Der vergessene Wegbereiter der „Neuen Calvinisten“
Vorwort von Ron Kubsch
Wenn du einen Kenner der Evangelikalen danach fragst, wer in den 70er und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts den reformierten Flügel dieser Bewegung geprägt hat, wirst du Namen wie J.I. Packer, Martyn Lloyd-Jones, John Stott, Francis Schaeffer, R.C. Sproul oder James Montgomery Boice hören. Das waren Persönlichkeiten mit klarem Verstand und großer Leidenschaft für die reformierte Theologie unter dem Dach der evangelikalen Bewegung. Sie alle haben in jenen Jahrzehnten viel bewegt. Ihre Predigten, Vorträge und Bücher konnten eine beachtliche Wirkung entfalten und werden heute noch gern gelesen.
Von David F. Wells haben – besonders in Europa – nur sehr wenige etwas gehört. Bis zu diesem Tag ist meines Wissens nur eins seiner Bücher in die deutsche Sprache übersetzt worden (Gott im Zentrum, 3L, 2017). Dabei war es gerade dieser David F. Wells, der durch seine Studien die Gründung der Alliance of Confessing Evangelicals und später die Bewegung der Neuen Calvinisten federführend angestoßen hatte.
Was macht David F. Wells und seine Abhandlungen so besonders?
Es war ein Akt von Gottes gütiger Vorsehung, dass der frisch bekehrte Architekturstudent, der in Afrika aufgewachsen war, in England landete und bei John Stott eine Bleibe fand. Mit Hilfe dieses brillanten britischen Theologen lernte Wells, christlich zu denken und zu fühlen. Er lauschte den Predigten von Stott und Martyn Lloyd-Jones und rang gemeinsam mit seinem Freund Os Guinness um ein tiefes Verständnis für den Zusammenhang von Evangelium und Kultur.
Wells fragte danach, was wohl die Wahrheiten der christlichen Offenbarung mit dem Leben zu tun haben. Dabei bemerkte er, dass viele evangelikale Pastoren ihre hergebrachte Rolle als Prediger des göttlichen Wortes aufgegeben hatten, um in den Gemeinden „Therapeuten und Manager“ zu werden. Zusammen mit ihren Gemeindemitgliedern hatten sie die biblische Wahrheit zugunsten einer nach innen gerichteten Erfahrungsreligion aufgegeben. Interessanterweise nutzte Wells soziologisches Handwerkszeug, dass er sich besonders durch die Lektüre von Max Weber und Peter Berger angeeignet hatte, um zu zeigen, wie durchdringend Säkularisierung, Modernisierung und Postmodernismus unser Denken über den christlichen Glauben und die Gemeindearbeit infiltriert haben. Das führte dazu, dass die Frage nach der Wahrheit sowohl aus den Kirchen wie auch aus der Gesellschaft verdrängt wurde (vgl. sein Buch No Place for Truth, dt. etwa: Kein Platz für die Wahrheit).
Während er in seinen älteren Werken keine substantiellen Lösungen für diese Entwicklung anbieten konnte, hat er das später nachgeholt und gezeigt, dass die Zweiteilung von biblischer Lehre einerseits und christlichem Leben andererseits überwunden werden kann. Denn die heilsame Lehre der Heiligen Schrift steht in einer Beziehung zu allen Bereichen unseres Lebens. Der Glaube an Jesus Christus führt also nicht in eine tote Orthodoxie, sondern öffnet Verstand und Sinne für die wirkliche Welt, in die Gott, ihr Schöpfer, uns Menschen hineingestellt hat.
Evangelium21 ist dankbar, dass Sarah Eekhoff Zylstra in dem nachfolgenden Artikel David F. Wells und seine Leistungen würdigt. Wir danken zudem Harry Enns für die Übersetzung dieses anspruchsvollen Textes.
Ron Kubsch
Der vergessene Wegbereiter der „Neuen Calvinisten“
Es lief alles so gut.
Nach den Attentaten, Protesten, dem Sex und den Drogen der späten 1960er Jahre entfachte die Jesus-Bewegung in den frühen 1970er Jahren eine landesweite Erweckung.
„Evangelikale sind plötzlich die Nummer eins in der nordamerikanischen Religionsszene“, berichtete Christianity Today im Oktober 1976, dem Jahr also, das Gallup und Newsweek als „Das Jahr des Evangelikalen“ bezeichneten. So fremd war der Begriff da noch, dass David Wells und John Woodbridge ein Buch mit dem Titel The Evangelicals: What They Believe, Who They Are, Where They Are Changing herausgaben.
