Herrschaft: Die Entstehung des Westens

Rezension von Timothy Keller
10. April 2021 — 10 Min Lesedauer

Bei Tom Hollands neuem Buch handelt es sich nicht so sehr um eine Geschichte des Christentums, als um eine Geschichte der komplexen Rolle, die das Christentum bei der Entstehung der modernen westlichen Kultur gespielt hat. Holland nennt diesen Einfluss zu Recht „paradox“, denn einerseits ist die christliche Kirche oft eindrucksvoll an ihren eigenen Idealen gescheitert, andererseits war sie sich häufig alles andere als einig darüber, was diese Ideale eigentlich sein sollten. Holland – ein preisgekrönter Althistoriker, Übersetzer klassischer griechischer Texte und Dokumentarist – lässt die unrühmlichen Flecken der Geschichte der Kirche nicht außen vor. Obwohl er großen Respekt vor bestimmten Aspekten des christlichen Glaubens hat, agiert er nicht als Apologet der Kirche.

Grundsätzlich gilt, dass sich die Relevanz von Hollands neuem Buch Herrschaft: Die Entstehung des Westens kaum überschätzen lässt. Holland argumentiert gut lesbar und außerordentlich gut dokumentiert, dass die zentralen Werte und Prioritäten der modernen, westlichen, säkularen Kultur tatsächlich dem Christentum entstammen. Und selbst in der heutigen Zeit, in der der Großteil der gebildeten Schichten das Christentum aufgegeben hat und die Religiosität auch in der Bevölkerung stark rückläufig ist, hat das Christentum einen so anhaltenden und durchdringenden Einfluss, dass wir die Kirche nicht für ihr Versagen verurteilen können, ohne uns dabei auf christliche Lehren und Überzeugungen zu berufen.

Die einzige Art zu leben

In einer langen, aber zugänglichen Darstellung entfaltet Holland einen Grundgedanken, der erstmals von Friedrich Nietzsche (1844–1900) formuliert wurde. Nietzsche sah, wie die Gebildeten Europas dem Christentum den Rücken kehrten und sich als wissenschaftliche Freidenker stilisierten, die angeblich ohne Gott lebten. Allerdings, argumentierte Nietzsche, glaubten sie immer noch an Menschenrechte, die Würde eines jeden Menschen, den Wert der Armen und Schwachen und an die Notwendigkeit, sich um sie zu kümmern und für sie einzutreten. Sie glaubten immer noch, dass Liebe ein großer Wert ist und wir unseren Feinden vergeben sollten. Sie glaubten immer noch an moralische Absolute – dass manche Dinge gut und andere Dinge böse sind – und insbesondere daran, dass es falsch ist, die Machtlosen zu unterdrücken.

Allerdings sind all diese Ideen, so Nietzsche, unverwechselbar christlich. Sie haben sich nicht in östlichen Kulturen entwickelt und die Griechen und Römer empfanden sie, als sie mit ihnen konfrontiert wurden, als lächerlich und unverständlich. Holland zeigt, dass die Schamkulturen des alten, heidnischen Europas – die der Angelsachsen, Franken und Germanen – die christliche Ethik mit ihren Forderungen, den Feinden zu vergeben und die Armen und Schwachen zu ehren, als gesellschaftliche Grundlage für völlig unbrauchbar hielten. Diese Ideen wären niemandem in den Sinn gekommen, der nicht an ein von einem einzigen, persönlichen Gott erschaffenes Universum glaubt, in dem alle Wesen nach seinem Ebenbild geschaffen sind und in dem es einen Erlöser gibt, der gekommen und in aufopfernder Liebe gestorben ist. Die Ideen konnten nur aus einer solchen Weltanschauung erwachsen – in einer anderen machen sie überhaupt keinen Sinn. Wenn wir stattdessen glauben, dass wir durch einen Prozess des Überlebens des Stärkeren zufällig hier sind, dann kann es keine moralischen Absolute geben und im Leben muss es, wenn überhaupt, um Macht und die Beherrschung anderer gehen, nicht um Liebe. Das, erklärte Nietzsche, ist die einzige Art zu leben, wenn man wirklich bereit ist, zuzugeben, dass der christliche Gott nicht existiert.

Als Nietzsche so argumentierte, wurde er als Wahnsinniger abgetan. Die liberale, säkulare Welt fuhr fort, das Narrativ zu spinnen, dass die moderne Welt nur dann in der Lage wäre, die Sklaverei zu beenden, Menschenrechte, empirische Wissenschaft und sexuelle Freiheit zu entdecken, wenn wir uns von der Dominanz der Kirche lösten und ihren Aberglauben und ihre Bigotterie hinter uns ließen.

