Willkommen in einer von Gott erfüllten Welt

Buchauszug von John Piper
12. Januar 2021 — 12 Min Lesedauer
Heute erscheint das neue Buch von John Piper: Providence (dt. „Vorsehung“). Eine deutsche Übersetzung ist in Arbeit und soll noch in diesem Jahr erscheinen. Der Artikel ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Buch.

Es ist eine traurige Tatsache in der modernen Welt, dass die meisten wissenschaftlich denkenden Menschen glauben, es würde eher der Wahrheit entsprechen und es sei bedeutsamer, über die biologischen Abläufe der Photosynthese zu sprechen, als zu sagen: „Gott lässt das Gras wachsen“ (siehe Ps 104,14; 147,8). Das ist nicht einfach nur ein Satz für Kinder. Das ist ein Satz – eine Realität – die der in seiner Seele verschrumpelte, moderne Mensch dringend braucht, dessen Welt, die früher ein Schauspiel voller Wunder war, zu einer Maschine degradiert wurde, die ohne Sinn und Verstand, stattdessen aber anhand von physikalischen Gesetzen läuft.

Die moderne Wissenschaft hat unsere Aufmerksamkeit zunehmend auf die Ursächlichkeit und Regelmäßigkeit der Natur gelenkt, die wir „Naturgesetze“ nennen. Aber das Bild, das die Bibel zeichnet, enthüllt Gottes fortwährende Beziehung zur Natur auf eine Weise, die zeigt, dass kein natürlicher Prozess und kein einziges Ereignis in der Natur so unbedeutend sind, dass sie außerhalb seiner alles durchdringenden und zielgerichteten Vorsehung liegen.

„Gott will nicht, dass wir uns oder die Welt oder irgendetwas als Rädchen im Getriebe eines unpersönlichen Mechanismus betrachten.“
 

Natürlich wird ein von Gott erfüllter Christ voller Freude eine wissenschaftliche Arbeit zur Photosynthese schreiben und den Wegen Gottes technische Bezeichnungen geben. Aber wehe uns, wenn wir dem Zeitgeist dieser Welt folgen, hinein in ein Gedankengebäude, in dem wir Gott ausblenden, nicht an ihn denken und in dem er in unseren alltäglichen Gesprächen über die Wunder von wachsendem Gras keine Rolle mehr spielt.

Gott will nicht, dass wir uns oder die Welt oder irgendetwas als Rädchen im Getriebe eines unpersönlichen Mechanismus betrachten. Die Welt ist keine Maschine, die Gott konstruiert und dann sich selber überlassen hat. Sie ist ein Gemälde, eine Skulptur, ein Drama. Der Sohn Gottes erhält sie durch das Wort seiner Kraft (Kol 1,17; Hebr 1,3) und lenkt selbst die kleinsten Details (Mt 10,29; Spr 16,33).

Eine von Gott erfüllte Welt

Wenn Jesus uns auffordert, uns die Vögel anzuschauen, weil Gott sie ernährt (Mt 6,26), und die Lilien, weil Gott sie kleidet (Mt 6,28-30), geht es ihm nicht um Ästhetik, sondern er möchte seine Leute von Angst und Sorgen frei machen. Er meint das ganz ernst: Wenn unser himmlischer Vater die Vögel ernährt und die Lilien kleidet, wird er erst recht seine Kinder ernähren und kleiden.

Das ist wahrlich erstaunlich. Diese Argumentation sticht ja nur dann, wenn Gott wirklich der ist, der dafür sorgt, dass die Vögel ihre Würmer finden und die Lilien ihre Blüten bekommen. Wenn die Vögel und die Lilien allein den Naturgesetzen unterliegen, ohne dass Gott seine Hand im Spiel hat, dann spielt Jesus hier nur mit Worten. Aber er spielt nicht, er glaubt tatsächlich, dass selbst in den kleinsten Details in der Natur Gott selber am wirken ist. Dies wird noch deutlicher in Mt 10,29–31

„Verkauft man nicht zwei Sperlinge um einen Groschen? Und doch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Bei euch aber sind selbst die Haare des Hauptes alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht! Ihr seid mehr wert als viele Sperlinge.“

Gott ernährt nicht nur die Vögel und kleidet die Lilien, er entscheidet darüber, wann jeder einzelne Vogel (pro Jahr sind das viele Millionen) stirbt und auf die Erde fällt. Die Grundaussage ist dieselbe wie in Mt 6 und lautet: „Gott ist euer Vater, ihr seid ihm wichtiger als jeder Vogel, und darum braucht ihr keine Angst zu haben.“ Gottes Vorsehung ist lückenlos, seine Fürsorge wahrhaft väterlich; er kann und wird für euch sorgen. Sucht also zuerst sein Reich, mit ganzer Hingabe, und habt keine Angst (Mt 6,33).

