Jona und der unverschämt barmherzige Gott

Rezension von Andreas Münch
1. April 2021 — 8 Min Lesedauer

Wer kennt sie nicht, die biblische Geschichte vom Propheten Jona, der vor Gott floh, von einem Fisch verschluckt und anschließend wieder ausgespuckt wurde, und den Heiden Gottes Botschaft verkündigte. Im Gegensatz zu den anderen kleineren Prophetenbüchern der Bibel wird Jona relativ häufig gepredigt und man mag sich fragen, ob Tim Keller dem noch viel Neues hinzuzufügen hat. Die kurze Antwort ist: Ja, denn Keller gräbt wirklich tief im Buch Jona und arbeitet die Relevanz dieses kleinen Buches für Christen im 21. Jahrhundert heraus.

Dass Keller weiß, wovon er spricht, kann man der Tatsache entnehmen, dass er insgesamt 3-mal durch das Buch Jona gepredigt hat. In der Einleitung schreibt er:

„Ich habe diese, ‚unterschiedliche Anwendbarkeit‘ ganz persönlich entdeckt, als ich als Pastor drei Mal das Buch Jona Vers für Vers durchpredigte. Die erste Predigtreihe hielt ich in meiner ersten Gemeinde, in einer kleinen Arbeiterstadt im Süden der USA. Zehn Jahre später predigte ich erneut durch das ganze Buch, dieses Mal vor mehreren Hundert jungen, berufstätigen Singles in Manhatten. Und noch einmal zehn Jahre später predigte ich an den Sonntagen direkt nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York City über das Buch Jona.“ (S. 7–8)

Die Hauptbotschaft des Buches Jona sieht Keller in der Frage des Schriftgelehrten formuliert, der zu Jesus kam und ihn fragte: Wer ist mein Nächster? Keller schreibt:

„Wir stehen hier vor einer der Hauptbotschaften des Buchs Jona: Gott ist es wichtig, wie wir uns als Gläubige gegenüber Menschen verhalten, die ganz anders sind als wir.“ (S. 28).

Diese Hauptbotschaft entfaltet sich nach Keller in drei Hauptthemen: 1) Jona und Gottes Wort, 2) Jona und Gottes Welt und 3) Jona und Gottes Gnade. Der erste Hauptteil des Buches, die Kapitel 1-9, legen das Buch Jona unter diesen Gesichtspunkten aus, während der zweite Hauptteil, die Kapitel 10-12, sich dann mit dem Leser selbst beschäftigt. Hier geht es um unsere Beziehung zu Gottes Wort, Welt und Gnade.

Im Gegensatz zu einigen anderen Büchern von Keller sind die Kapitel dieses Mal verhältnismäßig kurz gehalten, was ich als hilfreich empfand, da jedes Kapitel reichlich Stoff zum Nachdenken bietet und der Leser dadurch nicht so schnell überfordert ist.

Jona und der Fisch

Da Tim Kellers Zielgruppe hauptsächlich Skeptiker des christlichen Glaubens sind, war ich gespannt, wie er den größten „Stein des Anstoßes“, die Episode mit dem Fisch, behandelt. Als ob Keller diesen Einwand der vermeintlichen Unglaubwürdigkeit bereits erwartet hatte, geht er direkt zu Anfang kurz darauf ein, um sich im Rest des Buches den Hauptthemen zu widmen:

„Wenn wir die Existenz Gottes und die Auferstehung Christi (ein viel größeres Wunder als Jonas Rettung) akzeptieren, ist es weiter kein Problem, das Buch Jona wörtlich zu lesen. Natürlich halten heute viele Menschen Wunder grundsätzlich für unmöglich, aber diese Wunderskepsis ist selbst ein Glaube, den man nicht beweisen kann. [...] Der Fisch wird nur in zwei kurzen Versen erwähnt, ohne jede Detailausschmückung. Die Erwähnung könnte nüchterner nicht sein. Lassen wir uns also nicht von dem Fisch ablenken.“ (S. 9–10).

Auslegung des Buches

Nach einer kurzen Einleitung wendet sich Keller nun den Hauptlehren des Buches zu. Dabei erklärt er kurz den historischen Hintergrund, wo dies für das Verständnis des Textes wichtig ist, und geht dann ans Eingemachte. Seite für Seite zeigt Keller auf, wie sich die Barmherzigkeit und Gnade Gottes sowohl im Leben von Jona als auch im Leben der Heiden (die Seeleute und Niniviten) zeigte. Keller kratzt nicht nur an der Oberfläche des Textes, sondern zeigt die eigentliche theologische Bedeutung auf. So beschreibt er Jonas eigentliches Problem mit den Worten:

„Jona hatte also ein Problem mit dem Job, den er bekommen hatte. Aber ein noch größeres Problem hatte er mit demjenigen, der ihm diesen Job gegeben hatte. [...] Jona hatte Zweifel an Gottes Güte, Weisheit und Gerechtigkeit.“ (S. 17).

