Die Ewigkeit Gottes

Artikel von Stéphane Simonnin
19. Januar 2021 — 10 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist Teil einer Reihe von Stéphane Simmonin über die Eigenschaften Gottes. Verschiedene Artikel zu den Eigenschaften Gottes finden sich hier.

Wenn wir über die Eigenschaften Gottes sprechen geht es um die Frage: Wer ist Gott eigentlich? Und wie ist Gott? Diese Fragen mögen überflüssig erscheinen, da unser begrenzter Verstand Gott und sein Wesen nicht ergreifen kann. Vielleicht sind sie uns auch zu abstrakt, faszinierend für Gelehrte, aber nicht für normale Durchschnittschristen gedacht. Instinktiv interessieren wir uns mehr dafür, was Gott für uns getan hat, als dafür, wer er ist. Das ist zum Teil auch verständlich. Schließlich war die neue Fokussierung auf das Werk Christi eine der Errungenschaften der protestantischen Reformation. So kritisierte Johannes Calvin mittelalterliche Theologen für ihr „unnützes Gedankenspiel“[1] über die Natur und das Wesen Gottes. Gleichzeitig hielten Calvin und andere Reformatoren das Nachdenken über Gottes Eigenschaften durchaus für nützlich. Sie ermutigten zu einem Wissen über Gott, das die sogenannte pietas (dt. Frömmigkeit) fördern sollte. Pietas definierte Calvin als „mit Liebe verbundene Ehrfurcht vor Gott, welche aus der Erkenntnis seiner Wohltaten herkommt.“[2]

Im 17. Jahrhundert wurde das Thema der Eigenschaften Gottes von reformierten Theologen weiter vertieft.[3] Unter ihnen schrieb niemand eine umfassendere Studie als der englische Puritaner Stephen Charnock. Sein Werk Discourses upon the Existence and Attributes of God ist die ausführlichste puritanische Abhandlung über die Lehre von Gott. Charnock verfasste dieses Werk zum Ende seines Lebens für die Gemeinde in Bishopsgate, London, in der er gemeinsam mit dem ebenfalls bekannten Puritaner Thomas Watson als Pastor diente. Unglücklicherweise blieb Charnocks Werk unvollendet, da er 1680 verstarb. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete er an einer Ausarbeitung über die Geduld Gottes. Seine Arbeit zeigt deutlich, dass er zu Recht zu den besten puritanischen Theologen gezählt wird: ein kluger Kopf, erstaunliche exegetische Fähigkeiten und eine ungewöhnliche Begabung für packende Metaphern und Analogien kennzeichnen ihn. Sein Werk ist somit besonders wertvoll und aufgrund der typisch puritanischen Betonung der praktischen Anwendung auch für den heutigen Leser lohnend.

Charnock impliziert nicht, dass Gott durch die Eigenschaften lediglich beschrieben wird, sondern folgt der klassisch christlichen Lehre, dass Gott alle seine Eigenschaften stets völlig in sich vereint. Es gibt demnach keine Unterscheidung zwischen seinen Merkmalen und seinem Wesen (Lehre der göttlichen Einfachheit). Mit einer strikten Christuszentrierung zeigt Charnock immer wieder, dass Christus die göttlichen Eigenschaften für sich beansprucht. Da diese Ausführungen zu Gottes Existenz und Eigenschaften nahezu tausend Seiten[4] lang sind, mag man sich wundern, warum er über dieses Thema so ausführlich geschrieben hat. Ich glaube, Charnock wusste, dass es unser Privileg als auch unsere Pflicht als Gläubige ist, Christus zu verherrlichen, was wir aber mit einer falschen Sicht auf seine Eigenschaften nicht tun können. Sein Mitarbeiter aus Bishopsgate, Thomas Watson, schrieb, „Gott zu verherrlichen“ bedeutet unter anderem „Gott-bewundernde Gedanken“[5] zu haben. Genau diese Sicht versucht auch Charnock in uns zu verankern. In einer der einleitenden Ausführungen trägt er als wesentlichen Punkt vor, dass Anbetung im Prinzip auf dem Verstehen beruht. Diese Idee muss heute dringend wiederentdeckt werden. So schreibt Charnock:

„Anbetung ist ein Akt des Verstandes, der sich auf die Erkenntnis der Vortrefflichkeit Gottes und den tatsächlichen Gedanken an seine Majestät richtet, indem er ihn als den obersten Herrn und Herrscher der Welt anerkennt, was natürliche Erkenntnis ist und indem er die Herrlichkeit seiner Eigenschaften im Erlöser betrachtet, was evangeliumsgemäße Erkenntnis darstellt.“[6]

Lasst uns dort beginnen, wo auch Carnock angesetzt hat, bei der Ewigkeit Gottes. Zunächst bekräftigt er, dass es durchaus möglich ist, über diese Eigenschaft Gottes nachzudenken. Obwohl wir die Bedeutung der Ewigkeit Gottes nie erfassen werden, können wir durchaus begreifen, dass sie real ist:

„Obwohl wir die Ewigkeit nicht fassen können, können wir trotzdem verstehen, dass es Ewigkeit gibt; genauso wie wir das Wesen Gottes nicht zu fassen vermögen und dennoch verstehen, dass er ist.“[7]

Die Schrift hilft uns, indem sie in einer zugänglichen Art und Weise über diese Dinge spricht. Tatsächlich wählt Charnock als Ausgangspunkt seiner Exegese Psalm 90,2: „Herr, du bist unsere Zuflucht von Geschlecht zu Geschlecht! Ehe die Berge wurden und du die Erde und den Erdkreis hervorbrachtest, ja, von Ewigkeit zu Ewigkeit bist du Gott“. Dieser Text ist gut geeignet, da er die Ewigkeit Gottes in einer für unseren begrenzten Verstand verständlichen Weise beschreibt. Sowohl die Präexistenz Gottes („ehe denn die Berge wurden“) als auch die zukünftige Dimension „von Ewigkeit zu Ewigkeit“ werden betont. Charnock schreibt dazu Folgendes:

„Obwohl die Ewigkeit Gottes ein dauerhafter Zustand ohne Abfolgen ist, gefällt es dem Geist Gottes, sich der Schwäche unseres Begreifens anzupassen und sie in zwei Teile zu teilen, eine bereits vergangene vor der Erschaffung der Welt und eine in der Zukunft liegende nach der Zerstörung der Erde.“[8]
„Das Fehlen eines Anfangs betont Gottes ewigen Vorsatz, die Menschen zu retten.“
 

Charnock bemüht sich anschließend, die Bedeutung der Ewigkeit Gottes zu erklären, indem er es von anderen „Arten“ von Ewigkeit abgrenzt. Konkret von dem ewigen Leben, das den Gläubigen in Christus versprochen ist. Gottes Ewigkeit ist „seine eigene“ Ewigkeit. Gott hat in sich Leben, als Teil seines Wesens und nicht durch die „Teilhabe“ an der Ewigkeit einer anderen Person. Aber wie soll Gottes Ewigkeit nun beschrieben werden? Charnock wählt hier den Weg der negativen Formulierung, indem er darlegt, was Gott nicht ist. Gott hat keinen Anfang, kein Ende oder eine „Abfolge“. Während uns jedes dieser „negativen Attribute“ mit Staunen füllt, scheint Charnock vor allem von einem fasziniert zu sein, was auch unsere Vorstellungskraft packen sollte: Das Fehlen eines Anfangs betont Gottes ewigen Vorsatz, die Menschen zu retten.

„Das Evangelium wird nicht aufgrund des Befehls eines neuen und zeitlich begrenzten Gottes gepredigt, sondern von dem einen Gott, der vor jeder Zeit war. Auch wenn die Realisation zu einem konkreten Zeitpunkt geschah, sind Absicht und Entschlossenheit ewig.“[9]

Praktische Anwendungen

1. Hoffnung

Der beeindruckendste Aspekt an Charnocks Ausführungen sind die praktischen Anwendungen, von denen drei besonders herausragen: Erstens ist der wichtigste „Nutzen der Information“, dass Christus Gott ist, da die Ewigkeit – eine Eigenschaft Gottes – Christus zugeschrieben wird (siehe Kol 1,17). Diese Wahrheit finden wir an zahlreichen Stellen, so auch in Micha 5,2, wo zwei Mal von dem „Weitergehen“ gesprochen wird, bezogen auf Himmelfahrt und Ewigkeit. Charnock zitiert jedoch nicht nur unterstützende Bibelstellen (obwohl er Kol 1,17, Hebr 13,8 und Offb 1,8 erwähnt), sondern unterscheidet mit puritanischer Genauigkeit zwischen der Ewigkeit Christi und der den Gläubigen zugesagten Ewigkeit. Die Ewigkeit Christi besteht in einem „tatsächlichen Besitz“ und wurde nicht lediglich „verordnet“. Dies gilt gleichermaßen für seine Herrlichkeit wie seine Präexistenz.

„Christus spricht von einer Herrlichkeit, die er „mit dem Vater vor Grundlegung der Welt besaß“ (vgl. Joh 17,5), noch bevor es Leben gab. Dies ist eine tatsächliche Herrlichkeit und keine verordnete, denn eine verordnete Herrlichkeit hatten Gläubige; sonst könnte ja jeder Gläubige die Worte Jesu nachsprechen, wenn es nicht nur eine verordnete Herrlichkeit wäre. Nein, von jedem Menschen kann nur gesagt werden, dass er vor Grundlegung der Welt war, weil es so verordnet wurde. Aber Christus spricht von etwas, das nur er besitzt; von einer Herrlichkeit, die er vor Grundlegung der Welt tatsächlich besaß.“[10]

Für unseren Glauben hat die Ewigkeit Christi eine grundlegende Bedeutung. Ohne sie gibt es für Sünder wie uns keine Hoffnung.

