Das Vermächtnis Herman Bavincks – ein Interview
Es war ein stürmisches Jahrzehnt für den holländischen reformierten Theologen Herman Bavinck (1854–1921). Die Übersetzung seines vierbändigen Werkes in die englische Sprache löste zur Jahrhundertwende eine Welle des wissenschaftlichen und pastoralen Interesses aus. In rasantem Tempo erschienen neue Editionen und Übersetzungen seiner Werke, außerdem neue akademische Monografien. Dies geschah aus gutem Grund. Bavincks theologische Arbeit ist meisterhaft – der Schrift verpflichtet, Erkenntnisse aus der Kirchengeschichte reflektierend, die Anliegen der modernen Welt im Blick.
Häufig empfinden wir theologische Dogmatik als abstrakte Idee, die sich außerhalb von Zeit und Raum befindet. Wir denken, man könne eine Lehre einfach so, ohne jegliche Veränderung, aus einem Kontext herausnehmen und in einen anderen verpflanzen. Bavinck war sich jedoch der Tatsache deutlich bewusst, dass seine Arbeit in einem konkreten zeitlichen und kulturellen Kontext stattfindet. Sie stammt aus der Feder einer konkreten dreidimensionalen Person, die durch ihre Erziehung, eine konfessionelle Tradition, Gesellschaft, Bildung, Erfahrungen, Freunde und eine Vielzahl anderer Einflüsse geprägt wurde.
Heute genießen die Werke Bavincks erneut einen Platz an der Sonne. Und mit dem Erscheinen eines lang ersehnten Buches wird nun auch der vielseitige Mann selbst ins Licht gerückt: Bavinck. A Critical Biography von James Eglinton. Eglinton, Dozent an der Universität in Edinburgh, ist bestens befähigt, solch ein Buch zu schreiben. Mit ihm habe ich über die neu erschienene Biografie gesprochen.
Brian Mattson: Warum sollten sich heutige Gelehrte und Pastoren für Herman Bavinck interessieren? Was zeichnet sein Lebenswerk aus und macht es heute noch relevant?
James Eglinton: Herman Bavinck ist einer der herausragendsten christlichen Theologen des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften verbinden eine konsequente Auslegung der Heiligen Schrift (sowie eine lebenslange Verpflichtung ihrer Autorität gegenüber) mit der Geschichte der christlichen Traditionen und mit den großen Fragen seiner Zeit. Er schuf ein Werk, das die Theologie in das 20. Jahrhundert hineinbrachte, während gleichzeitig die Verwurzelung in der Tradition vergangener Zeiten sichtbar blieb. Somit schaffte er es, etwas Neues mit der Theologie zu tun, aber nicht auf Kosten der Theologie. Dieses Ziel verfolgen viele Theologen, doch nur wenigen ist es in der jüngsten Vergangenheit so gut gelungen wie Bavinck.
Seine entschiedene Hingabe an die calvinistische Ausrichtung innerhalb des breiteren christlichen Spektrums verknüpfte er mit einer erstaunlichen Großzügigkeit gegenüber denen, die außerhalb davon standen. Von seiner Irenik (Wunsch nach friedlichem Diskurs zwischen Anhängern verschiedener christlicher Auslegungen und Lehren [Anm. d. Übers.]) können wir heute in unserer stark polarisierenden Zeit viel lernen. Obwohl viele seiner engsten Freunde gleichgesinnte Calvinisten waren, hatte er auch einige langjährige und enge Freundschaften mit Christen anderer Ausrichtung, in einem Fall sogar mit jemandem, der sich vom Christentum abgekehrt hatte: Sein lebenslanger Freund Christiaan Snouck Hurgronje war ein theologisch liberaler Aristokrat, der zum Islam konvertierte. Bavinck suchte solche Beziehungen zu „kritischen Freunden“ und investierte in sie, wodurch er versuchte, Scheuklappendenken zu vermeiden. Heute wird so etwas immer seltener. In dieser Hinsicht brauchen wir mehr Leute wie Bavinck als Vorbilder.