Auf einer Konferenz der National Association of Evangelicals und der National Religious Broadcasters Anfang 1981 „beschrieb ein Redner nach dem anderen die 80er Jahre als ‚das Jahrzehnt der Evangelikalen‘, als eine Boomzeit für Konservative im Allgemeinen und insbesondere für diejenigen unter ihnen, denen eine Rückkehr zu traditioneller Moral wichtig ist“, so die Washington Post.
Aber während der nächsten zehn Jahre begann der evangelikale Zusammenhalt zu bröckeln. Die Zahl der Megachurches stieg sprunghaft an, jede mit ihrem eigenen überlebensgroßen Leiter. Der Aufstieg und Fall von Fernsehevangelisten wie Jim und Tammy Faye Bakker und Jimmy Swaggart war dramatisch. Die Moral Majority (dt. etwa „die Bewegung der moralischen Mehrheit“) trug ihren Teil dazu bei, Ronald Reagan ins Amt zu bekommen, und musste sich dann wieder auflösen.
Im Jahr 1990 „bekam ich einen Anruf von Mark Noll“, berichtet Wells, damals Professor am Gordon-Conwell Theological Seminary. Noll erzählte ihm, dass das PEW-Forschungszentrum angedeutet hatte, Noll (damals Geschichts- und Theologieprofessor am Wheaton College), Wells und Cornelius Plantinga (Professor am Calvin Seminary) Fördermittel zur Verfügung zu stellen, um darüber zu schreiben, was in der evangelikalen Welt passierte.[1]
„Ich habe nur gelacht“, sagt Wells. Fördermittel sind nicht leicht zu bekommen und er hatte keine Ahnung, warum PEW ihn würde haben wollen.
Wells brachte ein paar Sätze zu Papier. Er hatte zu diesem Thema noch nie geforscht oder auch nur viel darüber nachgedacht. Aber ausgehend von dem, was er bei seinen Studenten beobachten konnte, schien er mit seinen Vermutungen – dass die moderne Kirche dabei war, die Zentralität des Evangeliums zu verlieren – richtig zu liegen.
PEW bewilligte den Männern die Fördermittel. Es war eine gute Investition: In den nächsten Jahren schrieb Noll The Scandal of the Evangelical Mind, Plantinga verfasste Not the Way It’s Supposed to Be: A Breviary of Sin und Wells veröffentlichte No Place for Truth: Or Whatever Happened to Evangelical Theology?.
No Place verkaufte sich gut und fand die Beachtung einer Reihe einflussreicher evangelikaler Leiter, die mit Wells’ Analyse übereinstimmten. Als Reaktion auf das Buch veranstalteten sie eine Konferenz, der dann die Cambridge-Erklärung und schließlich die Gründung der Alliance of Confessing Evangelicals folgte, um eine am Evangelium ausgerichtete Kirchenleitung zu fördern.
Kevin DeYoung, Hauptpastor der Christ Covenant Church, sagte der Gospel Coalition (TGC): „In meinen Kreisen ist er sehr bekannt und es wird viel über ihn gesprochen. Ob die Leute es wissen oder nicht, Together for the Gospel (T4G) und The Gospel Coalition sind alle von seinen Büchern beeinflusst worden. Evangelikale Kirchen, insbesondere die aus einer reformierten Tradition, haben sich seine Worte zu Herzen genommen. Wir wollen die Gewichtigkeit Gottes zurückgewinnen“.
Beeindruckender Beginn
Wells wuchs nicht in einem evangelikalen Umfeld auf, nicht einmal in einem amerikanischen. Er wurde in Simbabwe (damals Rhodesien genannt) geboren.
Seine Eltern waren keine Missionare; tatsächlich waren sie gegen Wells’ Bekehrung. Als er als Seelsorger bei einer einwöchigen Billy Graham-Evangelisation mitarbeitete, sperrte ihn seine Mutter immer wieder aus dem Haus.
Wells’ schottische Großmutter hatte sich Jahre zuvor von ihrem Mann scheiden lassen, war allein nach Südafrika gesegelt und mit einem Ochsenkarren nach Rhodesien gekommen. „Sie war eine wirklich beeindruckende Person“, sagt Wells. (Jahre später würden seine Studenten ihn genauso beschreiben.)
