrückung mit der freudschen Vorstellung von der psychischen Triebverdrängung reflektiert und miteinander kombiniert.

Während Reich sich für eine politische, weil sexuelle Revolution stark machte und u.a. die Kernfamilie abschaffen wollte, ging es Marcuse nuancierter um die Überwindung des westlichen Kapitalismus bzw. um die langfristige, stetige Transformation der Gesellschaft.

„Wenn man die politische Unterdrückung psychologisch definiert, dann wird das subjektive Gefühl schnell zum Maßstab von Recht und Unrecht.“
 

Deutlich wird hier: Wenn man die politische Unterdrückung als Hauptproblem der Gesellschaft ansieht und sie v.a. psychologisch definiert, dann wird das subjektive Gefühl schnell zum Maßstab von Recht und Unrecht. Folglich konnte Marcuse die Einschränkung der liberalen Redefreiheit fordern (!), weil bereits Worte unterdrücken können. Parallel dazu bestimmte die existenzialistische Philosophin und Feministin Simone de Beauvoir die Frage nach der Wahrheit v.a. von der Empirik her, und unterschied zwischen einem biologischen und psychologischen Geschlecht.

Gerade dieser dritte Teil des Buches hat es in sich. Anstatt sich in konstruierten Verbindungen und Argumenten aus zweiter Hand zu verlieren, arbeitet Trueman eng an den Primärquellen. Sich auf die unterschiedlichen Weltbilder, Denkvoraussetzungen und Argumente einzulassen, erfordert einiges an Konzentration und Wendigkeit. Dennoch kommt Trueman seinen Lesern stets entgegen – er wiederholt regelmäßig zentrale Gedanken, unterstreicht die logischen oder historischen Verbindungen und erläutert die praktischen Konsequenzen der jeweiligen Theorie.

Neue Normalitäten in einer zersplitterten Welt

Im vierten Teil von The Rise and Triumph of the Modern Self erläutert Trueman, wie die bisher besprochenen Denkrichtungen, Theorien und Umwertungen schließlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Besonders in der Bewegung des Surrealismus ging es darum, dem Irrationalen und Unbewussten künstlerisch Ausdruck zu verleihen, auch auf subversive und erotisierende Weise die traditionellen Normen in der Gesellschaft zu überwinden.

In gewisser Hinsicht leistete der Surrealismus direkte Vorarbeit für die kulturelle Entschärfung der Pornographie. Während eine frühere Generation von Feministinnen darin noch eine klare Unterdrückung von Frauen erkannte, hinterfragt heute fast niemand mehr die moralische Brisanz dahinter. Vom Playboy-Magazin über Fernsehserien wie Game of Thrones bis hin zu Liedern von Ariana Grande – pornographische Anspielungen und Inhalte, Praktiken und Produkte sind längst im kulturellen Mainstream angekommen. Sie ‚helfen‘ den Menschen dabei, ihre Individualität auszudrücken und sich im Hier und Jetzt gut zu fühlen – allerdings ohne die tieferen sozialen, existenziellen und ethischen Folgen und Problematiken bedenken zu müssen.

Bis zu diesem Punkt hat Trueman aufgezeigt, wie das Menschsein seit der Aufklärungsepoche einseitig psychologisch umgedeutet wurde, wie schließlich die Psychologie sexualisiert wurde, und wie die individuelle Sexualität sich immer weiter zu einem politischen Thema entwickelte.

Aber ist Sexualität nicht vielmehr etwas Persönliches und Privates? Ist das ganze Thema nicht vielleicht etwas dramatisiert dargestellt? Dass dies nicht der Fall ist, weist der Autor nach, indem er die Argumentationslinien verschiedener Beschlüsse des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten seit 1992 untersucht, die 2015 zur landesweiten Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA geführt haben. Der Wortlaut der offiziellen Beschlüsse überrascht tatsächlich und passt zu Truemans ideengeschichtlicher Kulturanalyse.

Anschließend untersucht der Autor die Arbeiten des Philosophen Peter Singer, der als Professor am Center for Human Values der Princeton University lehrt. Singer selbst ist ein repräsentatives und kohärentes Beispiel für die Art von Weltbild und Ethik, die Trueman bis hierher beschrieben hat. Singer sieht in der Spezies Mensch nichts Besonderes, er unterscheidet zudem zwischen einem biologischen Menschen und einer menschlichen Person – die erste Kategorie hat für ihn nicht automatisch ein Recht auf Leben (dazu gehören z.B. Ungeborene, Neugeborene, aber auch Alzheimerpatienten). Eine Maxime in Singers ethischen Ausführungen ist außerdem die Frage, ob eine Entscheidung das persönliche Wohlbefinden von eigenständigen Personen fördert.