Intellektuell betrachtet ist sein Werk immer noch nützlich. Seine Reformed Dogmatics waren zu seiner Zeit beispiellos und sind immer noch hervorragende Quellen für Pastoren und Gelehrte. Er befasste sich aus theologischer Perspektive mit der intellektuellen und kulturellen Entwicklung des frühen 20. Jahrhunderts, die gewissermaßen eine junge Version unserer eigenen Kultur ist. Seine Schriften und Reden beschäftigten sich in diesen Jahren mit Kolonialismus, Geologie, Psychologie, Pädagogik, den veränderten sozialen Rollen von Frauen, technologischem Fortschritt, Rassismus, Bioethik, Erziehung, Politik und Krieg. Einige seiner abschließenden Notizen erwähnen die Bedeutung der Relativitätstheorie Einsteins und die Notwendigkeit, dass Theologen sich mit dieser speziellen Entwicklung auseinandersetzen. Darüber hinaus argumentiert er in seinen Werken aus diesen Jahren, dass die westliche Kultur sich von ihrer christlichen Vergangenheit entfernt habe und nun erneut evangelisiert werden müsse. Auch ein Jahrhundert später erweist sich seine Arbeit häufig als vorausschauend, anregend und lesenswert.
Mattson: Sie beschreiben, dass der junge Bavinck nur recht zögerlich Pastor wurde, dann aber in diese Rolle hineinwuchs und traurig war, als er seine Stelle verließ, um zu unterrichten. Bietet die Geschichte seiner kurzen Zeit als Pastor eine Ermutigung für heutige Pastoren?
Eglinton: Absolut. Nach seiner abgeschlossenen Promotion wurde er Pastor. Teils, da es keine passende Stelle an der Universität gab, teils, weil die andere für ihn naheliegende Option – das Unterrichten am Predigerseminar der Kirche – pastorale Erfahrung erforderte. Er hatte in seiner Pastorenstelle keine leichte Zeit. Er war weit weg von Familie und Freunden und fühlte sich einsam. Aus einem beschäftigten Studenten mit aktivem sozialem Leben war ein isolierter junger Pastor in einer Kleinstadtgemeinde geworden. Darüber hinaus kämpfte er mit dem Leben als Alleinstehender, da kurz zuvor eine Liebesbeziehung in die Brüche gegangen war. Einer seiner besten Freunde, der ihn in der ersten Zeit als Pastor stark unterstützt hatte, starb unerwartet. Seine Gemeinde war aufgrund von Lehrfragen gespalten und hatte eine komplizierte Vorgeschichte.
Inmitten all dieser Dinge, während er seinen Pflichten nachging, kämpfte Bavinck mit Zweifeln an seiner eigenen Ernsthaftigkeit. War er wirklich mit ganzem Herzen bei der Arbeit oder arbeitete er einfach sein Programm ab? Ich glaube, dass Bavinck erst an seinem ersten Geburtstag als Pastor realisierte, wie sehr er die Aufgabe liebgewonnen hatte: Viele Leute aus der Gemeinde kamen mit sorgfältig ausgewählten Geschenken und Kleinigkeiten, die ihre Wertschätzung zeigten. Die Gemeinde war gewachsen und er stellte fest, wie viel er und die Gemeinde einander bedeuteten. Als er dann Dozent am Predigerseminar wurde, war er aufrichtig traurig, die Gemeinde zu verlassen.
In dieser Geschichte gibt es also vieles, mit dem sich Pastoren identifizieren können – insbesondere junge Pastoren in der harten, ersten Zeit, die versucht sind, aufzugeben.
Mattson: Bavinck war ein begeisterter Akteur in der theologisch-sozialen Bewegung, die von Abraham Kuyper gegründet und schließlich als Neo-Calvinismus bezeichnet wurde. Für Leser anderer christlicher Traditionen mag dieser Begriff abschreckend wirken und sie davon abhalten, Texte Bavincks zu lesen. Könnten Sie kurz erklären, was Neo-Calvinismus ist und warum er über die Grenzen der eigenen Tradition hinaus von Interesse sein kann?
Eglinton: Zunächst einmal ist Neo-Calvinismus nicht mit dem Neuen Calvinismus von heute gleichzusetzen. Der Neue Calvinismus, die „Jung, rastlos und reformiert“-Bewegung (engl. Young, Restless and Reformed), weist auf eine Entwicklung im aktuellen nordamerikanischen konservativen Evangelikalismus hin, die sich an calvinistischen (statt arminianischen) Ansichten über die Errettung orientiert.
Trotz des ähnlichen Namens ist der Neo-Calvinismus eine andere Bewegung. Er entstand im holländischen reformierten Christentum des späten 19. Jahrhunderts unter der Leitung des Theologen und Staatsmanns Abraham Kuyper. Die Bewegung war eine christliche Antwort auf den Einfluss der Werte der französischen Revolution innerhalb der holländischen Kultur. Kuyper führte eine wachsende Zahl von Calvinisten (die sich anfangs als Anti-Revolutionäre kleideten), die dem Druck der französischen Revolution, alle Bereiche des holländischen Lebens zu säkularisieren, Widerstand leisteten. Dies taten die Neo-Calvinisten durch eine ausdrücklich christliche Welt- und Lebenssicht, die den Gläubigen half, in jedem Lebensbereich christlich zu denken und zu handeln.