Sie heiratete einen rhodesischen Mann und brachte eine intellektuell begabte Tochter zur Welt, der sie aber den Besuch des Colleges verbot. Also nahm Wells’ Mutter einen Job als Sekretärin an und lernte irgendwie Wells’ Vater kennen, dessen Zuhause so abgelegen war, dass der Weg dorthin nur aus Feldwegen bestand. Auch er war ein mutiger Charakter – ein falsches Alter angebend trat er mit 16 Jahren der britischen Kavallerie bei, kämpfte im letzten erfolgreichen Schwertgefecht des Ersten Weltkriegs und wurde dann Bezirkskommissar und Richter in Rhodesien.
Wells wuchs ohne Elektrizität und Innentoilette auf. Aber er hatte den Verstand seiner Mutter, die Kühnheit seines Vaters und eine Internatsschulbildung. Als Student an der University of Cape Town in Südafrika liebäugelte er mit radikalen Ideen, darunter dem Marxismus. „Meine Kinder haben mir nie geglaubt, wenn ich das sage, aber es ist absolut wahr“, erzählt er.
Eines Tages entdeckte er einige Werbeplakate, die einen britischen Redner über das Christentum ankündigten. Ein paar christliche Freunde luden ihn ein, die Veranstaltung zu besuchen. Das tat er auch, blieb aber nicht.
„Der Redner war John Stott“, berichtet Wells. „Ich bin aus seinem Vortrag rausgegangen. Er schien mir ein bisschen radikal zu sein“.
Aber zwei Wochen später, während er mit anderen Architekturstudenten in den Bergen malte, hörte er den Professor über seinen christlichen Glauben sprechen und „plötzlich machte alles Sinn“, erzählte er Mark Dever, dem Pastor der Capitol Hill Baptist Church in Washington D.C. (USA).
Wells war eifriger für Jesus als er es für Marx gewesen war und wollte sofort in den vollzeitlichen geistlichen Dienst gehen. Seine Freunde hielten ihn dazu an, es langsamer anzugehen. Also schloss er sein Architekturstudium ab und ging, da er wusste, dass es in Simbabwe keine Karrierechancen für ihn gab, nach England. Dort kam er 1962 an, ohne Job, ohne Wohnung und ohne elterliche Unterstützung.
„Ich bin herumgelaufen, bis ich zu John Stotts Pfarrhaus kam und habe an die Tür geklopft“, berichtet Wells. „Er führte mich in sein Büro und wir unterhielten uns. Nach einer Weile fragte er: ‚Wo wohnst du?‘ und ich antwortete: ‚Nun, ich habe kein Zuhause‘. Da sagte er: ‚Komm, du kannst bei mir wohnen‘“.
Beeindruckende Fortsetzung
Wells blieb in Stotts Pfarrhaus und arbeitete als Architekt, während er über einen Weg in den vollzeitlichen Dienst nachdachte. Er verbrachte die Wochentage damit, seinen Mitbewohnern – sechs bis acht alleinstehende All Souls-Pastoren – beim Ringen mit kirchlichen Fragen zuzuhören, und die Wochenenden damit, Stott in der All Souls Church und Martyn Lloyd-Jones in der Westminster Chapel predigen zu hören.[2]
Einer von Wells’ Mitbewohnern machte ihn auf ein Stipendium aufmerksam, von dem Wells dachte, dass er es nie bekommen würde. „Ich war ein Immigrant und noch nicht lange im Land“, erklärt er. „Aber ich habe mich beworben und war verblüfft, als ich das Stipendium erhielt, das sowohl die Kosten für meinen Lebensunterhalt als auch die Studiengebühren abdeckte".
Mit rasantem Tempo begann Wells nun damit, in nur sechs Jahren drei Abschlüsse zu machen – einen BD (Bachelor of Divinity) von der University of London, einen ThM von der Trinity Evangelical Divinity School (TEDS) und einen PhD von der Manchester University. Später forschte er als Postdoktorand an der Yale University.
Sein Beziehungsstatus änderte sich ebenso intensiv. Während er einige Zeit mit Francis Schaeffer in L'Abri verbrachte, lernte er ein Mädchen namens Jane kennen und hatte „eine ziemlich schnelle Romanze“ – sie verlobten sich innerhalb von 10 Tagen. („Das war eine ganz andere Zeit“, erklärt er schmunzelnd. „In der nächsten Woche wollte Jane nach Griechenland und dann zurück in die USA, und ich wollte wieder nach London. Wir mussten unsere Beziehung ziemlich schnell klären“.)