„So wie die Ewigkeit Gottes die Grundlage jeder Religion ist, stellt die Ewigkeit Christi das Fundament des christlichen Glaubens dar. Könnte unsere Sünde ganz gesühnt werden, wenn er als Antwort auf unsere Schuld gegenüber einem ewigen Gott keine ewige Göttlichkeit hätte?“[11]

2. Geborgenheit

Die zweite packende Anwendung ist der „Nutzen der Geborgenheit“. Gottes Ewigkeit ist ganz offensichtlich eine Quelle der Ermutigung für uns. Wenn Gott ewig ist, dann sind es auch seine Bundesversprechen, dann sind wir mit einem Gott vereint, der nicht nur unsterblich ist, sondern auch die Quelle konstanter und nie endender Freude. Ein ewiger Gott hat nicht nur die Macht, seine Versprechen zu halten, sondern auch absolute Weisheit, die einem perfekten Vorherwissen entspringt. Dies zeigt, nebenbei bemerkt, wie Gottes Eigenschaften untrennbar miteinander verbunden sind:

„Menschen, die ohne Wissen über die Zukunft geschaffen wurden, können ihre Versprechen brechen, aber Gott, der ewig ist, weiß im Voraus alle Dinge unter der Sonne, als ob sie sich bereits vor ihm abgespielt hätten; und nichts kann ihn stören oder eine Veränderung seiner Entscheidungen bewirken, denn auch die kleinsten Umstände hat er bereits ewig vorhergesehen.“[12]
„Die Augen der Gemeinde sollten sich in den größten Verwirrungen auf die Ewigkeit des Thrones Gottes fixieren, wo er als Herrscher dieser Welt sitzt.“
 

Die Gemeinde sollte die Ewigkeit Gottes, an der sie ja Anteil hat, mehr als jemals zuvor wertschätzen.

„Die Augen der Gemeinde sollten sich in den größten Verwirrungen auf die Ewigkeit des Thrones Gottes fixieren, wo er als Herrscher dieser Welt sitzt. Außer der Gemeinde kann kein Geschöpf Trost in dieser Perfektion finden; die anderen Geschöpfe sind von Gott abhängig, die Gemeinde aber ist mit ihm verbunden.“[13]

3. Ermahnung

Zuletzt und vielleicht am wichtigsten ist der „Nutzen der Ermahnung“, da wir es nötig haben, über die Abscheulichkeit unserer Sünde gegen einen ewigen Gott nachzudenken. Charnock macht folgende überraschende Aussage: „Jede Sünde wird durch die Ewigkeit Gottes verschlimmert.“[14] Warum ist das so? Weil alle Sünde aus einer unangemessenen Sicht auf Gottes Eigenschaften, insbesondere seiner Ewigkeit, stammt:

„Im Wesen jeder Sünde findet sich eine Tendenz, Gott auf ein Nichtvorhandensein zu reduzieren. Jemand, der unwürdig über Gott denkt oder sich ihm gegenüber unwürdig verhält, beschmutzt und zerstört zwei seiner Unfehlbarkeiten: seine Unveränderlichkeit und Ewigkeit. Jeder, der ein vergängliches Ding mit der gleichen Zuneigung liebt, mit der er einen ewigen Gott lieben sollte, verachtet seine Ewigkeit.“[15]

Dieser herausfordernde Gedanke bedarf langen und gut überlegten Nachdenkens. Charnock will uns zeigen: Das Nachdenken über Gottes Eigenschaften mag harte Arbeit sein, aber kein anderes Studienobjekt ist besser geeignet, unser Denken zu demütigen und zu vertiefen. Wir werden uns selber vergessen und all unsere Aufmerksamkeit auf den einen wahren Gott lenken, der die Quelle allen Lebens und aller Segnungen ist. Dies ist mit Sicherheit die Quelle, von der alle pietas entspringt.


[1] Vgl. Johannes Calvin, Institutio, 1.2.2

[2] Vgl. ebd. 1.2.1

[3] Eine Ausnahme ist Girolamo Zanchis wissenschaftliche Ausarbeitung De Natura Dei (1577).

[4] Alle Zitate in diesem Artikel stammen aus dem ersten Band der Works of Stephen Charnock, hrsg. von Banner of Truth.

[5] Vgl. Thomas Watson, Einführung zu A Body of Divinity.

[6] The Works of Stephen Charnock, Band 1, Edinburgh: Banner of Truth Trust 2010, S. 298.

[7] Ebd., S. 348.

[8] Ebd., S. 347.

[9] Ebd., S. 350.

[10] Ebd., S. 361.

[11] Ebd.

[12] Ebd., S. 367.

[13] Ebd., S. 365.

[14] Ebd., S. 362.

[15] Ebd.