Aber in den letzten 50 Jahren haben führende Wissenschaftler langsam aber sicher bewiesen, dass Nietzsche Recht hatte.

Bemerkenswerte Erkenntnisse

Brian Tierney von der Cornell University hat gezeigt, dass die Vorstellung von universellen Menschenrechten und der Gleichheit eines jeden Individuums nicht von den philosophes der Aufklärung, sondern von christlichen Kirchenrechtlern im 12. Jahrhundert entwickelt wurde, die sich auf das Buch Genesis und unsere Erschaffung im Ebenbild Gottes bezogen.

„Die Entstehung der modernen Wissenschaft hing von einer christlichen Weltanschauung ab, die die Welt als real und nicht als Illusion begreift – eine Welt, die von einem einzigen Geist mit universalen Gesetzen geschaffen wurde.“
 

Kyle Harper von der University of Oklahoma hat herausgestellt, dass der Gedanke, dass jeder Mensch ein Recht auf seinen eigenen Körper hat – und dass deshalb Sex völlig einvernehmlich sein muss –, ein erstaunlich neues Konzept war, das durch das Christentum in die Welt gekommen ist. Historiker (und Holland) berichten, wie Julian, der letzte heidnische Kaiser von Rom, versuchte, das Heidentum angesichts des aufstrebenden und wachsenden Christentums wiederzubeleben. Die Heiden jedoch verachteten die Armen und Schwachen, während die Christen sich für Kranke, Waisen, Arme und verlassene Säuglinge einsetzten. Das Ergebnis war, dass sich die Massen Christus zuwandten. Diese Art von Wohltätigkeit gegenüber den Bedürftigen entsprang unverwechselbar dem christlichen Glauben. Andere Gelehrte (und Holland) zeigen, dass die Entstehung der modernen Wissenschaft von einer christlichen Weltanschauung abhing, die die Welt als real und nicht als Illusion (wie im Osten) begreift – eine Welt, die von einem einzigen Geist mit universalen Gesetzen geschaffen wurde.

In der Frage der Sklaverei fällt die Bilanz der Kirche gemischt aus. Viele Europäer beriefen sich auf die Überlegenheit ihrer christlichen Überzeugungen, um ihre Eroberungen und Kolonialisierungen zu rechtfertigen. Und natürlich war ein Großteil der christlichen Kirche am afrikanischen Sklavenhandel beteiligt. Holland weist jedoch auf ein paar Punkte hin, die von den meisten Historikern akzeptiert werden. Der eine ist, dass Sklaverei überall in der Welt eine allgemein akzeptierte Realität war. Woher kam also die Idee, dass sie falsch war? Sie entstand mit Christen wie Gregor von Nyssa, die in der Bibel die Lehre der Gottesebenbildlichkeit entdeckten. Der zweite Punkt ist, dass die Emanzipation und Abschaffung der Sklaverei zwar zu langsam kamen, aber von christlichen Gruppen wie den Quäkern vorangetrieben wurden.

Worauf Holland aufmerksam machen will, ist, dass selbst dann, wenn Menschen versuchen, das Christentum zu verdrehen und es als Rechtfertigung für Missbrauch und Ausbeutung zu benutzen, es eine Kraft in sich trägt, die auf die Unterdrücker zurückschlägt:

Das Muster war nicht neu. Sei es bei der Zerstörung Tenochtitlans, bei der Besiedlung von Massachusetts oder beim Vordringen in die Provinz Transvaal - immer wieder leitete sich die Zuversicht, welche die Europäer dazu befähigte, sich jenen überlegen zu fühlen, die sie verdrängten, aus dem Christentum ab. Doch immer wieder war es im Kampf darum, dieser Anmaßung die Stirn zu bieten, ebenfalls das Christentum, das den Kolonisierten und Versklavten ihre markanteste Stimme verlieh. Es war zutiefst paradox. Keine anderen Eroberer, die sich Reiche aneigneten, hatten das im Dienst eines Mannes getan, der auf Befehl eines Kolonialbeamten zu Tode gefoltert worden war. Keine anderen Eroberer, die verächtlich die Götter anderer Völker abtaten, hatten an deren Stelle eine anzubetende Gottheit eingesetzt, die so ambivalent war, dass sie die Idee von Macht an sich problematisch werden ließ. (S. 519–520)