Die ganze Zeit über hörte er die Predigten von Stott und Lloyd-Jones, debattierte heftig mit seinem Freund und Klassenkameraden Os Guinness und beobachtete seine Mitbewohner dabei, wie sie Theologie im echten Leben praktizierten. 1969 zogen er und Jane in die Vereinigten Staaten, wo er Theologie an der TEDS lehrte, bevor er 1979 ans Gordon-Conwell wechselte.
Wells’ ehemalige Studenten beschreiben ihn mit Sätzen wie „ein Vergnügen, ihm zuzuhören“, „ein Geschenk an die Kirche“ und „nicht der Typ, wenn du jemanden brauchst, der dich in den Arm nimmt“.
„Er hatte den Ruf, streng, aber auch ein guter Dozent zu sein – und er war beides“, sagt DeYoung, der, nachdem er Wells im College gelesen hatte, ans Gordon-Conwell ging. „Ich habe so viele Kurse bei ihm belegt, wie ich konnte“.
„Er war einer der besten Professoren, die ich je gehabt habe“, berichtet Dever. „Seine Vorlesungen waren großartig – präzise und gut vorgetragen. Er war sehr gut darin, kommentierte Bibliografien zu geben – an andere Leute zu denken und an das, was sie geschrieben haben. Ich war ein großer Fan“.
Evangelikale in der Kultur
Um das Jahr 1990 nahm Wells Veränderungen in der evangelikalen Landschaft wahr, die ihn beunruhigten.
„Als ich erstmals in die Vereinigten Staaten kam, gab es in der breiten evangelikalen Welt einen informellen lehrmäßigen Konsens“, erklärte er TGC. „Nicht jedes einzelne Thema wurde durch diesen abgedeckt, aber er umfasste die wichtigen Themen. In der Rückschau scheint es ziemlich klar zu sein, dass diese große Koalition des Glaubens kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit Billy Graham, Harold Ockenga und Carl Henry und in Großbritannien mit Stott und Lloyd-Jones und seinerzeit dann auch Francis Schaeffer begann“.
Mit der Zeit ging der Einfluss dieser Männer zurück. „Aber ich glaube nicht, dass die Veränderung nur eine personale Angelegenheit war“, sagt Wells. „Was passierte, war, dass die Welt, die sie repräsentierten – eine Welt, die viel stärker lehrmäßig strukturiert war –, sich auflöste“.
Wells konnte beobachten, wie sich die Aufmerksamkeitsspanne verringerte (Amusing Ourselves to Death wurde 1985 veröffentlicht), die Bildung verschlechterte (als Reaktion darauf begannen die sich an einem klassischen Bildungsverständnis orientierenden Schulen in den frühen 1980er Jahren wieder zu sprießen) und die Moral zurückging.
Als Noll also um etwas bat, das er PEW schicken konnte, formulierte Wells ein paar Sätze darüber, wie die Kultur die Kirche vernebele und pervertiere und wie die moderne Gesellschaft den Geist der Kirche und ihren Appetit auf theologische Wahrheit abstumpfen lasse.
Sechs Wochen später bewilligte PEW die Fördermittel. Der Betrag war großzügig genug, um den drei Männern zu erlauben, zwei Jahre lang in Vollzeit zu forschen und zu schreiben.
„Etwa 20 Minuten lang habe ich nur gestrahlt“, berichtet Wells. „Dann dachte ich: Oh nein, was habe ich getan? Ich bin nicht qualifiziert, darüber zu schreiben. Und das war ich wirklich nicht“.
No Place for Truth
Wells quartierte sich in einem winzigen, fensterlosen Studienraum der Bibliothek des Gordon Colleges ein. Ein ganzes Jahr verbrachte er damit, zu lesen. Er begann mit der 600-seitigen Dissertation von Os Guinness über Peter Berger und las dann fast alles von Berger. Er las Soziologen wie Max Weber und Studien über amerikanische Geschichte und Werbung. Monate später hatte er immer noch keine Idee, was er schreiben sollte.
