Die Allgegenwart Gottes

Ist Gott überall auf die selbe Art anwesend?

Artikel von Stéphane Simonnin
9. Februar 2021 — 10 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Stéphane Simmonin über die Eigenschaften Gottes. Verschiedene Artikel zu den Eigenschaften Gottes finden sich hier.

„Mama, wo ist Gott?“

„Nun mein Liebes, er ist überall!“

Diese Antwort geben Mütter ihren Kindern häufig und sie ist wahr. Doch was bedeutet sie?

Was heißt „Gott ist überall“ eigentlich?

Wir denken wenig über Gottes Allgegenwart nach. Wir nehmen an, dass Gott selbstverständlich „überall“ ist, ohne wirklich zu verstehen, was das mit sich bringt. Bedeutet Allgegenwart das Ausfüllen des ganzen Raumes, der existiert? Ist Gott überall auf gleiche Weise gegenwärtig? Wie ist er z.B. gegenwärtig, wenn sich die Gemeinde versammelt? Wenn wir über den Gottesdienst nachdenken, wird daraus plötzlich eine äußerst praktische Frage. Es wird für bekennende Christen im Westen zunehmend üblich, ihre Versammlungen zu vernachlässigen. Sicherlich haben Sie auch schon Menschen getroffen, die behaupten: „Ich glaube an Gott, doch Kirche ist nicht wirklich etwas für mich. Ich singe nicht gerne und Predigten finde ich langweilig. Außerdem kann ich auch bei einem Spaziergang im Wald, in den Bergen oder am Strand in Verbindung mit Gott treten, genau wie in einem Gottesdienst. Schließlich ist Gott ja überall.“ Wie antworten wir darauf?

Meint Allgegenwart Pantheismus?

Auf das Thema der Allgegenwärtigkeit stoßen wir auch, wenn wir in Kontakt mit östlichen Weltanschauungen und ihrem Pantheismus stoßen. Sie beanspruchen, dass Gott „überall“ ist, und meinen damit doch etwas völlig anderes. Auf welche Weise ist die christliche Sprache der göttlichen Allgegenwärtigkeit anders als ihre?

„Ist Gott überall auf gleiche Weise gegenwärtig? Wie ist er z.B. gegenwärtig, wenn sich die Gemeinde versammelt?“
 

Möchten wir diese Fragen beantworten, finden wir bei reformierten Theologen des siebzehnten Jahrhunderts hilfreiche Antworten. Sie zeigen sorgfältige Unterscheidungen auf, die wir häufig übersehen. Zudem verwenden sie hilfreiche philosophische Kategorien und ordnen sie doch der Schrift unter. Keiner von ihnen ist dabei hilfreicher als der englische Puritaner Stephen Charnock (1632–1680) in seiner bekannten Abhandlung über die Existenz und die Eigenschaften Gottes.

Ein Puritaner über die Allgegenwart Gottes

Verschiedene biblische Texte werden üblicherweise von Theologen verwendet, um Gottes Allgegenwart zu verteidigen, besonders 1. Könige 8,27, Psalm 139 und Jeremia 23,23–24. Charnock wählt Jeremia 23,23–24 als Ausgangspunkt: „Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der HERR, und nicht auch ein Gott, der ferne ist? Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne, dass ich ihn nicht sehe? spricht der HERR. Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der HERR“ (Lut2017). Charnock betrachtet den Text zunächst im Zusammenhang der Verwerfung von falschen Propheten, die an Israel prophezeiten, obwohl der Herr sie nicht gesandt hatte (vgl. V. 16ff.). Das ermöglicht ihm die wichtige Unterscheidung zwischen Gottes Allwissen und Allgegenwart zu treffen. Gott weiß und sieht alles („Meinst du, dass sich jemand verbergen könne?“), weil er immer überall gegenwärtig ist („Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt“?). Somit kann seine Allwissenheit aus seiner Allgegenwärtigkeit abgeleitet werden. Das Verb „füllen“ ist entscheidend, weil es sich nicht bloß auf Wissen, Wollen oder Verstehen beziehen kann. Es muss sich auf etwas berufen, was Charnock als „Gottes wesenhafte Gegenwart“ bezeichnet: „Das Füllen von Himmel und Erde meint ein Füllen mit seinem Wesen. Es kann keinen Ort geben, der ohne Gegenwart Gottes ist. Spricht die Bibel also von der Gegenwart Gottes, bringt sie Himmel und Erde zusammen.“[1]

„Man kann aus der wesenhaften Allgegenwart Gottes nicht folgern, dass alles Gott ist. Gott ist nicht in uns als ein Teil von uns, sondern als wirksame und erhaltende Ursache.“
 

