Christus = Mitte der Schrift

Teil 4

Artikel von Hanniel Strebel
23. Januar 2021 — 7 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist Teil der Artikelreihe „Was ist denn, bitteschön, reformatorische Theologie?“, in der Hanniel Strebel in Kürze die wichtigsten Themenfelder der Dogmatik aus reformatorischer Perspektive beleuchtet.

Im dritten Bereich innerhalb der Dogmatik geht es um die „Christologie“, also die Lehre über Christus. Ich gehe in diesem Artikel jedoch nicht auf die „ordentlichen“ Aspekte dieser Lehre wie die wahre Gottheit und Menschheit Jesu oder das Verhältnis der beiden Naturen ein. Diese Themen haben innerhalb der Dogmengeschichte zu großen Diskussionen Anlass gegeben und sind es sicher wert, durchdacht zu werden. Ich schreibe jedoch mit dem Anliegen, Aspekte der reformatorischen Theologie herauszustreichen, die für aktuelle Fragestellungen erhellend sein können.

Dabei möchte ich die Christus-zentrierte Auslegung der gesamten Schrift, den einen Bund in zwei Etappen der Heilsgeschichte sowie die Bedeutung von Gottes Gesetz beleuchten.[1]

Die Schriften zeugen von mir

Die reformatorische Theologie liest die ganze Schrift, das Alte und das Neue Testament, auf Christus hin. Jesus selbst sagte, dass das Alte Testament von ihm zeugt (Joh 5,39). Was ist mit diesem Zeugnis gemeint? Zur Beantwortung dieser Frage streifen wir das Gebiet der Hermeneutik, der Auslegungsprinzipien der Bibel.

„Die Fokussierung auf Christus steht in einem wohltuenden Gegensatz zu einer rein innerweltlichen, ethischen Lesart der Bibel.“
 

Ich bin in einem christlichen Umfeld aufgewachsen, das buchstäblich aus jedem Vers des Alten Testaments einen christologischen Bezugspunkt herausarbeiten wollte. Handlungen, Aussagen und sogar Gegenstände wurden – für einen unbedarften Leser der Bibel kaum nachvollziehbar – mit einer tieferen Bedeutung versehen. Dabei wurden einzelne Versteile zitiert und die Zuhörer ohne Begründung aufgefordert, den Christusbezug selbst zu bemerken. Das galt indirekt als Zeichen geistlicher Reife. Die reformatorische Theologie ist hingegen geprägt vom literalen (wörtlichen) Verständnis des Textes. Sie geht davon aus, dass der dreieinige Gott in eine bestimmte Situation hinein gesprochen hat. Diese Ansprache geschah zu einer bestimmten Zeit und zu einem bestimmten Publikum. Diesen Sinn gilt es zuerst zu erfassen. Innerhalb dieses Verständnisrahmens soll dann die ganze Schrift auf Christus hin gelesen werden. Er ist der Brennpunkt der Heilsgeschichte.

Paulus verwendet beispielsweise eine trinitarische Formulierung, um zum Ausdruck zu bringen, dass Gott seinen Sohn zur „bestimmten Zeit“ (Gal 4,4) in diese Welt sandte und den Geist seines Sohnes in die Herzen der Losgekauften schickt (Gal 4,6). Der Zeitpunkt der Menschwerdung war also präzise geplant. Als der römischer Herrscher, Kaiser Augustus, sich selbst zum Weltenherrscher ausgerufen hatte, sandte der wahre Weltenherrscher seinen Sohn in diese Welt (Lk 2,1). Der Geburtsbericht des Historikers Lukas ist in diese geschichtlich bedeutsame Zeit eingebettet (vgl. Lk 3,1). Der gleiche Evangelist stellt an das Ende seines Berichts die Begegnung zwischen dem Auferstandenen und zwei seiner enttäuschten Jünger. Anhand der drei Teile des Alten Testaments, der Thora (das sind die fünf Bücher Mose), der Propheten und der Schriften zeigte er ihnen auf, dass der verheißene Messias zuerst leiden und dann verherrlicht werden sollte (Lk 24,27; 24,44). Diese Lesart erkannten die beiden Jünger nachher als das „Öffnen der Schriften“ (Lk 24,33) an. Dasselbe Anliegen sollte auch unsere Auslegung beeinflussen, ohne dabei in eine spekulative Allegorese zu verfallen. Die Fokussierung auf Christus steht in einem wohltuenden Gegensatz zu einer rein innerweltlichen, ethischen Lesart der Bibel. Diese bleibt beim Menschen stehen und der Frage, wie er sich selbst optimieren kann.

Der Bund mit dem ersten und zweiten Adam

Den zweiten Aspekt, den Bund mit dem ersten und zweiten Adam, könnte man auch von einem anderen Standort her betrachten, nämlich der Lehre vom Bund Gottes mit dem Menschen. Die reformatorische Theologie legt großen Wert auf die Einheit der Schrift. Es existiert letztlich ein Bund in zwei heilsgeschichtlichen Etappen. Der eine Bund Gottes mit dem Menschen vollzieht sich in zwei Administrationen.[2] Er wurde zuerst mit dem ersten Menschen, mit Adam geschlossen, und dann mit dem zweiten Adam, Christus. Dieses Verständnis stützt sich im Wesentlichen auf zwei paulinische Texte, nämlich Römer 5,12–21 sowie 1. Korinther 15, besonders V. 45–49.

