Wo bleibt der König?

Frohe Weihnachten in Zeiten der Pandemie

Artikel von Waldemar Henschel
22. Dezember 2020 — 9 Min Lesedauer

Wir haben Weihnachten noch nie in einer heilen Welt gefeiert. Das Bewusstsein war dafür aber vermutlich noch nie so stark wie in diesem Jahr mit seinen besonderen Vorzeichen. Die Pandemie dauert an, länger als erhofft. Und unabhängig davon, ob wir uns eher vor dem Virus, vor politischen Veränderungen oder noch etwas anderem fürchten – wir spüren die Zerbrechlichkeit dieser Welt. Vor diesem Hintergrund kann man sich berechtigt die Frage stellen, warum wir uns eigentlich „Frohe Weihnachten“ wünschen. Das klingt fast schon zynisch, mindestens realitätsfremd. Psalm 96 ist ein klassischer Text, der immer wieder in den Weihnachtstagen gelesen wird. Es ist ein Psalm, der voller Jubel steckt. Und er gibt erstaunliche Einsichten, warum wir uns auch dieses Jahr zurecht „Frohe Weihnachten“ zurufen dürfen.

Der HERR ist König!

Große Teile des Psalms finden sich auch in 1. Chronik 16. Dort wird beschrieben, wie David nach langem Hin und Her die Bundeslade nach Jerusalem bringt. Das gibt ein lebendiges Bild vom Jubel des Psalms, alle sind in freudigem Aufruhr. Gott war bei ihnen und durch die Bundeslade wurde diese Gegenwart symbolisiert. Lange Zeit war sie in der Hand der Philister, aber nun hatte Gott seinen König in Jerusalem eingesetzt und kam zu ihnen. Nicht nur David war König, sondern Gott selbst, wie es im Psalm heißt: „Der HERR ist König“ (V. 10). Genau das ist die Hauptbotschaft des Psalms.

„Durch Gottes Herrschaft entsteht nicht Unterdrückung und Gewalt, sondern Stabilität.“
 

Der Psalm enthält insgesamt 14 Aufforderungen zum Lob. Die Hauptaussage, die diesen Psalm trägt, findet sich in der abschließenden Aufforderung in V. 10: „Der HERR ist König“. Diese Aussage bildet zugleich Höhepunkt und Zentrum des Psalms. Gott herrscht über seine Schöpfung und alle Völker. Der Psalm beginnt damit, dass alle Welt aufgefordert wird, dem Herrn zu singen (V. 1) und schließt mit der Ankündigung, dass Gott alle Völker richten wird (V. 13).

Die Hauptaussage wird zunächst in V. 4–6 begründet, wo Gott als allmächtiger König beschrieben wird. Man sollte sich dabei an die Vorgeschichte der Rückkehr der Bundeslade erinnern. Als sie sich in den Händen der Philister befand, zeigte sich nämlich, wozu ihr Gott Dagon fähig war – zu gar nichts! In 1. Samuel 5 wird spöttisch erzählt, wie unfähig sich Dagon erweist. Dem wird gegenübergestellt, wie mächtig Gott ist. Er lenkt die Ereignisse in seiner Allmacht. Er ist der Schöpfer, der über diese Welt regiert. Er erweist seine Macht im Vergleich zu den Götzen nämlich dadurch, dass er „die Himmel gemacht hat“ (Ps 96,5). Die Götzen dagegen sind nur Geschöpfe der Menschen. Sie müssen bedient werden, wie 1. Samuel 5 amüsant berichtet.