Charnocks Auslegung dieser Verse ist aus unterschiedlichen Gründen bedeutsam: Sie zeigt, dass Gott tatsächlich überall gegenwärtig ist, nicht bloß im Himmel, wie es unorthodoxe Lehrer seiner Zeit unterstellten.[2] Charnock drückte es so aus: „Der Himmel ist der Vorhof seiner majestätischen Gegenwart, nicht das Gefängnis seines Wesens.“[3] Dies ist auch zur Widerlegung pantheistischer Vorstellungen nützlich, die Gott mit der Natur gleichsetzen. Solche Lehren vertrat damals etwa Baruch Spinoza, ein einflussreicher holländischer Philosoph; sie sind jedoch auch heute noch weit verbreitet.[4] Dass Gott „Himmel und Erde füllt“ bedeutet, dass er „da ist“ und uns „sieht“, sodass sich niemand vor ihm verstecken kann. Er ist somit persönlich und unterscheidet sich von der Natur. Charnock sagt folgendes: „Man kann aus der wesenhaften Allgegenwart Gottes nicht folgern, dass alles Gott ist. Gott ist nicht allgegenwärtig durch Vermischung, Zusammensetzung oder Vereinigung mit irgendetwas auf der Erde. Gott ist nicht in uns als ein Teil von uns, sondern als wirksame und erhaltende Ursache.“[5]

Zwei verschiedene Gegenwarten: wesenhaft und wirksam

Doch die interessantesten Ausführungen Charnocks handeln darüber, wie Gott überall gegenwärtig ist. Dabei unterscheidet er grundlegend zwischen Gottes wesenhafter und Gottes wirksamer Gegenwart. Gottes Wesen füllt den Raum des ganzen Universums, sodass Gott nicht nur„überall“ ist. Vielmehr existieren wir auf eine ganz reale Weise in ihm: Er beinhaltet alles, das existiert - auch uns. Der Gedanke, dass Gott uns „beinhaltet“ oder „enthält“ ist erstaunlich, doch genau so erklärt es Paulus den Athenern, als er ihren eigenen Poeten zitiert: „Denn in ihm leben, weben und sind wir“ (Apg 17,28). Charnock kommentiert: „Wir bewegen uns in ihm, wie Augustinus sagt, wie ein Schwamm im Meer, der nicht ihn enthält, sondern von ihm enthalten wird. Er umschließt alles und ist doch von niemandem erfasst. (...) Solange die Teufel und Verdammten Leben, Bewegung und Wesen besitzen, so lange ist er mit ihnen, denn alles was lebt und sich regt, lebt und regt sich in ihm.“[6]

Gottes „wirksame“ Gegenwart ist vielschichtig. Es gibt eine „beeinflussende“ Gegenwert, mit der Gott als König herrscht und alle Kreaturen bewahrt. Es gibt auch eine spezielle „vorsehende“ Gegenwart, mit der Gott einige Geschöpfe für bestimmte Aufgaben benutzt (so z.B. König Kyros, vgl. Jes 45,1–7). Vor allem gibt es jedoch die „gnädige“ und „bundestreue“ Gegenwart Gottes in seiner Gemeinde, die aus seinen Verheißungen hervorgeht. Charnock schreibt:

„Er ist mit allen Menschen durch seine Göttlichkeit gegenwärtig, doch nur mit den Heiligen auch durch seine gnädige Wirksamkeit. Er wandelt inmitten des goldenen Leuchters und würdigt die Versammlung seines Volkes mit dem Titel ‚Jehovah Shamma‘ – der Herr ist hier. (Hes 48,35) (...) Wie er die Stiftshütte erfüllte, so erfüllt er auch die Gemeinde mit den Zeichen seiner Gegenwart. Dies ist eine völlig andere Art der Gegenwart, als jene, mit der er Himmel und Erde erfüllt.“[7]

Gottes Gegenwart im Wald

Das ist natürlich äußerst wichtig und erklärt, warum jene sich irren, die meinen, bei einem sonntäglichen Waldspaziergang mit Gott verbunden zu sein. Während Gott wesenhaft natürlich auch im Wald gegenwärtig ist, ist er nicht gnädiglich gegenwärtig, da er dies nur unter seinem Volk ist, das sich um Sein Wort versammelt. Beachten Sie die Worte, die Charnock verwendet: „gnädigliche Wirksamkeit“. Das ist nicht bloß eine passive Gegenwart, die aus Gottes Güte und seinen Versprechen folgt, sondern eine wirksame Gegenwart, die Menschen verändert. „Nicht durch seine wesenhafte Gegenwart, sondern durch seine wirksame Gegenwart verändert er jede Person in ein Bild seiner eigenen Natur.“[8] Statt sich zu fragen: „Was nehme ich vom Gottesdienst heute Morgen mit?“ sollten wir uns fragen: „Was möchte Gott heute Morgen in mir tun?“ Sicherlich würde das unseren Blick auf den sonntäglichen Gottesdienst ändern.