Jonas Ungehorsam und Flucht zog einen Haufen Probleme und Stürme nach sich. Weil wir in Gottes Welt leben, kann es gar nicht anders sein. Wiederholt kommt Keller im Buch auf folgenden Gedanken zurück:

„Wenn wir unser Leben und unseren Sinn auf etwas anderes gründen als auf Gott, handeln wir gegen die Gesetzmäßigkeiten des Universums und gegen das, wozu Gott uns geschaffen hat.“ (S. 24).
„Seite für Seite zeigt Keller auf, wie sich die Barmherzigkeit und Gnade Gottes sowohl im Leben von Jona als auch im Leben der Heiden zeigte.“
 

Wer das Buch Jona aufmerksam gelesen hat, dem fällt auf, dass die Heiden in Bezug auf Gott weitaus besser wegkommen als der israelitische Prophet. Anhand der Seeleute, die Jonas Leben retten wollten, kommentiert Keller:

„Bekehrungen in Notlagen haben keinen guten Ruf. Wenn es kritisch wird im Leben, neigen viele Menschen dazu, Gott alles Mögliche zu versprechen, aber ist die Gefahr dann wieder vorbei, hören auch die Gebete und die geistlichen Übungen wieder auf. Doch diese Seeleute waren anders: Sie legten ihre Gelübde ab, nachdemdie Gefahr wieder vorbei war. Mit anderen Worten: Sie suchten Gott nicht, weil sie etwas von ihm brauchten, sondern sie beteten seine Größe an. So beginnt echter Glaube.“ (S. 54).

Im Laufe des Buches greift Keller immer wieder auf Ansätze zurück, die er in seinen anderen Büchern umfassender beleuchtet hat, wie etwa den Aspekt der Gerechtigkeit Gottes und was diese Lehre praktisch für uns Christen bedeutet. Immer wieder legt er dabei auch den Finger in die Wunde der westlichen Gemeinden im 21. Jahrhundert, etwa wenn er schreibt:

„Wir erleben selten Christen, die sich gleichermaßen für die furchtlose Predigt des Wortes Gottes engagieren und für Gerechtigkeit und Hilfe für die Armen, doch theologisch sind beide untrennbar.“ (S. 73).

In Kapitel 9, „Das Herz der Barmherzigkeit“, fasst Keller die Praxis der Barmherzigkeit Gottes gut zusammen, die sich sowohl in der vergebenden Geduld als auch im aufrüttelnden Reifeprozess zeigt. Einerseits erduldet Gott die Widerspenstigkeit seines Propheten und schenkt ihm Rettung um Rettung.

„Auf der anderen Seite lässt Gott den störrischen Jona auch nicht einfach in Ruhe. Er lässt ihn nicht ungestört weitermachen mit seinen törichten Einstellungen und seinem falschen Verhalten. Er schickt ihm einen Sturm, dann einen Fisch, dann eine Pflanze. Wieder und wieder beauftragt er ihn, und zum Schluss stellt er ihn direkt zur Rede. Hier sehen wir, wie Gottes Gerechtigkeit und Liebe perfekt zusammenwirken. Er ist zu heilig und zu liebevoll, um Jona kurzerhand zu vernichten oder ihn einfach so zu lassen, wie er ist. Er ist auch zu heilig und zu liebevoll, um uns so zu lassen, wie wir sind.“ (S. 100).

Wie Gottes Veränderungsprozess sich in unserem Leben gestaltet, erklärt Keller dann ausführlicher in den folgenden drei Kapiteln.

„Wenn dieses Evangelium Jona verändern konnte, dann kann es jeden verändern – auch Sie.“
 

In Kapitel 10, „Unsere Beziehung zu Gottes Wort“, kommt Keller noch einmal auf die Kernpunkte des Evangeliums zurück, dass wir Menschen wie Jona grundsätzlich vor Gott auf der Flucht sind, weil wir im Grunde seinem Wort nicht glauben. Wir spüren die Konsequenzen unserer Sünde deutlich (die Stürme in unserem Leben), aber Gott hat sich in Jesus Christus herabgelassen, um uns Menschen aus unserem selbstverschuldeten Elend zu befreien. Kapitel 11 behandelt dann das Thema „Unsere Beziehung zu Gottes Welt“. Hier beleuchtet Keller die Lehre von der Ebenbildlichkeit Gottes aller Menschen, zeigt die weitreichenden Konsequenzen dieser Lehre auf und klärt beispielsweise die Frage, inwieweit Christen sich in Stadt und Politik engagieren sollen. Abschließend kommt Keller in Kapitel 12 noch einmal auf unsere Beziehung zur Gnade Gottes zu sprechen. Er betont noch einmal, wie wichtig dieses Thema ist und wie schnell wir die Gnade Gottes missverstehen können:

„Wenn Jona das Geheimnis von Gottes Gnade missverstehen konnte, dann können wir das auch. Unsere größten Probleme rühren daher, dass wir die Tiefen von Gottes Gnade nicht erkennen. Solange wir diese Gnade nicht verstehen, sind wir, wie Jona, nur ein Schatten von dem, was wir sein könnten und sein sollten.“ (S. 151).

Hier dringt Keller noch einmal zum Herz des Evangeliums vor und hilft uns, das wahre Wesen der Gnade Gottes zu verstehen. Von diesem Evangelium schreibt Keller abschließend: „Wenn dieses Evangelium Jona verändern konnte, dann kann es jeden verändern – auch Sie.“ (S. 167).

Fazit

Dieses Buch ist eines der kürzeren Bücher von Keller. Dennoch bietet es reichlich Stoff zum Nachdenken, insbesondere darüber, wie man andere Menschen betrachtet, über sie denkt und mit ihnen umgeht. Selbst langjährige Christen, die schon viel über das Buch Jona gehört oder gar selbst über Jona gepredigt haben, werden hier noch etwas Neues entdecken. Gleichzeitig eignet sich das Buch auch zur Lektüre für Nicht-Christen, die von Kellers gewinnender Art und ausführlichen Darlegung des Evangeliums profitieren werden.

Buch

Timothy Keller, Jona und der unverschämt barmherzige Gott, Brunnen-Verlag: Gießen, 2021. 181 Seiten, 17 EUR.