„Ich bekam einfach nicht genug Klarheit“, berichtet er. „Dieses oder jenes wurde mir klar, aber ich konnte nicht das große Ganze sehen". Er versuchte den Zusammenhang zwischen Christus und einer sich verändernden Kultur zu erklären – einer Kultur, in der die Bevölkerung von den Bauernhöfen in die Städte zieht, Kapitalismus und Technologie den Rhythmus des täglichen Lebens beschleunigen, und die verschiedenen Weltanschauungen der aufeinandertreffenden Menschen einen stärkeren Relativismus produzieren.
„Was diese Art von Welt hervorgebracht hat, ist die Modernisierung“, erklärt Wells. „Das daraus resultierende öffentliche Umfeld ist die Moderne. Aber diese Worte - Modernisierung und Moderne - sind für so viele Menschen Abstraktionen. Wie konnte ich meinen Lesern erklären, was passiert ist, und zwar so, dass sie es verstehen?“
Er fand die Antwort in Wenham, einer kleinen Stadt in Massachusetts, die, wenn das Gordon College nicht in Betrieb ist, 4.875 Einwohner zählt. Wells eröffnet No Place, indem er nachzeichnet, wie Wenham, das nach einer Predigt im Jahr 1635 von Puritanern besiedelt wurde, stufenweise in die Moderne glitt – Telegrafen wichen Radio, Fernsehen und Internet; Ackerland wich Vorstadthäusern; Pferde wurden durch Züge, Autos und Flugzeuge ersetzt.
An irgendeinem Punkt überschritt Wenham dann zusammen mit allen anderen eine Grenze, schreibt Wells in No Place. „Es ist, als ob die Fähigkeit, bessere Autos, bessere Flugzeuge, bessere Medikamente und bessere Theorien zu produzieren, auch die Fähigkeit mit sich bringt, sich selbst zu verbessern - nicht nur unsere eigene Sterblichkeit zu überwinden, was keine geringe Leistung wäre, sondern auch unsere eigene Korruption, was eine noch größere Leistung wäre“.
„Sehr viele Menschen glauben nicht mehr an eine menschliche Natur – etwas, das allen Menschen gemeinsam ist“, erklärte er TGC. Stattdessen „glauben sie an das Selbst – das, was eine Person im tiefsten Inneren ausmacht, was für sie einzigartig ist und sie von jedem anderen Selbst unterscheidet. Das ist tatsächlich auch die Wurzel des extremen Relativismus unserer Zeit, in der die Menschen nicht nur ihre eigenen ‚Werte‘ haben, sondern auch ihre eigene Auffassung von Realität".
Anstatt sich schuldig zu fühlen, weil sie gegen einen heiligen Gott gesündigt haben (vertikale Beziehung), empfinden die Menschen nun Scham oder Verlegenheit darüber, wie andere ihre schlechten Impulse oder ihr schlechtes Verhalten wahrnehmen (horizontale Beziehung).
„Das Ergebnis ist, dass die Menschen heute nicht so sehr nach Vergebung suchen, sondern nach Heilung, womit ich ein besseres inneres Gefühl für sich selbst und eine bessere Erfahrung ihres Selbst meine“, erklärt Wells. „Es gibt viele Wunden und viele Verletzte“.
Amerikaner begannen damit, Medikamente, Selbsthilfebücher und Therapeuten zu suchen, um mit dieser Scham fertig zu werden. Und Christen, die dieselben öffentlichen Schulen besuchten und dieselben Fernsehprogramme sahen, waren dieser Veränderung gegenüber nicht immun.
Anstatt das Leben an der Bibel auszurichten, begannen Christen, sich an ihren Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen zu orientieren, wofür sie dann entsprechende Bibelstellen heraussuchten. Pastoren fokussierten sich nicht mehr darauf, biblische Lehre zu studieren und zu erklären, sondern begannen, den Menschen zu helfen, sich in ihrem Leben zurechtzufinden. Die Gemeinden gaben schwierigere Lehren zugunsten von besucherfreundlichem Marketing auf. Die Emerging Church interpretierte Anbetung, Evangelisation und was es bedeutet, Pastor zu sein, um.
Zunehmend verlagerte sich auch der Unterricht in den theologischen Seminaren von systematischer Theologie oder hebräischer Exegese zu Kursen wie „Geistliches Wachstum“ oder zu Themen wie Theologie und die Künste. Christliche Buchläden, die einst vor Theologiebüchern strotzten, tauschten diese langsam gegen weniger ernsthafte Bücher aus, bevor sie selbst diese gegen Poster und Potpourri eintauschten, bemerkte der Präsident des Southern Baptist Theological Seminary, Al Mohler.
