Chrysostomus, Augustinus & Co.

Warum Evangelikale eine theologische Rückbesinnung brauchen

Artikel von Gavin Ortlund
5. Januar 2021 — 8 Min Lesedauer

Im Jahr 2017 konvertierte Hank Hanegraaff, bekannt als der „Bible Answer Man“ [aus einer US-amerikanischen Radiosendung: „der Mann, der die biblischen Antworten kennt“; Anm. d. Red.], zur Orthodoxen Kirche. Daraufhin lud Rod Dreher, selbst orthodoxer Gläubiger, andere Evangelikale ein, diesem Beispiel zu folgen:

„Viele Evangelikale sind auf der Suche nach der alten, ursprünglichen Kirche; und hier ist sie, in der Orthodoxen Kirche. Mir ist klar, dass Hanegraaffs Übertritt für manche ein Skandal ist. Aber ich hoffe, dass sich zumindest einige die Frage stellen werden, wie es denn sein kann, dass jemand, der derart gut in der Bibel Bescheid weiß wie Hank, zur Orthodoxen Kirche konvertieren kann und dort an einer Göttlichen Liturgie teilnehmen, um zu schmecken und zu sehen, was das ist.“

Für viele Evangelikale, vor allem aus der jüngeren Generation, scheint diese Aufforderung einen gewissen Reiz zu haben. Zeugnisse von Übertritten in die Orthodoxe oder in die Römisch-katholische Kirche gibt es reichlich. Peter Kreeft schrieb das Vorwort zu dem Buch von Scott und Kimberly Hahn Rome Sweet Home: Our Journey to Catholicism. Dort bezeichnet er das Zeugnis von ihrer Konversion zum Katholizismus als „eine aus einer zunehmenden Anzahl solcher Geschichten, die in der amerikanischen Kirche heutzutage aus dem Boden zu sprießen scheinen wie die Krokusse im Frühling durch den Schnee“.

Man sollte diesen Trend nicht überbewerten und auch nicht unnötig in Panik verfallen. Global gesehen konvertieren mehr Leute aus dem Katholizismus zum Protestantismus als umgekehrt. Dennoch gibt es unter Evangelikalen genügend Bewegung in Richtung Rom oder Konstantinopel, dass man das Phänomen auch nicht ignorieren sollte – insbesondere, da es auch immer wieder im Zusammenhang mit ziemlich bekannten und einflussreichen Leitern im gemeindlichen Raum auftritt.

Als beispielsweise Francis Beckwith zum römisch-katholischen Erbe seiner Jugend zurückkehrte, war er erst vier Monate zuvor zum Präsidenten der Evangelical Theological Society gewählt worden. Ähnlich waren viele Evangelikale längst mit der Diagnose des Soziologen Christian Smith – nämlich des „moralistisch-therapeutischen Deismus“ – vertraut, als ihnen ein weiteres Buch von ihm in die Hände fiel: How to Go From Being a Good Evangelical to a Committed Catholic in Ninety-Five Difficult Steps [Wie man in 95 schwierigen Schritten von einem guten Evangelikalen zu einem hingegebenen Katholiken wird].

Erstaunlicherweise scheint die Anziehungskraft, die von einer geschichtsträchtigen Tradition ausgeht, in Einzelfällen sogar eine ganze protestantische Institution oder einen ganzen protestantischen Kontext zu erfassen. So erzählt z.B. der erste Abschnitt auf der Rückseite des 2016 erschienenen Buches Evangelical Exodus: Evangelical Seminarians and Their Paths to Rome [Evangelikaler Exodus: Evangelikale Seminar-Absolventen und ihre Wege nach Rom] eine faszinierende Geschichte:

„Im Lauf eines einzigen Jahrzehnts traten Dutzende von Studenten, Absolventen und Professoren einer konservativen evangelikalen Ausbildungsstätte in North Carolina (Southern Evangelical Seminary) zum Katholizismus über. Diese Konversionen waren bemerkenswert, weil sie Menschen aus ganz verschiedenen Hintergründen betrafen und aus verschiedenen Gründen geschahen – bevor das Buch entstand, hatten viele von ihnen nicht mit den anderen über ihre Gedanken gesprochen. Noch überraschender ist, dass der Gründer der Ausbildungsstätte, der zugleich ihr langjähriger Präsident war, der bekannte Professor Dr. Norman Geisler, zwei komplette Bücher und mehrere wissenschaftliche Artikel verfasst hatte, in denen er den Katholizismus aus evangelikaler Perspektive kritisiert.“

In der Einleitung dieses Buches stellt Douglas Beaumont dann fest, dass „diese Bewegung aus dem konservativen Evangelikalismus hin zum Katholizismus sich nicht auf diese eine Ausbildungsstätte beschränkt; tatsächlich bezeichnen manche dieses Phänomen als einen Exodus.“ Auch wenn der Begriff Exodus zu stark sein mag, lässt sich doch nicht abstreiten, dass hier ein Phänomen vorliegt, das untersucht werden will und dem wir unser Gehör schenken sollten.

Reaktionen auf ein reales Problem

Wodurch wird dieser Trend hervorgerufen? Natürlich ist die Geschichte jedes Menschen einzigartig, daher müssen wir berücksichtigen, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Faktoren in jedem Einzelfall eine Rolle gespielt haben kann. Dennoch gibt es ein wiederkehrendes Thema bei diesen Migrationen von einer Denomination zur anderen, das auch in Drehers Interpretation von Hanegraaffs Übertritt anklingt: die Sehnsucht nach historischem Tiefgang. Vor allem in der heutigen jüngeren Generation scheint es einen tiefen Hunger nach geschichtlicher Verwurzelung zu geben, der offensichtlich in vielen evangelikalen Kontexten nicht gestillt wird.