In der Praxis bedeutete dies die Schaffung einer Vielzahl von neuen sozialen Einrichtungen mit reformierter Ausrichtung. Diese unterstützten ihre reformierte Anhängerschaft dabei, ihren Glauben auszuleben. Der Neo-Calvinismus führte zur ersten modernen politischen Partei der Niederlande (die Anti-Revolutionaire Partij, ARP), zu neuen reformierten Zeitungen, reformierten Schulen, reformierten Studentenvereinigungen, reformierten Arbeiterverbänden und einer reformierten Universität (die Freie Universität Amsterdam). Als Begründung verwiesen die Neo-Calvinisten mit neuen Argumenten auf die Gewissensfreiheit. Sie sahen die Aufgabe des Staates in der Ermöglichung – und nicht der willkürlichen Begrenzung – der grundlegenden bürgerlichen Freiheiten der gesamten Bevölkerung. Die gleichen Freiheiten sollten laut Neo-Calvinisten ebenso für die niederländischen Katholiken wie auch für den wachsenden post-christlichen Teil der Gesellschaft gelten.
Bavincks Neo-Calvinismus wird manchmal mit negativen Stereotypen belegt: theokratisch, anti-demokratisch, thriumphalistisch, der Kulturrelevanz verfallen, und vieles mehr. Tatsächlich sind diese Vorurteile aber platt und unsolide. Mehr als von irgendetwas sonst ist der Neo-Calvinismus von dem tiefen Wunsch geprägt, alle Bereiche des Lebens auf die Ehre Gottes auszurichten, verbunden mit einer modernen Verpflichtung zu den liberal-demokratischen sozialen Freiheiten. Damit einem diese Dinge wichtig sind, muss man kein Niederländer sein.
Mattson: Nach der Jahrhundertwende dokumentieren Sie einen Wandel in Bavincks Einstellung – weg von einem Verfechter und Verteidiger des Neo-Calvinismus, hin zu einem Verteidiger eines allgemeineren, weiter gefassten Christenstums. Könnten Sie kurz erläutern, was (oder wer) diesen Wandel angestoßen hat und ob bzw. wie dies für uns heute relevant ist?
Eglinton: Noch in Bavincks Jugend hatte die in den Niederlanden dominante liberal-theologische Schule (der Universität Leiden) die Position vertreten, dass sich das Christentum im Todeskampf befinde und in einer säkularen Gesellschaft keine Zukunft habe. Als Bavinck dann ein junger Theologe war, hatte diese Vision ausgedient. Es bildeten sich neue theologische Gruppierungen, jede mit einer eigenen Vision von der Zukunft des Christentums in den Niederlanden. (Die Neo-Calvinisten waren eine dieser Gruppen.) In den folgenden zwanzig Jahren dachte Bavinck, der Neo-Calvinismus würde sich in diesem Wettbewerb durchsetzen. Es sei nur eine Frage der Zeit, so glaubte er, bis die Niederländer realisieren würden, wie sehr ihre Psyche als ganze Nation durch den Calvinismus geformt worden war, und bis sie sich ihm neu verpflichten würden. In diesen Jahrzehnten konnte er sich überhaupt nicht vorstellen, dass sich die niederländische Kultur so entwickeln könnte, wie sie es schlussendlich tat.
In dieser Phase seiner Lebens kannte man ihn daher als angesehenen öffentlichen Verteidiger des Neo-Calvinismus. So reiste er beispielsweise 1892 als Abgesandter des Neo-Calvinismus zu englischsprachigen Presbyterianern nach Nordamerika. Gegen Ende seines fünften Lebensjahrzehnts begann er jedoch, in seiner öffentlichen Apologetik ein allgemeineres Christentum zu betonen, neben dem – und nicht auf Kosten des – Neo-Calvinismus.
In meiner Biografie wird dieser Wandel auf eine Gesinnungsänderung um 1900 zurückgeführt, das Jahr, in dem der deutsche Atheist und Philosoph Friedrich Nietzsche verstarb. Zu Lebzeiten war Nietzsche in den Niederlanden relativ unbekannt. Aus dem wenigen, was Bavinck damals über ihn schrieb, kann gefolgert werden, dass er kaum mehr als die Titel seiner Bücher gelesen, Nietzsche aber nicht studiert hatte. Nach seinem Tod wuchs Nietzsches Bekanntheit jedoch in den Niederlanden enorm. Neben Nietzsches offener Abscheu gegen Jesus (aufgrund seiner freiwilligen Schwäche und dienenden Haltung) war seine revolutionärste Idee, dass wir, wenn „Gott tot ist“, nicht zur Einhaltung der moralischen Werte des Theismus verpflichtet sind. Aus diesem Grund hatte diese neue Ausrichtung des Atheismus das Potential für drastische moralische Folgen.