Hollands Buch enthält zu viele andere großartige Geschichten und bemerkenswerte Erkenntnisse, als dass sie hier alle aufgeführt werden könnten. Wir lernen, dass die Idee der Hoffnung – der Glaube an einen historischen Fortschritt, der zu mehr Gerechtigkeit und Frieden führt – eine spezifisch christliche Idee ist. Das in anderen Kulturen unbekannte Konzept der Trennung von Kirche und Staat war tatsächlich keines, das die säkulare Welt der Kirche aufzwang. Dieses Konzept war vielmehr von Augustinus entwickelt und damit begründet worden, dass das Christentum kulturell flexibel sei und den Menschen nicht im Detail vorschreibe, wie sie sich zu kleiden, was sie zu essen, wie sie zu leben und zu arbeiten hätten. Holland argumentiert sogar, dass die #MeToo-Bewegung eine Rekapitulation der ursprünglichen christlichen sexuellen Revolution war, die sich gegen eine Doppelmoral für Männer wandte.

Die große Frage

Erst ganz am Ende, und dann auch nur kurz, stellt Holland eine Frage, die über dem ganzen Buch schwebt. Wenn es stimmt, dass diese humanistischen Werte aus dem christlichen Glauben heraus entstanden sind, machen diese Werte dann nicht immer weniger Sinn – verlieren immer mehr an Überzeugungskraft – in einer Gesellschaft, die diesen Glauben aufgibt? Holland drückt es so aus:

Wenn der säkulare Humanismus sich nicht von der Vernunft oder von der Wissenschaft ableitet, sondern vom spezifischen Verlauf der Evolution des Christentums – einem Verlauf, in dem nach Meinung von immer mehr Menschen in Europa und Amerika Gott gestorben ist –, wie können seine Werte dann irgend etwas anderes sein als der Schatten eines Leichnams? Was sind die Grundlagen seiner Moral anderes als ein Mythos? (S. 556)

Holland lässt die Frage offen. Es geht nicht darum, ob einzelne säkulare Menschen sehr moralisch sein und sich uneigennützig für andere hingeben können. Natürlich können sie das. Es geht um die Frage, ob eine ganze Gesellschaft im Großen und Ganzen diesen Werten verpflichtet bleiben kann, nachdem sie die Weltsicht aufgegeben hat, auf denen die Werte beruhten.

Einige – wie Christian Smith in Atheist Overreach und Charles Taylor in Sources of the Self und A Secular Age – bezweifeln, dass diese Werte Bestand haben können, wenn das Christentum schwächer wird. Robert Bellah argumentiert in Habits of the Heart genauso.

Können wir, während wir den Glauben an Gott mehr und mehr aufgeben, humanistischen Werten verpflichtet bleiben? Der Atheist George Sciallabba erklärt in seiner Rezension von Taylor, warum uns diese Frage zumindest verunsichern sollte:

Ausdauer in der Tugend wird manchmal Selbstaufopferung erfordern. Und Selbstaufopferung scheint eine transzendente Begründung oder Motivation zu erfordern, von denen die häufigste und vielleicht auch logischste der Glaube an die Existenz Gottes ist. So argumentiert zumindest Taylor. Da die moderne Freiheit die Ablehnung von Transzendenz mit sich bringt, handelt es sich bei der modernen Tugend um eine völlig kontingente [d.h. sie ist logisch nicht notwendig]. Können wir ohne Gott auf Dauer gut sein? Taylors Zweifel sind beängstigend. Und da liegt der Kern meines Unbehagens: Der Verdacht – kraftvoll und plausibel, wenn auch taktvoll und tastend ausgedrückt – dass die Ideale, die ich am meisten schätze, im Grunde unzureichend sind. Ich gestehe, ich sehe keine Alternative, als mit diesem Verdacht zu leben – vielleicht dauerhaft.

Zurechtbringende Einblicke

Tom Holland räumt in jedem Kapitel mit gängigen Mythen über Christentum und Säkularismus auf. In keiner Weise lässt er die Kirche vom Haken für ihre unzähligen Versäumnisse. Auch lässt er säkulare Menschen nicht mit der Illusion leben, dass ihre Werte einfach selbstverständlich sind, das Ergebnis von Vernunft und wissenschaftlicher Untersuchung.

Wenn beide Seiten sich von Holland zur Einsicht bringen lassen würden, wären zukünftige Gespräche viel fruchtbarer und realitätsnäher.

Buch

Tom Holland, Herrschaft: Die Entstehung des Westens, 1. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta 2021, 624 Seiten, 28,00 €.