Dass die neue Denkart sich sehr problematisch in der Gesellschaft auswirken kann, erläutert Trueman zusätzlich noch an den universitären Konflikten und Diskussionen um Meinungsfreiheit, Hassreden, Mikroaggressionen und freie Forschung. In der Tat: Wenn die ganze Geschichte nur als ein Ringen um Herrschaft angesehen wird, wenn kein Lebensbereich mehr unpolitisch ist, und wenn Unterdrückung v.a. eine psychologisch-individualisierte Kategorie darstellt, dann untergräbt das mittelfristig eine demokratische Gesellschaft, so Truemans Überzeugung.

Ergänzend dazu skizziert der Autor die Geschichte der LGBTQ+-Bewegung von den 1950er Jahren bis heute. Auffällig ist, wie ablehnend sich schwule und lesbische Interessengruppen bis in die 80er Jahre gegenüberstanden. Interessant ist auch, dass sich homo- und bisexuell orientierte Menschen in ihrer Identität über die zweigeschlechtliche Ordnung von Mann und Frau definieren, im Gegensatz dazu aber transgender und queere Vordenker diese Aufteilung kategorisch ablehnen und aushebeln möchten.

Truemans These ist, dass sich die unterschiedlichen Gruppen im LGBTQ+-Spektrum v.a. über einen gemeinsamen Antagonisten (die heterosexuelle und -normative Hegemonie) näherkamen und schließlich eine politische Interessenallianz im Sinne Marcuses bildeten. Kritischen Aussagen von Feministinnen wie Janice G. Raymond und Germaine Greer, zentrale Aussagen von Judith Butler, aber auch der Kampfbegriff TERF als Schimpfwort zeigen: Die Bewegung ist bei genauerem Hinsehen in ihren Kernfragen stark gespalten.

Mit Blick auf die besorgniserregende Menschenrechtslage von homosexuell und transgender orientierten Menschen in vielen Ländern geht Trueman schließlich auf die international bekannten Yogyakarta-Prinzipien ein. Sie liefern in seiner Analyse ein typisch spätmodernes, durchaus problematisches Bild von Identität und Sexualität. Welche sozialen und politischen Konsequenzen sich logischerweise aus dem Welt- und Menschenbild dieses offiziellen Dokuments ergeben, diskutiert der Brite kompakt, aber nachvollziehbar.

Ein nicht neutraler Prolog als Schlusswort

Was ist der Mensch? Wer oder was definiert ihn, gibt ihm Wert? Was ist für uns heutzutage allgemeingültig, richtig und gerecht, gut und schön? Der westliche Kulturkreis bietet klare Antworten auf diese Fragen. Die sind bei genauerem Hinsehen aber keineswegs selbsterklärend und automatisch ersichtlich. Tatsächlich bauen sie auf ein ganz bestimmtes Welt- und Menschenbild auf, das eine ganz bestimmte Entwicklung genommen hat.

„Trueman hält seinen christlichen Lesern einen Spiegel vor und betont, dass auch sie vielfältig und stark vom Individualismus der Selbstverwirklichung beeinflusst sind.“
 

Trueman wiederholt zum Ende seines Buches sein Anliegen: Weder möchte er ein Klagelied über den Verfall der Welt anstimmen, noch möchte er Polemik gegenüber bestimmten Gruppen schüren, denn das kann bei Christen wiederum Selbstgerechtigkeit fördern und einen seltsamen, therapeutischen Effekt haben. Tatsächlich hält er seinen christlichen Lesern einen Spiegel vor und betont, dass auch sie – wir selbst – vielfältig und stark vom Individualismus der Selbstverwirklichung beeinflusst sind.

Im Lichte der aktuellen Debatten hält der Brite noch einmal zusammenfassend fest, dass es (1.) bei LGBTQ+ um viel mehr als nur um sexualethische und politische Fragen geht; und (2.) dass die sozialen Vorstellungsschemata die Menschen von heute bedeutend tiefer und unbewusster beeinflussen, als man annehmen könnte. Das wiederum fordert die christliche Kirche viel stärker heraus, als sie es zuweilen wahrhaben möchte.

Was schlägt er nun vor? Anstatt sich einer psychologisierten und individualisierten Gesellschaft pragmatisch anzupassen oder sich reaktionär in ihre jeweiligen theologischen Lager zurückzuziehen, sollten sich Christen zu drei Themenbereichen dringend mehr Gedanken machen:

  • Wie passen christliche Dogmatik und Ästhetik zusammen? Wie lassen sich die Richtigkeit und die überzeugende Schönheit des christlichen Glaubens heute gleichermaßen ausdrücken?
  • Inwiefern ist die Gemeinde ausdrücklich eine Gemeinschaft der Gläubigen? Wie prägt die christliche Gemeinschaft auf gesunde Weise die Identität, das Weltbild und den Wertekatalog der einzelnen Gläubigen?
  • Gerade für Protestanten eine Herausforderung: Welchen Stellenwert haben das Naturrecht und der menschliche Körper in unserer Theologie?