Angesichts der plötzlichen Popularität Nietzsches nach seinem Tod realisierte Bavinck, dass die Verteidigung des Neo-Calvinismus allein nicht ausreicht, da die Anhänger Nietzsches jede Form des Christentums verabscheuten – sowohl liberal als auch orthodox – und dem Christentum an sich ein Ende bereiten wollten. In der Biografie beschreibe ich Bavincks Erkenntnis so, dass Nietzsche nicht mit einer Gartenschere zu dem Baum des Christentums gekommen war, sondern mit einer Axt. Für Nietzsche musste das ganze Ding weg, nicht nur einige Äste. Und damit standen Bavinck und seine theologischen Rivalen vor einer gemeinsamen existenziellen Bedrohung. In diesem Kontext begann Bavinck neben seiner ungebrochenen Unterstützung des Neo-Calvinismus, das Christentum allgemeiner zu verteidigen. Die Art, wie er die Balance hält zwischen seiner Förderung des Christentums allgemein und dem Festhalten an eigenen Traditionen, erinnert an C.S. Lewis’ Pardon, ich bin Christ oder als jüngeres Beispiel Tim Keller.
Welche Relevanz hat dieser Gesinnungswandel für uns heute? Wir leben immer noch in Nietzsches Schatten. Die westliche Kultur ist unersättlich hungrig nach Macht, getrieben von der Suche nach Vorherrschaft, verachtet das Schwache und Verletzliche und hat eine moralische Vorstellungskraft (wie Nietzsche selbst), die eher an Pontius Pilatus als an Jesus erinnert. Um dies zu verstehen und darauf reagieren zu können, brauchen wir gute Ressourcen. In den letzten zwanzig Jahren im Leben Bavincks war Nietzsche wahrscheinlich sein häufigster Opponent. Wir würden davon profitieren, hier von Bavinck zu lernen.
Und was Weisheit für das Leben angeht, so ist dieser Gesinnungswandel Bavincks ein Beispiel dafür, dass unsere Vorstellungen von der Zukunft in dieser Welt manchmal völlig falsch sein können. Es kann passieren, dass du feststellst, dass dein großes Bild von der Welt nicht richtig ist und du die Richtung ändern musst. Auch ein großer Denker wie Bavinck hat das durchgemacht.
Mattson: Sie haben im Nachwort Bavincks Reflektionen über seine „Reise nach Amerika“ eingefügt, die das amerikanische Leben des späten 19. Jahrhunderts aus der reizvollen Perspektive eines Außenstehenden beschreiben. Seine zweite Reise bescherte Bavinck auch tiefe Eindrücke des Rassenproblems in Amerika. Wir neigen dazu zu erwarten, dass Menschen des 19. Jahrhunderts rückständige Ansichten zu Rassenfragen haben. Wie hält sich Bavinck im Lichte moderner Ansichten?
Eglinton: In seiner Zeit als Mitglied des Parlaments war Bavinck ein starker Kritiker der niederländischen Kolonialpolitik. Er lehnte die ökonomische Ausnutzung von Niederländisch-Ostindien entschieden ab und war der Meinung, dass diese Praxis in der Zukunft gravierende geopolitische Folgen haben werde. Trotz seiner kritischen Äußerungen mag seine Herangehensweise an niederländische Kolonien modernen Lesern paternalistisch vorkommen. Er glaubte, das Christentum habe die westliche (und speziell die niederländische) Kultur groß gemacht und sei es daher wert, exportiert zu werden. Dies geschehe zum Nutzen der „weniger zivilisierten“ Menschen. In dieser Hinsicht war er Kind seiner Zeit.
Er glaubte jedoch nicht, dass die westliche Kulturentwicklung ihre Grundlage in der ethnischen Herkunft hat. Eine Gruppe weißer südafrikanischer Studenten schockierte er einmal mit der Aussage, dass er sich freuen würde, wenn seine eigenen Nachkommen schwarze Südafrikaner heirateten, solange sie im gleichen christlichen Glauben vereint seien. Einer seiner südafrikanischen Doktoranden, Bennie Keet, wurde später ein wichtiger Anti-Apartheid-Aktivist.