Gott ist in seiner Gemeinde durch Christus gegenwärtig. Er ist der eine, der „inmitten des Leuchters“ wandelt. Die Eigenschaft der Allgegenwart ist Christus klar zugewiesen, wie Charnock aus Johannes 3,13 folgert: „Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn, der im Himmel ist“.[9] Charnock nimmt auch auf die Tatsache Bezug, dass er alle Dinge geschaffen hat (Kol 1,16): „Wenn alle Dinge durch ihn erschaffen wurden, dann war er bei allen Dingen, die gemacht wurden, anwesend, denn wo eine Gegenwart der Kraft ist, da ist auch eine Gegenwart des Wesens, und deshalb ist er immer noch anwesend; denn das Recht und die Kraft der Erhaltung ergibt sich aus der Kraft der Schöpfung.“[10]

Einheit des Wesens = Einheit der Gegenwart

Christi Göttlichkeit stellt seine kontinuierliche Allgegenwart sicher: sowohl vor, als auch nach der Fleischwerdung. Es entspricht seiner göttlichen Natur, der Gemeinde zu versprechen, nach der Himmelfahrt in ihr gegenwärtig zu sein, doch diese Gegenwart inmitten der Gemeinde widerspricht nicht seiner wesenhaften Allgegenwart. Als Charnock Johannes 10,30 („Mein Vater und Ich sind eins“) bespricht, sagt er: „Sie sind nicht nur eins in ihren Überzeugungen, sondern auch eins in ihrer Macht. Denn er spricht nicht allein von Übereinstimmung, sondern von ihrer gemeinsamen Macht, sein Volk zu bewahren. Wo es eine Einheit des Wesens gibt, gib es auch eine Einheit der Gegenwart.“[11]

Der erstaunlichste Punkt an Charnocks Anmerkungen zu Kolosser 1,16 und Johannes 10,30 ist die Tatsache, dass Christi Versprechen der Gegenwart nach der Himmelfahrt sich nicht bloß auf das „Senden des Heiligen Geistes“ beschränkt. Es enthält auch die bewahrende Macht und Gegenwart, die Vater und Sohn für die Erwählten ausüben – genau so, wie sie auch für die geschaffene Welt sorgen. „Wo es eine Einheit des Wesens gibt, gib es auch eine Einheit der Gegenwart“ ist womöglich die beste und prägnanteste Zusammenfassung der dreieinigen Natur Gottes und der untrennbaren Handlungen von Vater, Sohn und Heiligem Geist.

Uns demütigen und staunen

Diese Gedanken sollten uns demütigen und uns zum Staunen bringen. Wie unbedeutend sind wir, wenn wir daran denken, dass Gott überall gegenwärtig ist und wir dennoch nicht annähernd vollends erfassen, wer er ist: „Nichts ist gegenwärtiger als Gott und doch ist nichts verborgener. (...) Er wird durch den Glauben angenommen, in Liebe genossen und doch von keinem Verstand erfasst. Nur er allein versteht sich selbst und kann sich selbst offenbaren.“[12]

„Nichts ist gegenwärtiger als Gott und doch ist nichts verborgener.“
 

Wie immer ist es Gottes Volk in Christus, das den größten Nutzen aus Gottes Eigenschaften zieht. Wir sollten durch Gottes Gegenwart nicht nur gedemütigt werden, sondern uns ebenso darin erfreuen. Lasst die wesenhafte Gegenwart Gottes der Grund unserer Ehrfurcht sein und seine gnädige, prägende Gegenwart das Objekt unseres Verlangens.[13]


[1] The Works of Stephen Charnock, Bd. 1, Banner of Truth: Edinburgh 1864, Nachdruck 2010, S. 423.

[2] Die sog. Sozinianer.

[3] The Works of Stephen Charnock, Bd. 1, S. 439.

[4] Interessanterweise wurde Spinozas Hauptwerk „Ethik“ nach seinem Tod genau im Jahr 1677 veröffentlicht, als Charnock in seiner Gemeinde in Bishopsgate, London, über die Eigenschaften Gottes predigte.

[5] The Works of Stephen Charnock, Bd. 1, S. 442.

[6] Ebd., S. 429.

[7] Ebd., S. 426.

[8] Ebd., S. 442.

[9] Die Echtheit des Ausdrucks „der im Himmel ist“ wird von den modernen Textkritikern in Frage gestellt und ist in den meisten modernen Übersetzungen ausgelassen.

[10] The Works of Stephen Charnock, Bd. 1, S. 445.

[11] Ebd., S. 446.

[12] Ebd., S. 447

[13] Ebd., S. 456