Ein zweiter Blick auf Calvin und Kultur
Eine Replik auf die Interpretation Max Webers
Einer der bekanntesten Sozialwissenschaftler schreibt Johannes Calvin den Aufstieg des Kapitalismus und im weiteren Sinne der modernen westlichen Kultur zu. Das ist eine ziemliche Hommage an Calvin, dem damit ein beachtlicher Einfluss zugerechnet wird. Obwohl an dieser Behauptung etwas Wahres dran ist, offenbart die dahinterstehnde wissenschaftliche Disziplin ein größeres Missverständnis über Calvin und auch die Reformation.
Max Weber und die Erwählungslehre
Im Jahr 1904 veröffentlichte der deutsche Gelehrte Max Weber Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Weber ging der Beobachtung nach, dass der industrielle Fortschritt vor allem in jenen Ländern seinen Anfang nahm, die protestantisch und nicht römisch-katholisch oder nicht-christlich geprägt waren. Damit profilierte er sich als Vater der modernen Sozialwissenschaft.
Weber behauptete, das Christentum sei früher weltfremd gewesen. Das höhere spirituelle Ideal des Mönchtums habe eher in Armut als in Reichtum gelegen, in einem Leben des Gebets und nicht in einem weltlichen Leben. Die Reformation verkündete jedoch die Lehre von der Berufung, gemäß der das christliche Leben in der Welt und insbesondere in der produktiven Arbeit gelebt werden sollte.
Nach Ansicht von Weber bedeutete dies die Verlagerung der klösterlichen Disziplin, Selbstverleugnung und Askese in das säkulare Leben. Calvinistische Christen drückten ihren religiösen Eifer durch harte Arbeit aus, wodurch wiederum Reichtum angehäuft würde. Aber sie betrachteten luxuriöse Zurschaustellungen und verschwenderische Ausgaben immer noch als weltlich und damit als moralisch problematisch. Statt ihren hart erarbeiteten Reichtum auszugeben, neigten die Calvinisten dazu, ihn zu sparen. Calvinistische Geschäftsleute steckten ihre Gewinne in ihre Unternehmen oder investierten ihr Geld über Banken oder Aktiengesellschaften in andere Unternehmen. So entstanden „Kapital“ und „Kapitalismus“.
Die Anhänger Calvins, so Weber, hätten einen besonderen Anreiz gehabt, hart zu arbeiten und erfolgreich zu sein. Weber argumentierte, dass Christen aufgrund der Erwählungslehre Calvins nie sicher sein konnten, ob sie wirklich gerettet waren. Ein möglicher Weg zur Gewissheit ergab sich in den Früchten ihres Glaubens, also in guten Werken und in Gottes Segnungen, die als Beweise für die Errettung interpretiert wurden. Zu Gottes Segnungen gehörte, so Weber, unter anderem geschäftlicher Erfolg.
Weber stellte sich die Calvinisten des 17. Jahrhunderts so vor, dass sie fleißig arbeiteten, Geld verdienten und Reichtum anhäuften, um sich selbst und vor allem ihren Nachbarn zu beweisen, dass sie in den Himmel kommen würden.
Man bedenke, worauf diese „Weber-These“ hinausläuft: Die Erlösung erfolgt am Ende doch durch Werke. Webers Interpretation lässt Gnade, Christus und das Evangelium außen vor.
Sicherheit durch die Erwählungslehre
Die Anhänger Calvins wurden im Allgemeinen nicht von der Sorge gequält, dass sie nicht zu den Auserwählten gezählt werden könnten. Vielmehr schätzten sie mehr als die meisten Christen die Gewissheit der Errettung. Tatsächlich verstanden sie die Lehre von der Erwählung so, dass diese ihnen Gewissheit gab. Wenn Gott mich auserwählt hat, ist meine Errettung absolut sicher.
„Der Glaube an das Sühnewerk Christi am Kreuz und die Überzeugung ‚Er ist für mich gestorben‘ ist die Grundlage des christlichen Lebens.“
Außerdem liegt die Erlösung in Christus. Der Glaube an das Sühnewerk Christi am Kreuz und die Überzeugung „Er ist für mich gestorben“ ist die Grundlage des christlichen Lebens. Weber hatte übersehen, dass Calvin gelehrt hatte – was seine Anhänger natürlich wussten – dass man durch den Glauben gerechtfertigt wird, nicht durch Spekulationen über die Erwählung oder durch harte Arbeit.
Dieser Glaube wiederum soll in der Berufung gelebt werden. Dabei geht es aber nicht in erster Linie um den „Beruf“, wie wir ihn heute verstehen, sondern mehr um die Beziehungen, in die Gott uns ruft. Wir haben Berufungen in der Kirche, im Staat und in der Familie. Bei allen Berufungen, auch am Arbeitsplatz, betonten die Reformatoren, bestehe ihr Zweck nicht darin, geistlich erbauliche Disziplin um ihrer selbst willen zu üben, sondern den Nächsten zu lieben und ihm zu dienen.
Die Reformation hatte tiefgreifenden Einfluss auf die Kultur, aber nicht aus den von Weber genannten Gründen. Meiner Ansicht nach hat die Lehre von der Berufung zur „protestantischen Arbeitsethik“ und damit letztlich zur freien Marktwirtschaft beigetragen.
Man bedenke aber auch die durch Bildung bewirkte soziale Mobilität, die durch die reformatorische Lehre, dass alle Christen die Bibel lesen sollten, für alle sozialen Schichten neu ermöglicht wurde. Ein Bauer, der seine Bibel lesen kann, ist auch in der Lage, so ziemlich alles zu lesen, was ihm Zugang zu Informationen verschafft, die ihn befähigen, seinen Hof zu verlassen und vielleicht sein Glück zu machen.
Dass die „Puritaner“, von denen Weber spricht, dazu neigten, moralisch aufrecht zu sein und Selbstverleugnung zu praktizieren, lag nicht daran, dass sie meinten, beweisen zu müssen, wie christlich sie waren. Puritaner waren diejenigen, die am wenigsten glaubten, dass ihre Werke etwas mit ihrer Erlösung zu tun hatten. Und doch wurden sie für ihre moralische Rechtschaffenheit so berüchtigt, dass das Wort Puritaner sprichwörtlich wurde. Aber ist das nicht ein Beweis für das, was Calvin lehrte, nämlich dass gute Werke die natürliche Folge des Glaubens sind?
Einige von Webers Anhängern meinen heute, Calvin habe den Wechsel von der Konzentration auf den geistlichen Bereich hin zum materiellen Bereich, vom Jenseits zum Diesseits, eingeleitet.
Der Fehler liegt darin, weiterhin in den alten klösterlichen Dichotomien zu denken. Der kulturelle Einfluss der Reformation bestand nicht darin, von den geistlichen Ständen in den weltlichen Bereich abzuschwenken. Vielmehr ging es um die Überwindung dieser Trennung. Nicht Gesetze und Werke, sondern der Glaube an Christus trat aus dem Kloster seinen Weg in die Welt an.