Voll von der Herrlichkeit Gottes

Jesus war nicht der Einzige, der die Welt als von Gott erfüllt betrachtete. Der Psalmist besingt Gottes Fürsorge für seine Geschöpfe:

„Sie alle warten auf dich, dass du ihnen ihre Speise gibst zu seiner Zeit. Wenn du ihnen gibst, so sammeln sie; wenn du deine Hand auftust, so werden sie mit Gutem gesättigt; verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie; nimmst du ihren Odem weg, so vergehen sie und werden wieder zu Staub; sendest du deinen Odem aus, so werden sie erschaffen, und du erneuerst die Gestalt der Erde.“ (Ps 104,27–30)

Gott krempelt gleichsam die Ärmel hoch in seinem Umgang mit der Natur. Er packt an und packt zu, wie die Verfasser der Bibel immer wieder bezeugen: „Er lässt auf Bergen grünes Gras sprießen“ (Ps 147,8 NLB). „Und der Herr entsandte einen großen Fisch, der Jona verschlingen sollte“ (Jona 2,1). „Da entsandte Gott, der Herr, eine Rizinusstaude“ (Jona 4,6). „Da entsandte Gott einen Wurm, . . . sodass [der Rizinus] verdorrte“ (Jona 4,7). „Er . . . holt den Wind aus seinen Speichern hervor“ (Ps 135,7). „Er lässt Dünste aufsteigen vom Ende der Erde her, er macht Blitze beim Regen“ (Ps 135,7). „Er . . . befahl dem Wind und den Wasserwogen“ (Lk 8,24). Dies ist keine poetische Verklärung gott-loser natürlicher Prozesse, dies ist Gottes Vorsehung zum Anfassen.

Die Sonne aufgehen sehen

Ich werde ewig dankbar dafür sein, dass in meinem Studium Clyde Kilby einer meiner Literaturprofessoren war. Einmal hielt er eine Vorlesung über das Staunen über den merkwürdigen Glanz des ganz Alltäglichen. Er schloss die Vorlesung mit zehn Vorsätzen zur, wie er es nannte, „geistigen Gesundheit“.[1] Hier zwei davon:

„Ich werde meine Augen und Ohren öffnen. Ein Mal jeden Tag werde ich einen Baum, eine Blume, eine Wolke oder einen Menschen einfach anschauen. Ich werde mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, was sie sind, sondern mich einfach freuen, dass sie sind. Ich werde ihnen freudig und gern das Geheimnis dessen gönnen, was [C. S. Lewis] ihre „göttliche, magische, schreckliche und erhebende“ Existenz nennt.
Selbst wenn sich das als Irrtum erweisen sollte: Ich setze in meinem Leben auf die Annahme, dass diese Welt weder idiotisch ist noch von einem Herrn regiert wird, der verreist und unerreichbar ist, sondern dass heute, in diesem Augenblick ein neuer Pinselstrich auf die Leinwand des Kosmos gemalt wird, den ich zur rechten Zeit voller Freude als Pinselstrich des großen Schöpfers erkennen werde, der sich das A und das O nennt.“

Dank Kilby, der mir die Augen geöffnet hat, aber auch, weil ich heute in der Bibel eine alles umfassende und durchdringende Vorsehung Gottes sehe, lebe ich bewusster in einer Welt, die von Gott erfüllt ist. Ich sehe die Realität mit anderen Augen. Wenn ich z.B. früher beim Joggen die Sonne aufgehen sah, musste ich denken: „Was für eine schöne Welt hat Gott doch erschaffen.“ Mit der Zeit wurde dies weniger allgemein und spezifischer und persönlicher. Ich dachte jetzt: „Jeden Morgen malt Gott einen anderen Sonnenaufgang.“ Er macht das immer wieder, ohne dass es ihm langweilig wird. Aber dann merkte ich plötzlich: Nein, er macht das nicht „immer wieder“, er hört überhaupt nie auf damit. Jede Minute geht irgendwo in der weiten Welt die Sonne auf. Jeden Tag lenkt Gott 24 Stunden lang den Lauf der Sonne, jeden Augenblick malt er seine Sonnenaufgänge, ein Jahrhundert nach dem anderen, ohne Pause und ohne dass er je müde würde oder weniger begeistert über das Werk seiner Hände. Und wenn Wolken die Sonne verhüllen, malt Gott seine fantastischen Sonnenaufgänge über den Wolken.

„Wenn wir uns das Werk Gottes in der Schöpfung anschauen, soll uns Freude packen – die Freude eines Bräutigams auf die Hochzeit.“
 

Es ist nicht Gottes Wille, dass wir die Welt anschauen, die er gemacht hat, und nichts dabei spüren. Wenn der Psalmist singt: „Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes“ (Ps 19,2), tut er dies nicht nur, um unsere Theologie zu bereichern; er will unsere Seelen erbauen, wie die Verse, die folgen, uns zeigen:

Er hat der Sonne am Himmel ein Zelt gemacht. Und sie geht hervor wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held, die Bahn zu durchlaufen. (Ps 19,5b–6)

Was will uns das sagen? Wenn wir uns das Werk Gottes in der Schöpfung anschauen, soll uns Freude packen – die Freude eines Bräutigams auf die Hochzeit oder die Freude eines Eric Liddell[2] in dem Film Chariots of Fire, der mit zurückgelegtem Kopf, pumpenden Armen und einem Strahlen auf dem Gesicht um olympisches Gold läuft, in der Sonne der Freude Gottes.