So gesehen ist Truemans Schlusswort ein Plädoyer und Doppelpunkt. Er möchte bei seinen Lesern eine tiefere Diskussion über den Stand der Dinge anstoßen. Denn ähnlich wie schon im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung sieht ein großer Teil der pluralistischen Gesellschaft das Christentum mittlerweile als etwas Problematisches und teilweise Unmoralisches an.

Und ähnlich wie schon im 2. Jahrhundert sollte die Gemeinde Jesu eine enge Gemeinschaft von Gläubigen sein, die an der gesunden Lehre festhalten und in ihrem Umfeld treu, überlegt und gewinnend ihren Glauben leben – selbst bei Gegenwind und Widerstand.

Highlights, Schwachpunkte und eine offene Frage

Wer der englischen Sprache mächtig ist und sich an Truemans Buch heranwagt, wird positiv überrascht sein.

Der Autor arbeitet methodisch reflektiert und zielgerichtet, er grenzt seine Untersuchung trotz ihrer immensen thematischen Breite sinnvoll ein. Darüber hinaus arbeitet er fast durchweg mit den Primärquellen jener Denker, die er analysiert und zueinander in Beziehung setzt. Seine Argumentation ist (nicht erst aufgrund seiner Prämissen) stimmig, er regt seine Leser zum Mitdenken und Weiterdenken an, gleichzeitig unterscheidet er nachvollziehbar zwischen Beschreibungen und Auswertungen.

Auch wenn sich der Autor an vielen Stellen auf den anglofonen Kulturkreis bzw. auf den amerikanischen Kontext konzentriert, so lassen sich seine Beispiele zumindest in ihren Grundgedanken oft direkt auf den europäischen Kontext übertragen.

Erfrischend und herausfordernd zugleich ist die Tatsache, dass der Brite kaum ausdrücklich theologisch oder dogmatisch argumentiert. Ohne Frage stützt er sich auf ein christliches Weltbild, auf biblische Wahrheiten und auf dogmengeschichtliche Gedankengänge. Dennoch geht es Trueman vor allem um eine ideengeschichtliche Studie und um eine grundlegende Kulturanalyse, nämlich als Vorarbeit und als Impulsgeber für weitere Diskussionen. Damit leistet er Theologen und theologisch Interessierten einen grundsätzlichen und überaus wertvollen Dienst, selbst wenn am Ende der Lektüre nicht wenige Fragen offenbleiben.

Wer wird die über 400 Seiten also lesen wollen? Da bin ich mir rückblickend nicht ganz sicher. Einerseits richtet sich Truemans Buch an ein breiteres Publikum, andererseits verlangt es den Lesern einiges an Vorwissen und Reflexion ab. Einerseits hat der Titel einen akademischen Zug, andererseits hätten sich manche Leser punktuell mehr thematische Vertiefungen und weiterführende Literatur gewünscht.

So lässt sich festhalten: Systematische und praktische Theologen, Apologeten, Leiter von christlichen Werken, Mitarbeiter in Kirchengemeinden im städtischen Kontext, christliche Akademiker unterschiedlicher Fachrichtungen, Seelsorger und christliche Therapeuten, christliche Verantwortungsträger in der Politik und sogar engagierte Jugendmitarbeiter werden von The Rise and Triumph of the Modern Self unheimlich profitieren – am besten im Austausch mit anderen, um offene Punkte weiterzudenken und um den Transfer in die Praxis zu gewährleisten.

Christliche Leser mit einer eher liberalen Theologie werden sich sicherlich an manchen von Truemans Einschätzungen reiben. Gleichzeitig fordert es sie heraus, bessere Erklärungsmodelle zu liefern, die eine ähnlich tiefe Diagnose bieten.

Auch wenn Trueman sich mit den letzten Zeilen seines Buches besonders an ein christliches Publikum richtet: Leser mit säkularen Überzeugungen könnten den Titel zunächst zur Hand nehmen, um Christen in ihrer begründeten Andersartigkeit besser zu verstehen, auch wenn sie deren Überzeugungen nicht teilen. Dann wiederum könnte der Titel sie, dank seines unaufgeregten Tonfalls und seiner gewichtigen Argumente, aber auch ernsthaft ins Grübeln bringen.

Am Ende geht es wohl nicht so sehr um die Frage, wer alles das Buch lesen wird. Wichtiger ist doch: Wie arbeiten wir jetzt damit weiter?

Buch

Carl R. Trueman, The Rise and Triumph of the Modern Self: Cultural Amnesia, Expressive Individualism, and the Road to Sexual Revolution, Wheaton: Crossway, 2020. Hardcover mit Schutzumschlag, 425 Seiten, ca. 29 Euro.