Diejenigen, die sich als „evangelikal“ bezeichnen, sollten sich sorgfältig mit diesem Phänomen befassen. Es gibt eine Menge zu lernen aus den Zeugnissen derer, die unsere Reihen verlassen. Viele ihrer Kritikpunkte sind berechtigt. Viel zu oft sind die evangelikalen Gepflogenheiten im Hinblick auf Gottesdienst und geistliches Leben einfach ein Produkt der neuesten – vorübergehenden – Trends, mit nur wenig Bezug zu den historischen Praktiken der Kirche.

Und die Bezüge, die wir tatsächlich zur Kirchengeschichte herstellen, sind oft beschränkt auf unser eigenes konfessionelles Erbe, mit wenig Interesse für das, was die Kirche im größeren Rahmen darüber hinaus betrifft.

„Evangelikal“ und „historisch“ ist kein Gegensatz

Aber ich sehe nicht ein, dass man den Evangelikalismus verlassen muss, um nach einem Glauben mit Geschichte zu suchen. Zum einen war die Vision der ersten Protestanten – der Reformatoren selbst – durch und durch „katholisch“. So massiv die Kritik der Reformatoren an der mittelalterlichen katholischen Kirche auch war, sie unterschieden sich doch stets von den Wiedertäufern, weil sie deutlich machten, dass es ihnen darum ging, die wahre Kirche Gottes zu reformieren, nicht, sie neu zu erschaffen.

Im Einklang mit dieser Perspektive beriefen sie sich nicht nur regelmäßig auf die Theologie der Alten Kirche, sondern aufs Ganze gesehen gestalteten sie alle ihre Reformationsbemühungen als deren Wiederherstellung. So fasste z.B. Johannes Calvin das Ziel der Reformation folgendermaßen zusammen:

„Wir versuchen nichts anderes, als daß einmal jenes altehrwürdige Antlitz der Kirche wiederhergestellt werde. … [wie sie] zu Zeiten eines Chrysostomus und Basilius bei den Griechen und zu Cyprians, Ambrosius’ und Augustins Zeiten bei den Lateinern [aussah].“[1]

Auch Martin Luther bestätigte trotz all der Härte, mit der er gegen Rom anging, dass Gott die wahre Kirche inmitten von Zeiten der Verdorbenheit bewahrt habe. In den 1530ern erklärte er, die römische Kirche – obwohl kompromittiert – habe die Zeugnisse für das Evangeliums in ihr nicht völlig ausgelöscht.

„Auch Martin Luther bestätigte trotz all der Härte, mit der er gegen Rom anging, dass Gott die wahre Kirche inmitten von Zeiten der Verdorbenheit bewahrt habe. “
 

Dem Protestantismus wohnt nichts inne, das uns darin bestärken würde, uns von der Alten und der mittelalterlichen Kirche zu distanzieren. Im Gegenteil, das Beste der protestantischen Theologie war stets das, was gut in der Geschichte bewandert war. Timothy George drückt es so aus: „Trotz all ihrer Kritik an den überlieferten Dogmen des mittelalterlichen Katholizismus sahen die Reformatoren sich selbst in prinzipieller Kontinuität mit den grundlegenden Dogmen der Alten Kirche.“

Spannende Zeiten für eine Rückbesinnung

Glücklicherweise sprechen sich heute viele evangelikale Leiter für eine umfassendere und mehr in der Geschichte verwurzelte Vision des Protestantismus aus, wie sie der Vision der Reformatoren entspricht. So untersucht beispielsweise Kevin Vanhoozer die fünf Soli der Reformation, um durch sie einen „reinen Protestantismus“ als Erneuerungsbewegung für das 21. Jahrhundert vor Augen zu malen. Für Vanhoozer bilden die fünf Soli „keine Alternative zur orthodoxen Tradition, sondern eine tiefere Einsicht in das eine wahre Evangelium, das diese Tradition untermauert“.

Vanhoozer und einige andere haben gemeinsam Ein allgemeines protestantisches Bekenntnis zusammengestellt. Dieses Dokument bekennt, dass Protestanten zuweilen Spaltungen und Parteiungen bewirkten, aber es verneint, dass eine solche Haltung den Protestantismus kennzeichnen muss. Es bemüht sich darum, einen „einenden Protestantismus“ wiederzuerlangen, wie er ursprünglich in den fünf Soli ausgedrückt wurde.

Ähnlich unterstützt auch das Center for Baptist Renewal Baptisten dabei, sich mit der großen Tradition der Kirche durch die Kirchengeschichte hinweg zu befassen. Auch andere Evangelikale veröffentlichen hilfreiche Arbeiten, um die Theologie der alten und der mittelalterlichen Kirche wiederzuentdecken.

„Dieses steigende Interesse an theologischer Wiederverwurzelung ist eine faszinierende Möglichkeit für die heutige Gemeinde.“
 

Dieses steigende Interesse an theologischer Wiederverwurzelung ist eine faszinierende Möglichkeit für die heutige Gemeinde. Natürlich ist einerseits eine solche theologische Rückbesinnung nichts Neues. Die Kirche hat stets auf die Vergangenheit zurückgegriffen, um auf die Fragen von heute zu antworten. Dennoch hat unser kultureller Kontext ein neues Bedürfnis nach Wiederverwurzelung aufbrechen lassen. Speziell der Individualismus und die Autonomie des modernen Westens mündeten in ein Gefühl der Ernüchterung und in den Verlust der Transzendenz. Rückbesinnung ist eine kraftvolle Möglichkeit, um dieser Not abzuhelfen.

[1] Mußte Reformation sein? Calvins Antwort an Kardinal Sadolet, übersetzt und eingeleitet von Günter Gloede, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1957, S. 19.