Die Pandemie – eine Chance für Evangelisation?

Artikel von Sam Chan
15. Februar 2021 — 8 Min Lesedauer

Die große Erzählung, an die der Westen glaubt, klingt in etwa so: „Als wir geboren wurden, waren wir so unverfälscht, authentisch und echt, wie man nur sein kann. Aber dann traten Autoritäten auf, die uns verbogen haben – Eltern, Lehrer und v.a. die Religion. Nun liegt unsere Lebensaufgabe darin, uns selbst treu zu sein. Hör nicht auf das, was dir andere sagen. Sei mutig. Sei echt. Sei authentisch. Schließlich kann niemand außer dir wissen, wer du wirklich bist. Letzten Endes geht es darum, glücklich zu sein; und alles, was dafür nötig ist, musst du auch tun.“

Dieses Narrativ bringt seine angenehmen Seiten mit sich. Wir können in der Stadt leben, in der wir leben wollen und müssen nicht in dem Dorf bleiben, in dem wir aufgewachsen sind. Wir können unseren Beruf selbst wählen und müssen nicht dem Broterwerb nachgehen, den wir von unseren Eltern geerbt haben. Wir können unseren Partner selbst aussuchen und müssen nicht jemanden heiraten, den unsere Eltern für uns ausgewählt haben.

Diese Basiserzählung malt uns selbstbewussten Individualismus, Freiheit und Kontrollierbarkeit vor Augen.

Aber sieht es nicht so aus, als würde COVID-19 die Schwachstellen dieses Narrativs offenlegen? Wir können nicht einfach als Individuen leben, soziale Verantwortung ist gefragt. Wir sind nicht frei, sondern wir sind im Lockdown. Und wir haben die Dinge nicht unter Kontrolle, stattdessen ist unser Leben von Ungewissheit geprägt.

„Man benötigt ein zuverlässigeres, überzeugenderes Narrativ, und Christen sollten dies an andere weitergeben.“
 

Unsere Pläne für 2020 sind über den Haufen geworfen worden, und wir können auch für 2021 nichts planen. Wir wissen nicht, was morgen geschieht, und schon gar nicht, was dieses Jahr bringen wird. Nichts ist mehr sicher. Wir können nur noch reagieren.

Aber diese ungemütliche Unberechenbarkeit – und die Dekonstruktion, die die Pandemie an der westlichen Basiserzählung vornimmt – birgt eine Chance für das Evangelium. Die Welt ist auf eine neue Art und Weise erschüttert worden, und sie sucht an neuen Orten nach Antworten. Man benötigt ein zuverlässigeres, überzeugenderes Narrativ, und Christen sollten dies an andere weitergeben.

Freiheit – wofür?

Bis vor kurzem sah es so aus, als wäre das säkulare Narrativ das „bessere“ Narrativ. Wir haben uns eingeredet, es gäbe keinen Gott. Entsprechend gibt es auch keine moralische Verantwortlichkeit. Wir können tun, was wir wollen. Der Haken dabei? Dass es auch keinen Sinn für unser Leben und Handeln gibt. Aber wir haben uns eingeredet, wir könnten uns selbst einen erschaffen.

Doch nun plötzlich, mit Corona, ist die Existenz Gottes vielleicht doch keine so schlechte Sache. Gott gibt uns eine Basis dafür, moralisch verantwortlich zu handeln. Und genau darüber haben wir 2020 die ganze Zeit geredet – moralische Verantwortlichkeit –, ob nun im Zusammenhang mit #BlackLivesMatter, #MeToo oder der Notwendigkeit, Masken zu tragen.

Einer meiner Kollegen, der einen christlichen Dienst unter Studenten ausübt, sagt, die letzten Jahre seien außerordentlich fruchtbar gewesen. Viele Studenten wurden Christen. Ein Faktor dabei ist, dass neue College-Studenten auf dem Campus eine nie gekannte Freiheit erleben: Plötzlich gibt es keine Lehrer oder Eltern mehr, die ihnen sagen, was sie tun sollen. Doch sie wissen nicht, was sie mit dieser Freiheit machen sollen – wofür sie nun frei sind. Denn sie haben kein Ziel und keine Richtung vor Augen, sie sind wie ein Schiff ohne Steuer.

Aber: Wenn Gott existiert, kann es auch Sinn und Ziel geben.

Die bessere Erzählung

COVID-19 hat gezeigt, dass wir die Wahl zwischen zwei Erzählungen haben.

Erzählung Nr. 1 besagt, dass es keinen Gott gibt. Wir sind einfach nur Atome und Moleküle, nur eine von vielen verschiedenen Arten, die auf diesem Planeten leben. Das Universum kümmert sich nicht um dich. Viren kommen und gehen. Arten erscheinen und sterben aus. Diese Pandemie ist nur ein Ereignis von vielen im Lauf der Gezeiten des Universums. Sie hat keine Bedeutung. Es gibt keinen Sinn und Zweck.

Erzählung Nr. 2 besagt, dass es einen Gott gibt. Er liebt dich, er hat dich gemacht und er rettet dich. Er hat seinen Sohn gesandt, um einer von uns zu werden. Jesus starb für uns und lebt jetzt für uns. Nun können wir für ihn leben und teilhaben an seiner Mission, nämlich Liebe, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit weiterzugeben. Auch wenn wir nicht erkennen können, warum Gott diese Pandemie zugelassen hat, können wir ihm vertrauen, dass er damit ein gutes Ziel verfolgt.

