Francis Schaeffer über das Jahr 2020

Artikel von Elliot Clark
27. Dezember 2020 — 8 Min Lesedauer

Wenn wir darüber nachdenken, was Francis Schaeffer in seinen späten Jahren für das Christentum geleistet hat, denken wir oft an L‘Abri in den Schweizer Alpen und seine herausragenden Bücher wie Gott ist keine Illusion, Preisgabe der Vernunft und Wie können wir denn leben?. Wahrscheinlich hat gegen Ende des Jahres 2020 allerdings eines seiner weniger bekannten Werke, nämlich Kirche am Ende des 20. Jahrhunderts, die größte Bedeutung für Gemeinden.

Dieses kleine Buch, das vor genau 50 Jahren veröffentlicht wurde, mag zwar sehr veraltet wirken, wenn ich meine Ausgabe aus dem Jahr 1970 betrachte, doch sind die Themen darin überraschend aktuell. Schaeffer spricht den Verlust von Wahrheit und persönlicher Verantwortung, den Zerfall von Autorität und die wachsende Bedrohung durch Gewalt an. Er warnt vor einer bevorstehenden ökologischen Katastrophe, wissenschaftlicher Manipulation und sogar der Möglichkeit, dass Staaten ein tödliches Virus entwickeln und als Waffe benutzen könnten.

Die Tendenz zur Panikmache mag der größte Schwachpunkt dieses Buches sein. Und doch verharrt Schaeffer in seiner Analyse nicht dabei, sondern bietet der damaligen und heutigen Kirche eine sowohl positive, ganzheitliche als auch hoffnungsvolle Antwort.

Das Chaos in Schaeffers Tagen

Schaeffer schreibt als Reaktion auf die damalige Studentenrevolution. Zu dieser Zeit war die Jugendkultur in Amerika und Europa desillusioniert von ihren Eltern und den politischen Eliten, die sie als autoritär und abgehoben empfanden. Sie waren an uneingeschränkter Freiheit interessiert. Es gab auch eine gewisse Ermüdung durch nicht enden wollende Kriege. Und zu Hause – dies betrifft vor allem die USA – waren viele Studenten durch die beiden Themen Armut und Rassenungerechtigkeit verunsichert. Als Folge dessen engagierten sich viele in der politischen Bewegung, die als „Neue Linke” bekannt wurde.

Zu Beginn des Buches beschreibt Schaeffer seine Gesellschaft als geprägt von zunehmender Polarisierung, Desillusionierung und Hoffnungsverlust, die in ihrer Kombination geradewegs ins Chaos führen. Auf politischer Ebene beklagt Schaeffer ein Umfeld, in dem der klassische Liberalismus Selbstmord begangen hat – zerstört durch das Streben nach autonomer Freiheit, losgelöst von jüdisch-christlichen Werten, die solche Freiheiten doch erst hervorgebracht hatten. Er warnt auch vor der Sinnlosigkeit des Konservatismus – der per Definition ein Kampf für den Status quo ist – wo wir doch in einer postchristlichen Gesellschaft leben, in der die vorherrschenden Werte der Mehrheit es nicht wert sind, bewahrt zu werden.

„In diesem bemerkenswert vorausschauenden Werk sagt Schaeffer den unvermeidlichen Verlust von Freiheit voraus, wenn die christlichen Grundlagen der westlichen Gesellschaft endgültig zerbröckelt sind.“
 

Bereits 1970 erklärt Schaeffer, dass die Vereinigten Staaten – nicht nur Europa – fast postchristlich sind. Er schreibt über die Tatsache, dass das historische Christentum im Westen zur Minderheit wird, die ihrer kulturellen Macht und ihres Einflusses beraubt ist. In dieser Situation sieht Schaeffer eine große Gefahr für Evangelikale, nämlich, dass sich diese auf die Seite der politischen Elite stellen, um am Komfort, Wohlstand und persönlichen Frieden festzuhalten. Angesichts des gesellschaftlichen Chaos und Umbruchs will Schaeffer nicht, dass Christen um eines kurzlebigen Komforts willen Kompromisse eingehen.