Aber ein allmächtiger König kann uns auch Angst einjagen. Was ist, wenn er seine Allmacht missbraucht? Vielleicht lacht Gott sich heimlich ins Fäustchen, wenn er sieht, wie wir uns mit der Pandemie abmühen? Deshalb wird er in V. 10b–13 noch genauer beschrieben. Er ist nicht nur allmächtig, sondern auch gerecht. Durch Gottes Herrschaft entsteht nicht Unterdrückung und Gewalt, sondern Stabilität. „Der Erdkreis steht fest und wankt nicht“ (V. 10). Warum? Weil Gott gerecht ist. Drei Mal wird hier erwähnt, dass Gott die Völker gerecht richten wird. Einerseits darf man dabei an das zukünftige Gericht denken. Aber in diesen Versen wird noch stärker ein anderer Aspekt von Gerechtigkeit betont. Hier wird der Jubel der Schöpfung als Reaktion auf die Ankunft ihres Königs beschrieben. Gott, ihr allmächtiger Schöpfer, kommt, um alles wiederherzustellen. Er bringt Ordnung und Gerechtigkeit. In lebhaften poetischen Bildern beschreibt der Psalm, wie die ganze Schöpfung bei der Ankunft des Königs erleichtert aufatmet und jubelt. Jetzt wird alles wieder gut.

Wo bleibt der König?

Die Botschaft „Der HERR ist König“ klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Aber kann sie überzeugen? Wo sehen wir etwas vom allmächtigen König? Wo ist etwas von seiner Gerechtigkeit zu erkennen? Die Pandemie sieht nicht nach Wiederherstellung aller Dinge aus. Und selbst im historischen Kontext konnte die Aussage hinterfragt werden. Das Volk freute sich, dass Gott in der Bundeslade zu ihnen kam. Aber nur ein paar Generationen später lag es am Boden und wurde in die Gefangenschaft geführt. Das war’s mit der Botschaft „Der Herr ist König“, oder? Wo also bleibt der König?

Wir werden die Botschaft des Psalms verpassen, wenn wir hier stehen bleiben, oder nur auf die Zukunft vertrösten. Das wäre keine befriedigende Antwort. Um zu verstehen, worauf der Psalm hinaus läuft, hilft ein Blick in das Buch des Propheten Jesaja. Er verwendet ähnliche Formulierungen wie Psalm 96. Auch bei Jesaja gibt es jubelnde Bäume und Berge, auch bei ihm wird die Schöpfung wiederhergestellt (Jes 55,12). Auch er fordert das Volk auf, ein neues Lied zu singen (Jes 42,10) und die Botschaft zu verkünden, dass Gott König ist: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der Frieden verkündigt, der gute Botschaft bringt, der das Heil verkündigt, der zu Zion sagt: Dein Gott ist König“ (Jes 52,7). Es lohnt sich, beispielhaft den Kontext dieser letzten Aussage zu untersuchen. Jesaja beschreibt dort prophetisch die Rückkehr des Volkes aus der Gefangenschaft. Er versteht also, dass die Aussage „Der Herr ist König“ nicht nur bei der Rückkehr der Bundeslade galt. Er erwartet ein erneutes Kommen Gottes. Und genauso kündigt es ja der Psalm 96 gleich doppelt an: „denn er kommt, denn er kommt“ (V. 13). Jesaja denkt dementsprechend nicht nur an die Rückkehr der Gefangenen. Wenn er von der Erlösung spricht, blickt er gleichzeitig weiter voraus. Das zeigt die Erwähnung des Gottesknechts in diesem Abschnitt. Durch ihn wird Gott die Erlösung vollbringen.

Jesus ist Gottes König!