„Wenn man seinen geistlichen Dienst beginnt, sind diese Einsichten, wie das Evangelium auf die Gemeinschaft und die Kultur einwirkt, sehr wichtig“, sagt Pastor Chris Castaldo, der kurz nach dem Erscheinen von No Place am Moody Bible Institute und anschließend bei Wells am Gordon-Conwell studierte. „Wells war eine der Stimmen, die das auf eine Art und Weise angesprochen haben, die durchdacht und klar war. Er hatte keine Angst, Dinge zu benennen und zu sagen: ‚Das ist so nicht richtig‘“.
Wells geht in No Place nicht so sehr auf die Lösung ein, was bei einigen Lesern Kritik hervorgerufen hat. Der Grund hierfür war aber schlicht, dass er noch nicht fertig war (No Place wurde zu einer Reihe ausgebaut) und weil er dachte, die Antwort sei selbstverständlich: Kehre zurück zum Evangelium. Lebe ein gottzentriertes, durch die Gnade und das Opfer Christi bestimmtes Leben.
Einfluss
Wells schätzt, dass von No Place wahrscheinlich etwa 70.000 Exemplare verkauft wurden, einschließlich der Übersetzungen ins Indonesische, Koreanische und Chinesische. Es wurde 1994 auf Platz 1 der Christianity Today‘s Critics Choice for Theology and Biblical Studies gewählt; das Magazin World bezeichnete es als eines der 100 besten Bücher des Jahrtausends.
„Unter konservativen Evangelikalen wurde es sehr populär“, sagt Dever. Der presbyterianische Pastor James Montgomery Boice war davon so angetan, dass er begann, seine Freunde anzurufen.
Boice „rief eine Reihe von uns in Philadelphia zusammen, um die Möglichkeiten einer Allianz zu besprechen“, schrieb 1996 Michael Horton, Professor am Westminster Seminary California. „Obwohl viele von uns bereits auf irgendeine Weise in Arbeiten dieser Art engagiert waren, war [Wells’ Buch] gerade erschienen und half uns dabei, uns um ein gemeinsames Anliegen zu sammeln“.
Boice hatte am Ende mehr als 100 Gemeindeleiter organisiert (darunter Erwin Lutzer, Sinclair Ferguson, Kent Hughes und ein 24-jähriger Ben Sasse), die sich 1996 in Cambridge, Massachusetts, versammelten, um eine Erklärung zu verfassen, in der die fünf Solas der Reformation und die klaren Unterschiede zwischen Protestantismus und Katholizismus bekräftigt und die Defizite in der pfingstlerischen Theologie aufzeigt wurden.
„Leute, die wie Gallup und Barna Umfragen durchgeführt haben, sind mit Statistiken zurückgekommen, die uns einfach zu Tode erschrecken“, schrieb Boice kurz nach der Konferenz. „Wir können nicht glauben, dass es da draußen so viel Unwissenheit über grundlegende theologische Fragen gibt. Und als Ergebnis oder Konsequenz dieses Mangels an einer klar definierten Theologie sehen wir, dass Evangelikale alles kaufen, was die Welt so anbietet“.
Seine Gruppe gründete die Alliance of Confessing Evangelicals (ACE), die ihr Blog Place for Truth nannte. (Zum ersten Vorstand gehörten Boice, Wells, J.I. Packer, Rosemary Jensen, Alistair Begg, Robert Godfrey, Michael Horton, Al Mohler und R.C. Sproul). ACE startete ein Online-Magazin, veranstaltete Konferenzen und unterstützte die Gründung von Together for the Gospel. Viele dieser Männer - und andere Mitglieder wie Ligon Duncan und Mark Dever - sollten später Ratsmitglieder der Gospel Coalition werden.
„David war ein wichtiger Einfluss und eine Schlüsselfigur im Leben einiger dieser YRR-Leiter“, berichtet Wells’ Schüler und Pastor Michael Lawrence aus Oregon.[3] Pastoren sowohl in der Presbyterian Church in America als auch in der Southern Baptist Convention schätzten sein „Beharren darauf, dass wir zum Primat der Wahrheit des Wortes Gottes zurückkehren und uns auf den Geist Gottes verlassen müssen, um seine Gemeinde zu bauen - nicht auf unsere Techniken“.
