Ravi Zacharias und Gottes Gericht
Ich kenne viele Leute aus den verschiedensten Orten, die Ravi Zacharias liebten. Er gab ihrem Christsein tiefere Zuversicht und ein festeres Fundament. Seine Bücher und Vorträge überzeugten Tausende davon, dass sie Gott, den Autoren der Bibel und ihm als verlässlichem Leiter vertrauen konnten.
Nun wissen wir, dass er dieses Vertrauen auf abscheuliche und unvorstellbare Weise missbrauchte.
Ich sehe viele geschockte Reaktionen, weil die Details nur schwer zu verdauen sind. Ich wüsste nicht, dass jemals ein evangelikaler Leiter von solcher Bekanntheit ein so komplexes Missbrauchsmuster jahrelang lebte. Viele Leute, die für Zacharias arbeiteten, werden leiden, weil sie ihm vertrauten, selbst als die ersten Vorwürfe hochkamen. Seine Dementis machten eine schreckliche Situation gewissermaßen noch schlimmer.
Aber es ist keine echte Überraschung. Sein Missbrauch stimmt mit dem Muster sexueller Ausbeutung überein, das wir von Männern kennen, die das Vertrauen anderer ausnutzen. Die Vorgehensweise ist bekannt. Er nutzte die Verletzlichen aus. Er nutzte den Einfluss, den sein Dienst ihm verschaffte, zu seinem Vorteil aus, um die Opfer einzuschüchtern. Er überzeugte die Welt davon, dass er nicht die Art von Monster sein konnte, als die man sich Sexualtäter vorstellt.
Mit anderen Worten: Er passte ins Profil.
Niemand entkommt Gottes Gericht
Ich erinnere mich an eine Unterhaltung im Frühjahr 2018, nachdem die ersten Vorwürfe auftauchten. Ein mächtiger Verantwortungsträger wollte von mir wissen, was ich über den gerichtlichen Vergleich zwischen Zacharias und seiner Anklägerin dachte. Man warf ihr vor, den weltbekannten Apologeten erpressen zu wollen.
„Ravi Zacharias mag dem Gericht in dieser Welt entkommen sein. Aber niemand entkommt dem Gericht in der kommenden Welt.“
Ich antwortete, dass seine Story nicht stimmen konnte, ganz unabhängig von dem Vergleich. Die Wahrheit würde früher oder später schon ans Licht kommen. Es bedurfte seines Todes, damit diese Wahrheit die Schutzwälle von Geld und Macht überwand, die nur allzu oft die Opfer zum Schweigen bringen und sie mit dem Schmerz ihrer selbstverachtenden Gedanken und selbstverletzenden Versuchungen allein lassen.
Ravi Zacharias mag dem Gericht in dieser Welt entkommen sein. Aber niemand entkommt dem Gericht in der kommenden Welt.
Niemand weiß, was Zacharias im ewigen Gericht erwartet. Niemand von uns weiß, ob er einsah, was er getan hatte, Buße tat, sich auf das Blut Christi berief und Vergebung erlangte. Aber wir wissen, dass Gottes Gericht kommt, so oder so. Und die Unzüchtigen werden das Reich Gottes ohne die Gerechtigkeit Christi nicht erben (vgl. 1Kor 6,9-10).
Gott steh uns allen bei.
Digitale Revolution
Heutzutage können Veröffentlichungen im Internet Investigativjournalisten und Opfern dabei helfen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Manche der Journalisten mussten auch in diesem Fall einen Preis dafür zahlen, dass sie der Welt erzählten, was sie nicht über Zacharias hören wollte. Allzu oft halten angedrohte finanzielle Vergeltungsschläge die Opfer und ihre Verbündeten davon ab, ihre Stimme zu erheben und Zeitungen davon, den Bericht zu veröffentlichen. Aber die neuen Medien haben die Landschaft verändert und die Macht in Richtung der Misshandelten verschoben. Jetzt kann man irgendwo im Internet ein offenes Ohr bei jemandem finden. Mit Hilfe dieser Person kann man sich gegen finanzstarke Werke stellen, die alles zu verlieren haben, wenn die Wahrheit ans Licht kommt.
Die Welt liebt ihre Helden. Aber sie lernt zunehmend, den Opfern zu glauben, je mehr sie von ihnen hört. Missbrauchstäter mögen in der Lage sein, umzuziehen, die Gemeinde zu wechseln und neue Werke zu gründen. Aber das Internet macht es ihnen unmöglich, sich der Überprüfung zu entziehen. Bewundernde neue Fans mögen auftauchen, um ihre falschen Lehren oder ihr missbräuchliches Verhalten zu unterstützen, aber das Internet wird verhindern, dass alle früheren Opfer zum Schweigen gebracht werden.
Zugleich half die digitale Welt Zacharias aber auch bei seinem Missbrauch. In der Tat wäre dieses Verbrechen ohne die Allgegenwart von Smartphones zum Aufnehmen und Teilen von sexuellen Bildern kaum vorstellbar. Nicht nur Jungs im Teenie-Alter wissen, wie man nach Nackt-Selfies fragt. Früher dachten wir, die Billy-Graham-Regel und Fenster an der Tür des Pastors würden die Opfer schützen. Jetzt wissen wir, dass sie eher durch Textnachrichten auf Wegwerfhandys ins Visier geraten.