Bavinck war einer von mehreren europäischen christlichen Leitern, denen Amerikas Rassenprobleme Sorgen bereiteten. Sein Zeitgenosse Charles Spurgeon war ähnlich kritisch. Bekanntheit erlangte Bavincks Kritik an der Ungleichbehandlung der Rassen nach seiner zweiten Amerikareise 1908 (als er nach Princeton reiste und seine sogenannten Stone Lectures hielt). Während dieser Reise las er W.E. Dubois und Booker T. Washington und bemühte sich, etwas über die afroamerikanischen Erfahrungen zu lernen, indem er Afroamerikanern zuhörte. Wie mit Afroamerikanern umgegangen wurde, schockierte ihn ebenso wie der von ihm wahrgenommene brodelnde Hass auf beiden Seiten dieser rassistischen Kluft. Später mutmaßte er in Vorträgen vor einer niederländischen Zuhörerschaft, dass das amerikanische Experiment wegen seiner Geschichte der menschlichen Versklavung zum Scheitern verurteilt sei. Die einzige Hoffnung für Amerika sah er in „dem Weg der Religion“. Aber ich glaube nicht, dass ihm die nach Rassen getrennte amerikanische Kirche viel Hoffnung gab.
Mattson: In früheren Biografien wurde das Leben der Familie Bavinck nach seinem Tod 1921 nicht weiterverfolgt. Können Sie uns einen kleinen Einblick geben, was Sie über seine Frau, Tochter und Enkel herausgefunden haben?
Eglinton: Johanna Adriana Bavinck-Schippers, Bavincks Ehefrau, war eine durch und durch faszinierende, intelligente und fleißige Person. Sie liebte alles Englische, war eine begeisterte Leserin und reiste gerne. In Bavincks späteren Jahren, während des Ersten Weltkrieges, beschäftigte er sich mehr mit der sich verändernden Rolle der Frau in der Gesellschaft. Damals spielte er eine entscheidende Rolle in der Kampagne für Bildung, Berufstätigkeit und gleiches Wahlrecht von Frauen. Johanna war in dieser Hinsicht in seiner Arbeit ständig präsent und sah es als ihre Aufgabe an, auch nach seinem Tod weiterzumachen. Nach seinem Tod wurde sie die Mitgründerin und Herausgeberin einer Zeitschrift (Christianity and the Women’s Movement) und hatte eine wichtige Rolle in der christlichen Frauenbewegung der Niederlande inne – insbesondere half sie jungen Frauen bei der Berufsausbildung. Als Frau der damaligen Zeit fiel sie in ihrer Rolle als Verteidigerin des Calvinismus auf: Sie verhandelte mit amerikanischen und deutschen Publizisten über die Übersetzung von Bavincks Werken und war die einzige Frau im Organisationskomitee für die zweite internationale Konferenz der Calvinisten, die 1934 in Amsterdam stattfand. 1942 verstarb sie. Über ihre Aktivitäten im zweiten Weltkrieg wissen wir leider nichts.
Ihr einziges Kind Johanna Geziena, Hannie genannt, heiratete den Anwalt Gerrit Ruys. Während des Krieges lebten Hannie und Gerrit mit ihren drei Söhnen Herman, Hugo Floris und Theo unter der Besetzung der Nazis und waren aktive Mitglieder der Widerstandsbewegung im Untergrund. Gerrit setzte sich heimlich dafür ein, dass Besitztümer von Juden nicht in die Hände der Nazis gelangten. Beide halfen dabei, Juden zu verstecken, ihre Söhne arbeiteten für eine verdeckte Widerstandszeitung. Ihre Geschichte ist sowohl erschütternd als auch heldenhaft. Herman und Hugo Floris wurden verhaftet und dann von den Nazis ermordet. Gerrit wurde zum Tode verurteilt, dann aber doch in ein Konzentrationslager gebracht. Er verstarb auf dem Weg in ein Kriegsgefangenenlager. Auch Hannie wurde verhaftet, später aber wieder freigelassen. Theo überlebte versteckt, da er von anderen Mitgliedern des Widerstandes beschützt wurde. In den Augen der Nazis waren sie so etwas wie eine „Familie von Terroristen“. In Amsterdam wurde eine Straße zu Ehren von Bavincks Enkel „Hugo Floris Ruysstraat“ genannt, im Gedenken an seine Heldenhaftigkeit in der Widerstandsbewegung.
Der Versuch diesen, wenn auch nur kurzen, Teil der Biografie zu verfassen, fiel mir am schwersten. Die Aufdeckung ihrer Geschichte war eine demütigende und bewegende Erfahrung.