Eine „Stimme in der Wüste“
Wells war kein Organisator wie Boice. Aber er hörte auch nicht auf zu arbeiten.
„Ich machte weiter, weil ich neben Os [Guinness] die einzige mir bekannte Person war, die in diesem Bereich arbeitete“, sagt Wells (Christianity Today nannte ihn „eine Stimme in der Wüste“). „Mir war das ein so wichtiges Anliegen, weil es sich hier nicht nur um ein esoterisches Interesse handelte - es ging um die Zukunft des biblischen Glaubens in diesem Kontext“.
„Wir verlieren das Staunen und die Hoffnung auf Transzendenz und es fällt uns schwer, uns etwas anderes vorzustellen als das, was wir um uns herum sehen.“
Mit „diesem Kontext“ ist die Modernisierung, nicht nur in Amerika, gemeint. Er erhielt Rückmeldungen von verschiedensten Lesern aus Entwicklungsländern - von Korea bis Afrika - die mitteilten, dass auch sie sich von seinen Warnungen angesprochen fühlten.
Also setzte Wells die Serie 1994 mit God in the Wasteland: Reality of Truth in a World of Fading Dreams fort. Das Buch erklärt, wie unsere Erfahrungen in der modernen Welt unser Denken über Gott beeinflussen. Die Antwort: Wir verlieren das Staunen und die Hoffnung auf Transzendenz und es fällt uns schwer, uns etwas anderes vorzustellen als das, was wir um uns herum sehen.
1998 folgte dann Losing Our Virtue: Why the Church Must Recover Its Moral Vision, in dem er erklärt, dass Selbstdiagnosen und Therapien unsere Sünden- und Verderbtheitsprobleme nicht lösen werden.
Und dann kam Above All Earthly Pow’rs: Christ in a Postmodern World, in dem es um die Person und das Werk Christi als einzige Antwort auf die Sinnlosigkeit und Leere der postmodernen Welt geht. Er schrieb es für Leser, die es schätzten, dass er die Probleme im Evangelikalismus aufzeigte, die aber auch wissen wollten, wie man sie beheben könnte.
Gemeinsam ergeben seine Bücher eine eigene systematische Theologie, die die Lehre von der Heiligen Schrift, von Gott, vom Menschen und von Christus abdeckt. Wells fasste anschließend alles in The Courage to Be Protestant: Truth-Lovers, Marketers, and Emergents in the Post-Modern World zusammen.
„Dass ich nicht länger eine einsame Stimme bin, ermutigt mich sehr“, sagte Wells 2008 Collin Hansen, dem damaligen Redakteur von Christianity Today (Hansen würde im selben Jahr Young, Restless, Reformed veröffentlichen).
„Ich sehe immer mehr Menschen, vor allem in ihren 20ern, 30ern und 40ern, die einen vermarkteten Glauben satt haben…. Sie wollen einen Glauben, der robust, real und stark ist, der den Herausforderungen einer modernisierten Kultur standhalten kann.“
„Ich sehe immer mehr Menschen, vor allem in ihren 20ern, 30ern und 40ern, die einen vermarkteten Glauben satt haben…. Sie wollen einen Glauben, der robust, real und stark ist, der den Herausforderungen einer modernisierten Kultur standhalten kann und der in der gleichen Größenordnung liegt wie die riesigen Probleme, die diese Welt aufwirft. Oft finden sie ihn in einem erneuerten Verständnis davon, was den historisch-christlichen Glauben reformatorischer Prägung tatsächlich ausmacht“.
Zeitlos
Siebenundzwanzig Jahre nach der Veröffentlichung ist es noch zu früh für die Frage, ob No Place ein Klassiker werden wird. Die Kultur, die Wells in den späten 80er und frühen 90er Jahren adressierte - Evangelisten mit starker Aufmachung, besucherfreundlich ausgerichtete Pastoren in Hawaiihemden und Leitern der Emerging Church mit Fake-Irokesenschnitten - ist weitgehend verschwunden.
„Das Problem, wenn man die Nöte der Zeit anspricht, ist, dass sich diese ändern und das Buch weniger relevant werden kann“, erklärte Dever TGC. Aber das passiert nicht immer. „Calvin spricht auf eine nützliche und klare Weise die Probleme der Zeit an. Ich denke, David tut dasselbe“.