Sex wird durch die Allgegenwart von Pornografie zunehmend körperlos. Missbrauch folgt dem gleichen Muster. Die Präventions- und Schutzmaßnahmen eines Werkes müssen dieser Veränderung voll Rechnung tragen.
Was können wir tun?
Der regelmäßige Paukenschlag von Enthüllungen über christliche Leiter und sexuellen Missbrauch kann zu zwei Schlussfolgerungen führen. Entweder wir verzweifeln daran, jemals Integrität bei unseren Helden zu finden. Oder wir fordern Veränderungen, um Missbrauch ein für alle Mal zu verhindern. Aber keiner der beiden Ansätze, weder Verzweiflung noch das Erheben von Forderungen, wird zu dauerhafter Veränderung führen.
„Kein menschlicher Führer ist endgültig verlässlich. Aber Gottes Gerechtigkeit wird uns nie im Stich lassen.“
Es ist verständlich, dass wir daran zweifeln, in Glaubensfragen zu irgendjemandem aufzuschauen, wenn wir Zacharias und die vielen anderen vor ihm sehen. Wir denken vielleicht, dass wir uns und andere schützen, indem wir niedrige Erwartungen an unsere Leiter haben oder ihnen sogar grundsätzlich misstrauen. Menschliche Rechenschaftspflicht ist gut. Aber sie kann sich nicht mit der Rechenschaftspflicht vor Gott messen, der allein alles weiß und sieht. Deshalb können wir unseren Leitern gehorchen und uns ihnen unterordnen. Sie werden Rechenschaft ablegen, so wie Zacharias es jetzt muss (vgl. Hebr 13,17). Kein menschlicher Führer ist endgültig verlässlich. Aber Gottes Gerechtigkeit wird uns nie im Stich lassen. Wir brauchen nicht zu verzweifeln, denn Gott ist mit uns.
Ebenso sind Forderungen nach Veränderungen gerechtfertigt. Aber wer selbst mit den besten Internetfiltern vertraut ist, weiß, dass sie umgangen werden können. Wo ein Wille zur Sünde ist, da ist auch ein Weg. Diese Filter helfen sicherlich, aber sie können keine Rechtschaffenheit liefern. Das Gleiche gilt für jede Forderung, Missbrauch zu verhindern. Jedes Werk braucht einen guten Plan, aber nicht einmal die besten Pläne können Sicherheit garantieren.
Zacharias unternahm außergewöhnliche Anstrengungen, um seinen Missbrauch zu vertuschen. Und er schien Hilfe zu haben. Das ist der Grund, warum die besten Pläne nicht immer funktionieren. Manchmal haben die Leute, die die Schutzmaßnahmen eingeführt haben, jeden Anreiz, sie zu umgehen. Derjenige, der das Sicherheitssystem programmiert hat, kennt alle Schlupflöcher. Wir werden vielleicht nie erfahren, wer was und wann innerhalb von Ravi Zacharias International Ministries wusste. Der erste Bericht ist nicht schlüssig. Vielleicht werden in den kommenden Tagen weitere Leiter die Wahrheit enthüllen. Aber wir wissen aus der menschlichen Natur, dass auch christliche Werke jedes weltliche Motiv haben, um ihre Ankläger zu diskreditieren und ihre Mitglieder zu schützen.
Ich glaube nicht, dass ich ein Werk kenne, bei dem die Verbindung von immens hohen Einkünften und der Besetzung mehrerer Führungspositionen durch Familienmitglieder je zu einem guten Ende geführt hat. Wir müssen nicht denken, dass Zacharias der letzte seiner Art war. Das ist eine gängige Form der Leitung in vielen christlichen Werken, die sich um unsere finanzielle Unterstützung bemühen. Jeder, der schon einmal in einen Erbstreit verwickelt war, kann berichten, dass die Verbindung von Geld und Familie oft zu Leid und missbrauchtem Vertrauen führt.
Nur ein Weg heraus
Ravi Zacharias hat unser Vertrauen erschüttert. Er hat es zerstört, indem er das Vertrauen verletzlicher, ungeschützter Frauen missbrauchte. Ihr Schmerz quält uns und wir flehen Gott an, dass nicht noch weitere Menschen so leiden müssen. Wir beklagen dieses schwerwiegende Übel. Wir erneuern unsere Verpflichtung, in Ordnung zu bringen, was durch Ungerechtigkeit zerstört wurde.
Es gibt nur einen Weg heraus. Es ist der Weg, den unser Retter uns vorgelebt hat: „Tut nichts aus Selbstsucht oder nichtigem Ehrgeiz, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst. Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern jeder auf das des anderen“ (Phil 2,3–4).
Ihr geistlichen Leiter, weil Jesus für uns die Gestalt eines Dieners angenommen hat, können wir anderen dienen. Wir dürfen sie nicht für unseren sexuellen oder finanziellen Gewinn ausnutzen. Wir müssen vor dem Gericht Gottes zittern, denn wir werden Rechenschaft ablegen. Weil Christus sein Blut für uns vergossen hat, können wir uns um die Verwundeten kümmern. „Der HERR ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind und er hilft denen, die zerschlagenen Geistes sind“ (Ps 34,18). Das ist unser Gott. Ihn beten wir an.
Für jeden, der in der Vergangenheit oder Gegenwart Missbrauch erlitten hat: Du darfst wissen, dass der Gerechtigkeit früher oder später Genüge getan wird. Du darfst gewiss sein: „Gott widersteht den Hochmütigen; den Demütigen aber gibt er Gnade“ (1Petr 5,5).