„Die reformatorische Theologie legt großen Wert auf die Einheit der Schrift. Es existiert letztlich ein Bund in zwei heilsgeschichtlichen Etappen.“
 

Der erste Adam brach den Bund, indem er die Bundesbestimmungen des Stifters missachtete. Die gesamte Schilderung der beiden Testamente dreht sich bis zum Schluss im Prinzip um die Wiederherstellung dieses Bundes. Der Neue Bund findet seine Grundlage in der Aufopferung Christi, wie er selbst bei der Einsetzung des Abendmahls betont (Mt 26,28; Mk 14,24; Lk 22,20; 1Kor 11,25). Die zweite Administration wird in Jesus Christus, dem zweiten Adam, eröffnet. Besonders Johannes betont, dass Gottes Sohn den Willen Gottes völlig ausführte (z.B. in Joh 4,34). Das gesamte Alte Testament hatte herausgestellt, dass weder Mose noch sämtliche Priester, Könige und Propheten des erwählten Volkes diesen Bund halten, geschweige denn den Bundesbruch wiederherstellen konnten. Die Zeiten der „Erquickung“ und „Wiederherstellung“ würden erst mit dem zweiten Mose (Apg 3,20–22) kommen. Dieser heilsgeschichtliche Fokus ist der Reformatorischen Theologie eigen und findet seine „Mitte“ in Christus. Dies schafft auch die Grundlage für die oft erwähnte Identität des erlösten Menschen „in Christus“.

Christus und das Gesetz

Der dritte Aspekt schließt direkt an den zweiten an. Die reformatorische Theologie tendiert dazu, Gottes Gesetz als Wiederspiegelung seines Charakters und daher als gültig für Gottes altes und neues Bundesvolk zu betrachten. Das Gesetz hat nach reformatorischem Verständnis eine fortdauernde Bedeutung.[3]

„Das Gesetz hat nach reformatorischem Verständnis eine fortdauernde Bedeutung.“
 

Gottes Gesetz, so wie es in der Bibel gebraucht wird, bezeichnet im engeren Sinne die Zehn Gebote, zusammengefasst in der Aufforderung, Gott und den Nächsten zu lieben. So deutet es Jesus selbst (Mt 22,37–40). Die Zehn Gebote und die dazu gehörigen zahlreichen Ausführungsbestimmungen innerhalb der fünf Bücher Mose werden zudem in drei Kategorien voneinander unterschieden:[4]

  • Das Zeremonialgesetz wurde durch Christus erfüllt, wie es der Hebräerbrief zeigt (besonders die Kapitel 8–10). Der Opferdienst war eine „Vorschattung“ auf Christus.
  • Das Judizialgesetz betraf Bestimmungen in der ersten Administration unter Israel. Das neutestamentliche, weltweite Gottesvolk lebt nicht mehr in einer Theokratie wie Israel damals.
  • Von ungebrochener Gültigkeit bleibt das Moralgesetz. Das wird schon daran deutlich, dass neun von den Zehn Geboten ausdrücklich im Neuen Testament wiederholt werden.

Ein zweites Modell unterscheidet den sogenannten dreifachen Gebrauch des Gesetzes:

  • Zuerst dient das Gesetz als Spiegel für den nichterlösten Menschen. Es treibt diesen als ein Zuchtmeister zu Christus (vgl. Gal 3,24).
  • Weiter erweist es sich als ein Riegel für die nichterlösten Menschen. Überall dort, wo in staatlichen Gesetzen bzw. in der Umsetzung der staatlichen Ordnung Gottes Gesetze (z.B. gegen Diebstahl oder Mord) beachtet und respektiert werden, kann damit Sünde begrenzt werden. Das Gesetz ist demnach Spiegel für den nichterlösten Menschen, worin er – gewirkt durch den Heiligen Geist – seine Verfehlungen erkennt, und ein Riegel für die gesamten Völker zur Begrenzung der Sünde.
  • Drittens ist das Gesetz eine Regel für den erlösten Menschen. Das durch den Heiligen Geist erneuerte Verlangen zielt dahin, dem Gesetz Gottes nachzustreben (vgl. Röm 8,3–4). Insofern war auch der zweite Adam nicht gekommen, um das Gesetz abzuschaffen, sondern seine eigentliche Bedeutung zu klären und es selbst in seiner Fülle vorzuleben (vgl. Mt 5,17ff).

Schluss

Wie ist nun der innere Zusammenhang der drei dargestellten Aspekte? Christus ist der zweite, der neue Adam, der Gottes Gesetz vollständig einhielt und der gesamten Gerechtigkeit Gottes Genüge tat. In der Lehre vom aktiven und passiven Gehorsam (aktives Erfüllen des Gesetzes, passives Erdulden von Gottes Zorn) wird Christus nicht nur zum Brennpunkt der Heilsgeschichte, sondern auch zum ersten Menschen, der das wahre Ebenbild Gottes verkörperte (Heb 1,3) und in dessen Bild der erneuerte Mensch verwandelt wird (Kol 3,9). Die gesamte Lehre über den Menschen wird somit auf eine christologische Grundlage gestellt. Darum soll es im nächsten Beitrag gehen.


[1] Ich bin mir dabei völlig bewusst, dass bei der Bundestheologie und der Frage nach dem Gesetz eine gewisse Bandbreite innerhalb des reformatorischen Spektrums vorliegt.

[2] Einige reformatorische Theologen legen mehr Betonung auf die Fortsetzung, andere auf die Unterschiede der beiden Epochen.

[3] Auch hier bin ich mir bewusst, dass eine gewisse Bandbreite an Überzeugungen vorliegt.

[4] Manche Theologen betrachten diese Unterteilung als wenig hilfreich und betonen insgesamt die geistliche Bedeutung sämtlicher Gesetze.