1993 hielten einige von Lawrences Klassenkameraden am Gordon-Conwell Wells für einen Griesgram, der zu viel aus der Kultur mache, die sie als harmlos oder neutral ansahen. „Aber ich dachte: Du hast den Nagel auf dem Kopf getroffen“, erzählt Pastor Lawrence. „Kultur ist nicht neutral. Wir können ihr nicht entkommen und wir müssen kritischer über sie nachdenken“.
Kürzlich gab DeYoung seinen Studenten des Reformed Theological Seminary die Aufgabe, das Buch The Courage to Be Protestant zu lesen. Die Reaktion fiel ähnlich aus: „Ein Teil dachte: Dieser Kerl mag gar nichts, aber die Hälfte der Klasse dachte: Wo war das schon mein ganzes Leben? Das ist wirklich aufschlussreich. Es es ist absolut treffend“, berichtet er.
Wells versteht es, „uns dabei zu helfen, ein wenig aus unserem Leben herauszutreten und es aus einem etwas anderen Blickwinkel zu betrachten“, sagt Lawrence. „Er hat uns geholfen zu begreifen: Oh, das ist es, was hier vor sich geht. Deshalb fühle ich so. Das ist der Grund, warum meine Freunde völlig unbeeindruckt davon sind, wie ich ihnen das Evangelium erkläre. […] **Diese Erklärungskraft – es war einfach überzeugend“.
Lawrence liest immer noch Wells. Er arbeitet sich wieder durch die Reihe von Wells Büchern und bittet alle seine Pastorenpraktikanten, No Place zu lesen. Im August nahm er sich mit einer Männergruppe seiner Gemeinde das 1987 erschienene Buch Turning to God vor. Together for the Gospel hat 2012 Tausende von Exemplaren dieses Buches verschenkt, ein paar Jahre nachdem sie ebenfalls Tausende von The Courage to Be Protestant verteilt hatten.
„Wenn wir versuchen, unserer Kultur scheinbare Relevanz zu bieten, tun wir weder ihnen noch uns einen Gefallen, denn was wir brauchen, ist eine größere Vision von Gott, seiner Heiligkeit und seinem Wort.“
„Wir brauchen die Botschaft, dass sich die grundlegenden Realitäten unserer Welt und unseres Dienstes nicht geändert haben“, sagte DeYoung TGC. „Es ist leicht zu denken, dass sich alles verändert hat. Und wenn sich alles verändert hat, dann muss sich auch alles, was wir tun müssen, ändern“.
Wells gibt uns das Gegengift, erklärt er. „Gott ist immer noch derselbe. Sein Wort ist immer noch dasselbe. Es gibt Weisheit, die man aus früheren Zeiten gewinnen kann - nicht, um ein anderes Jahrzehnt oder Jahrhundert nachzuspielen, sondern um zu erkennen, dass die menschliche Natur, das Problem der Sünde und die Lösung immer noch gleich geblieben sind. Wenn wir versuchen, Abkürzungen zu nehmen, im Dienst zu stehen und unserer Kultur scheinbare Relevanz zu bieten, tun wir weder ihnen noch uns einen Gefallen, denn was wir brauchen, ist eine größere Vision von Gott, seiner Heiligkeit und seinem Wort“.
Er erinnert sich, dass ein Kommilitone Wells fragte: „Was sind die Schritte, die wir unternehmen müssen, um das wieder richtigzustellen?“
„Er sagte auf seine britische, einschüchternde Art und Weise, dass genau diese Frage Teil des Problems sei“, erinnert sich DeYoung. „Wir wollen eine Antwort, die uns zwölf einfache Schritte vorgibt, um das Problem zu lösen. So eine Antwort gibt es nicht. Die Antwort ist, Christus zu predigen, Gemeinden zu kultivieren, die auch wie Gemeinden aussehen, und Gott als Gott zu erkennen“.
[1] Pew ist die Kurzform von Pew Research Center, ein großes, nichtstaatliches Meinungsforschungsinstitut in den USA.
[2] Die All-Soul ist eine anglikanische Kirche im Zentrum Londons.
[3] YRR steht für young, restless, reformed (dt. jung, ruhelos, reformiert). Die YRR-Bewegung ist auch bekannt unter der Bezeichnung New Calvinism und zielt darauf, die calvinistischen Lehren in der heutigen Kultur wieder ins Zentrum der Kirche zu stellen.