Diese zweite Erzählung zeigt uns eine Möglichkeit, wie wir mit der Ungewissheit leben können: Indem wir darauf vertrauen, dass da jemand hinter dem Lenkrad sitzt, der weiß, wo der Bus hinfährt. Dagegen bedeutet die erste Erzählung, dass wir in einem Bus ohne Fahrer sitzen – und das ohne Chance, das Lenkrad irgendwie unter Kontrolle zu bekommen.

Es ist okay, nicht okay zu sein

Bisher gab es nur eine Art und Weise, dieses westliche Narrativ zu erzählen: „Ich bin okay, und ihr müsst mich so, wie ich bin, akzeptieren.“ Das klingt zunächst gut, aber Will Storr macht in seinem Buch Selfie: How the West Became Self-Obsessed eine überraschende Beobachtung: Die Folge ist ein überproportional hohes Maß an Stress, Angst, Depressionen und Selbstmorden in der westlichen Kultur. Diese „Ich bin okay“-Geschichte hat zu einer unvorhergesehenen Kultur des Perfektionismus geführt. Wir müssen nun uns selbst und allen anderen beweisen, dass wir wirklich okay sind. Wenn das anstrengend klingt, dann deswegen, weil es das tatsächlich ist.

„Bei Jesus müssen wir nicht so tun, als würden wir klarkommen. Es gibt keinen Druck, alles im Griff haben zu müssen. Genau genommen ist sogar das Gegenteil der Fall.“
 

Doch mit Jesus können wir dies ersetzen: „Ich bin nicht okay, und das ist okay. Jesus akzeptiert mich so, wie ich bin.“ Natürlich gibt es dazu noch mehr zu sagen: Gott gibt uns seinen Geist und gestaltet uns Tag für Tag mehr zu Menschen um, wie er sie gerne haben will. Aber mit Jesus brauchen wir nicht das perfekte Bild auf Instagram, die perfekte Hochzeit oder die perfekte Weihnachtskarte.

Viele Freunde haben während der Pandemie ihre Lockdown-Aktivitäten gepostet: Brot backen, neue Grillrezepte ausprobieren, ein Instrument lernen. Aber man musste nur etwas an der Oberfläche kratzen, um hinter der Fassade auf Angst und Nöte zu stoßen.

Bei Jesus müssen wir nicht so tun, als würden wir klarkommen. Es gibt keinen Druck, alles im Griff haben zu müssen. Genau genommen ist sogar das Gegenteil der Fall: Er möchte, dass wir erkennen, dass wir ganz grundlegend nicht okay sind ohne ihn. Wir können uns nicht selbst retten oder uns selbst beweisen – und das ist eine befreiende Tatsache.

Verschiedene Zugänge erkennen

Ich erinnere mich, wie Tim Keller in einer Predigt über Apostelgeschichte 16 aufzeigte, dass es in dem Text mindestens drei verschiedene emotionale Zugänge zum Evangelium gibt.

Da ist Lydia, die auf rationale Weise für das Evangelium gewonnen wurde. Sie hatte eine an vernünftigen Argumenten orientierte Diskussion mit Paulus, und der Herr tat ihr das Herz auf, so dass sie glaubte.

Da gibt es außerdem die Magd, die von einem Wahrsagegeist besessen war. Sie begegnete Jesu Macht und wurde befreit.

Und dann ist da noch der Gefängnisaufseher. Seine Welt zerbricht buchstäblich, als sein Gefängnis durch ein Erbeben zerstört wird. Sollten die Gefangenen entkommen sein, würde das eine größere Schande für ihn bedeuten, als er ertragen könnte. Er will sich also das Leben nehmen. Doch dann sieht er Paulus und Silas. Er seht sich nach dem Frieden, den sie haben.

Bisher haben westliche Christen vor allem auf die Weise evangelisiert, mit der wir Lydia erreichen würden. Wir bauen auf den Verstand: öffentliche Vorträge, Podiumsdiskussionen, Gesprächsrunden. Aber Corona bietet uns Möglichkeiten, die beiden anderen Zugänge auszuprobieren.

Viele von unseren Freunden sind wie jene Magd. Sie haben Angst vor dem Unsichtbaren. Aber sie können die Freiheit in Jesus entdecken, der Macht hat über das Unsichtbare und das Unbekannte. Andere Freunde sind wie der Gefängnisaufseher. Ihr Leben ist durch Corona zusammengebrochen. Sie haben ihr Geschäft, ihre Karriere, ihr Einkommen verloren. Aber in Jesus können sie ein Leben finden, das Frieden bringt.

Globale Katastrophen – z.B. eine Pandemie – offenbaren unsere Schwäche und wie zerbrechlich unsere vorherrschenden Narrative sind. Im vergangenen Jahr haben wir Klopapier gehortet und sind tiefer in Süchte hineingeraten. Unsere gewohnten Denkweisen wurden erschüttert und das Hässliche der menschlichen Natur zeigte sich.

Es gefällt uns nicht, wer wir 2020 geworden sind. Aber in Jesus können wir wahre Macht, wahre Freiheit und wahren Frieden finden. Die Pandemie hat offengelegt, dass die bessere Erzählung – die von Jesus – vielfältige emotionale Zugänge kennt. Es ist Zeit, sie zu nutzen.