In diesem bemerkenswert vorausschauenden Werk sagt Schaeffer den unvermeidlichen Verlust von Freiheit voraus, wenn die christlichen Grundlagen der westlichen Gesellschaft endgültig zerbröckelt sind. Als Antwort ruft Schaeffer zu einer Art kulturellem Krieg auf – aber nicht in der Art, wie wir ihn uns vielleicht vorstellen. Schaeffer wünscht sich vielmehr eine christliche Revolution in Form einer geistlichen Reformation.

Reformation: Eine bessere Revolution

Angesichts der sozialen und kulturellen Realität seiner Zeit – die frappierende Ähnlichkeit mit unserer Zeit aufweist – skizziert Schaeffer drei Aspekte einer wahren Revolution für die Gemeinde.

1. „Christen müssen den Unterschied zwischen einem ,Mitstreiter‘ und einem ,Verbündeten‘ kennen“

Christen mögen bestimmte Ideale bejahen und mit anderen zusammenarbeiten, um diese Ideale zu verwirklichen, ohne sich einem bestimmten politisches Lager anzuschließen. Schaeffer schreibt: „Wenn es soziale Ungleichheit gibt, dann sprich davon, dass es soziale Ungleichheit gibt. Wenn es Ordnung braucht, dann sage, dass es Ordnung braucht”. In unserer Zeit gilt dieser Punkt immer noch. Die Kirche muss die Fähigkeit behalten, göttliche Werte (z.B. „Black Lives Matter“) zu artikulieren und sich dennoch auch mit den irdischen Werten, Urteilen und Handlungen (wie z.B. beunruhigenden Aspekten der „Black Lives Matter“-Bewegung) kritisch auseinanderzusetzen.

„Die Kirche sollte sich für das einsetzen, was richtig ist, während sie sowohl die politische Polarisierung als auch die kulturelle Kapitulation ablehnt.“
 

Aber die Herausforderung besteht, wie zu Schaeffers Zeit, darin, dass Pastoren und Christen gesagt wird, sie müssten sich für die eine oder andere Seite entscheiden. Schaeffer ist der Meinung, dass die Kirche sich an diesem kritischen Punkt entschlossen heraushalten sollte. Sie sollte sich weder auf die eine oder andere Seite des politischen Spektrums stellen, um im Namen Christi und der Schrift, der Wahrheit und Liebe sprechen zu können. Mit anderen Worten: Die Kirche sollte sich für das einsetzen, was richtig ist, während sie sowohl die politische Polarisierung als auch die kulturelle Kapitulation ablehnt.

Am interessantesten ist vielleicht, dass Schaeffer diesen Aufruf zum Teil um der nächsten Generation willen macht, die dazu neigt, über die einengenden politischen Ansichten ihrer Eltern hinauszuwachsen. Wenn das vor 50 Jahren stimmte, dann ist es unter Evangelikalen sicher auch heute so.

2. „Wir und unsere Gemeinden müssen Wahrheit ernst nehmen“

Die zweite Komponente dieser Revolution beinhaltet die Notwendigkeit einer freimütigen Darstellung der Wahrheit, die dem theologischem Liberalismus an den Hochschulen widersteht und die Welt durch ihr Zeugnis erreicht. Die heutige Kirche muss die Wahrheit ernst genug nehmen, um wie die frühe Kirche sowohl von religiöser als auch von säkularer Seite verachtet zu werden. Mit anderen Worten, die Kirche braucht das Rückgrat der Apostel, die bereit sind, Schande und Ablehnung um des unveränderlichen Evangeliums willen zu ertragen. Aber Schaeffer warnt auch vor Heuchelei. Eine Kultur, die sich von Authentizität angezogen fühlt, wird die Fassade einer Kirche durchschauen, die Unwahrheiten lebt. „Es ist an der Zeit“, schreibt er, „einer Generation, die das Konzept von Wahrheit für undenkbar hält, zu zeigen, dass wir die Wahrheit sehr wohl ernst nehmen“, sowohl in unserer Lehre als auch in unserem Leben.