Spätestens jetzt kommt Licht ins Dunkel: Jesaja spricht von Jesus! Und in diesem Licht ist auch Psalm 96 zu verstehen. Daher passt es gut, dass er häufig in den Weihnachtstagen gelesen wird. Denn an Weihnachten erinnern wir uns daran, dass Gott zu uns gekommen ist. Jesus ist der große Beweis, dass Gott als König herrscht. Gott ist nicht wie die toten Götzen. Er handelt allmächtig. „Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn“, erklärt Paulus (Gal 4,4). Und in Jesus kommt der König selbst zu uns und beweist seine Gerechtigkeit. In den Evangelien lesen wir immer wieder von Jesu Wundern. Die Evangelisten zeigen uns damit, dass Jesus der Schöpfer ist, der seine gefallene, seufzende Schöpfung wiederherstellt. Er gebietet den bösen Geistern, auszufahren. Er befiehlt Wind und Meer, zu schweigen. Er heilt Menschen. Er ist der allmächtige König. Und er ist zugleich der gerechte König, der die Schöpfung wiederherstellt. Doch alle diese Wunder münden im Erlösungswerk, das den tiefsten Grund für den Jubel des Psalms liefert. Deshalb kann der Psalm dreifach dazu auffordern, ein neues Lied zu singen. Denn immer, wenn Gott sein Volk erlöste, z.B. als Mose das Volk aus Ägypten herausführte, sollten sie ihm ein neues Lied singen. Aber jede Erlösung, wie Jesaja verstand, war nur ein Hinweis auf die größere Erlösung in Jesus Christus. In Offenbarung 5,9–10 erklärt Johannes, was das neue Lied mit Jesus zu tun hat. Es wird gesungen, weil Jesus, das Lamm, sein Volk durch sein Blut für Gott erkauft hat. Deshalb singen sie ein neues Lied. Deshalb jubelt die ganze Schöpfung. In Offenbarung 5 genauso wie in Psalm 96 und bei Jesaja. Gott offenbart seine Gerechtigkeit auf eine unglaubliche Weise. Er kommt nicht wie ein Despot, um seine Feinde auszulöschen, sondern wie ein Lamm. Er nimmt die Schuld seines Volkes auf sich und trägt sie ans Kreuz. Deshalb kann jeder in Heiligkeit vor ihn treten (Ps 96,9). Er überwindet den Tod und fährt zum Himmel auf, wo er zur Rechten Gottes sitzt und als König über das Leben seiner Gemeinde herrscht. „Der HERR ist König“ bekennt seine Gemeinde vertrauensvoll in Erwartung seiner Wiederkehr.

Weihnachten in Zeiten von Corona

Wir müssen uns vor Augen halten, dass Jesaja zu Leuten sprach, die demnächst in die Gefangenschaft gehen würden. Dann können wir die volle Bedeutung dieser Botschaft in Zeiten der Pandemie verstehen. Er konnte seine Zuhörer trotz der Umstände auffordern, ein „neues Lied“ zu singen. Er teilte ihnen trotz der trüben Aussichten die Botschaft „Der Herr ist König“ mit und freute sich über alle, die diese Nachricht von Ort zu Ort trugen. Warum? Weil er die Rückkehr aus der Gefangenschaft voraussah, ja. Aber das wäre zu wenig. Jesaja sah in der Rückkehr schattenhaft die viel größere Erlösung durch den Gottesknecht Jesus! Die äußeren Umstände seiner Zuhörer waren nicht verheißungsvoll. Aber die ganze Situation wurde durch die Botschaft vom Kommen Jesu in ein völlig anderes Licht gerückt. Das konnte ihnen Hoffnung inmitten des Leids geben, das sie erwartete.

„Die äußeren Umstände können schwierig sein, aber die Gemeinde Gottes darf auf die vollkommene Erlösung und Herrschaft ihres Königs Jesus vertrauen.“
 

Genauso fordert der Psalm 96 Gottes Volk heute auf, ein „neues Lied“ zu singen. Die äußeren Umstände können schwierig sein, aber die Gemeinde Gottes darf auf die vollkommene Erlösung und Herrschaft ihres Königs Jesus vertrauen. Er hat sie erkauft, sie gehören zu ihm. Er beobachtet ihr Leben nicht nur aus der Ferne, sondern lenkt es. Er wacht darüber und hält sie fest in seiner Hand. Nichts kann sie trennen von der Liebe Gottes. Und er hat seine Rückkehr und die vollständige Wiederherstellung zugesichert.

Weihnachten 2020 kann uns gerade angesichts der schwierigen Umstände umso mehr über die Größe der Erlösung staunen lassen. Und wenn unsere Herzen diese Botschaft aufsaugen, werden wir sie von Tag zu Tag verkünden (V. 3) und einander mit voller Überzeugung zurufen: „Frohe Weihnachten!“