„Die heutige Kirche muss die Wahrheit ernst genug nehmen, um wie die frühe Kirche sowohl von religiöser als auch von säkularer Seite verachtet zu werden.“
 

Schaeffer fährt fort, die Gemeinde zu ermutigen, Nichtchristen in tiefere Gespräche zu verwickeln. Unter Bezugnahme auf den kanadischen Philosophen Marshall McLuhan (einschließlich seiner Vorhersage des „elektronischen Dorfes“, in dem wir durch einen riesigen Computer alle wissen werden, was jeder denkt!) sagt Schaeffer, dass unser christliches Zeugnis gegen seichte Kommunikation ankämpfen und „darauf bestehen muss, dass es um Inhalte geht“.

Mit anderen Worten: Unsere Evangelisation und Apologetik muss über tweetbare Argumente oder inspirierende Instagram-Posts hinausgehen. In dieser Ära der endlosen Tiraden und Beschimpfungen muss die christliche Antwort tief beziehungsorientiert und nachweislich vernünftig sein. Im Jahr 2020 gilt Schaeffers Warnung vor Heuchelei auch für Christen, die sich an der Verbreitung von politischen Verschwörungen und wissenschaftlichen Spekulationen beteiligen. Wer andere überzeugen will, muss sich ihr Vertrauen durch intellektuelle Integrität verdienen.

3. „Gemeinden müssen echte Gemeinschaften sein“

Wir sollten nicht nur die Wahrheit predigen und uns gegen die Unwahrheit stellen, sondern müssen auch zeigen, so Schaeffer, dass es möglich ist, „etwas Schönes und Ungewöhnliches in dieser Welt zu haben“. Konkret fordert er die Kirche heraus: „Wenn andere nichts Schönes in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen erkennen können und nicht sehen, dass unsere christlichen Gemeinschaften auf der Basis des Werkes Christi ihr Gezänk, ihre Streitigkeiten und ihre Machtkämpfe einstellen können, dann leben wir nicht richtig”. Die Kirche soll eine andere Gemeinschaft sein, eine echte Familie, die durch Liebe verbundene ist. Schaeffer drängt auf radikale Gastfreundschaft – insbesondere gegenüber anderen ethnischen und sozioökonomischen Gruppen. Auf diese praktische Weise wird Liebe veranschaulicht und Gemeinschaft gepflegt.

„Die Gemeinde muss dringend ihre liebevolle Einheit wiederfinden und der zuschauenden Welt die Hoffnung einer wundervollen Gemeinschaft präsentieren.“
 

Schaeffer schließt sein Buch mit einem Anhang über Das Kennzeichen des Christen (auch eigenständig veröffentlicht), in dem er für diese Art praktischer Liebe appelliert. „Unsere Liebe muss eine Gestalt haben, die die Welt wahrnehmen kann; sie muss sichtbar sein“. Traurigerweise ist das, was die Welt heute in einem Großteil der Kirche sieht, keine Liebe gegenüber unseren politischen Rivalen oder ideologischen Gegnern. Diese Kämpfe sind in die Gemeinden übergeschwappt. Wie in keinem anderen Jahr, an das ich mich erinnern kann, werden Gemeinden zerrissen durch ethnische Spannungen, eine umstrittene Wahl (des amerikanischen Präsidenten, Anm. d. Red.) und unserer Reaktion auf die Pandemie, ja selbst durch simple Dinge wie das Tragen von Masken. Wenn wir schon Krieg führen wollen, dann gegen unsere Spaltungen.

Die Gemeinde am Ende des Jahres 2020 muss dringend ihre liebevolle Einheit wiederfinden und der zuschauenden Welt die Hoffnung einer wundervollen Gemeinschaft präsentieren.