Zehntausend Mal Vorsehung, für die wir nicht danken – täglich

Ich kann nicht anders als an dieser Stelle innezuhalten und euch eine Beobachtung weiterzugeben. Es geht um die Art und Weise, wie die Welt auf Gottes Vorsehung reagiert. Wenn über dem Meer ein Sturm tobt und ein Kreuzfahrtschiff sinkt, oder wenn gefährliche Wetterphänomene ein Passagierflugzeug zum Absturz bringen und Menschen dabei sterben, dann gibt es – sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der persönlichen Trauer der Familienangehörigen – oft einen Aufschrei darüber, warum Gott versagt und diese Katastrophe nicht verhindert hat („Wo war Gott?“). Tiefe Trauer ist real und schmerzhaft und verständlich bei allen, die bei solchen Katastrophen jemanden verlieren. Und sehr oft sprechen sogar die reifsten Heiligen unbedachte Worte in den Wind (Hiob 6,26). Weise Seelsorger lassen solche Worte in Krisen-Zeiten unkommentiert und ohne Urteil stehen.

Wo aber ist die entsprechende Gefühlstiefe, oder auch nur die leiseste Anerkennung angesichts der Vorsehung Gottes, wenn Tag für Tag einhunderttausend Flugzeuge sicher landen? Das ist ganz grob die Anzahl der täglich geplanten Flüge weltweit. Und das umfasst nicht einmal die allgemeine Luftfahrt, Flugtaxis, das Militär oder Frachtflüge. Wo ist der unaufhörliche Chor des Staunens und der Dankbarkeit, dass Gott heute zehnmillionen mechanische, natürliche und persönliche Faktoren perfekt zusammenwirken lässt, um diese Flugzeuge in der Luft zu halten und sie sicher an ihren gewünschten Zielort zu bringen – und die meisten davon transportieren Menschen, die Gott Tag für Tag ablehnen und ihn schlechtmachen?

Sogar wenn ein Flugzeug mit ausgefallenen Triebwerken auf dem Hudson River landet und jeder einzelne Passagier auf die im Wasser treibenden Tragflächen dieses 80 Tonnen schweren Vogels hinaussteigt, oder wenn ein mit 97 Passagieren besetztes Flugzeug in Mexiko abstürzt und in Flammen aufgeht, nachdem jeder einzelne Passagier und die gesamte Besatzung sicher aus dem Flugzeug gekommen sind – wo ist dann der öffentliche Ausbruch von Dankbarkeit gegenüber dem Gott, der Wunder tut? Wo ist der dankbare Schrei des Herzens zu Gott, den wir wegen der Rettung auf dem Meer in Psalm 107,31 hören?

„Sie sollen den HERRN preisen für seine Gnade, für seine Wunder an den Menschenkindern!“

Die Welt und selbst tausende von Christen geben Gott keine Ehre und keinen Dank für die Millionen Male täglicher Vorsehung die das Leben erhalten, weil sie die Welt nicht als ein Schauspiel der Wunder Gottes sehen. Sie sehen sie als eine riesige Maschine, die anhand von geistlosen Naturgesetzen läuft, außer dort, wo die Rebellion und die Selbsterhöhung unseres Herzens eine passende Gelegenheit findet, Gott den Fehler in die Schuhe zu schieben und dort, wo wir damit unsere Blindheit für eine Milliarde freundliche Taten gegenüber seiner aufsässigen Schöpfung rechtfertigen.

Schöpfer, Erhalter, Schatz

Jesus, die Psalmisten und der Rest der Autoren der Bibel – sie alle wollen nicht, dass wir wie moderne Naturalisten sprechen, die sich die natürliche Welt als von geistlosen, physikalischen Abläufen geprägt und von ihnen am Laufen erhalten vorstellen. Seien es Wolken, das Gras für die Tiere, oder Augen und Ohren für den Menschen, Gottes Vorsehung in seinem fortdauernden Erschaffen und Erhalten ist hautnah und sie hat Kraft.

„Ob in den Wolken, dem Gras für die Tiere oder in den Augen und Ohren des Menschen; Gottes Vorsehung ist hautnah und sie hat Kraft.“
 

„Das hörende Ohr und das sehende Auge, der HERR hat sie alle beide gemacht“ (Spr 20,12). All die Milliarden von Augen und Ohren auf diesem Planeten hat Gott gemacht – nicht nur am Anfang der Welt entworfen, sondern im Mutterleib gemacht. „Denn du bildetest meine Nieren. Du wobst mich in meiner Mutter Leib“ (Ps 139,13). Das Weltbild der Bibel lautet, dass Gras und Regen und Quellen und Ohren und Augen das Werk der Hände Gottes sind, wenn sie auf dieser Welt erscheinen und ihr ihnen von Gott zugewiesenes Werk tun.

Gottes Ziel ist es, dass in allem, was er gemacht hat, „seine ewige Kraft und seine Göttlichkeit“ aus dankbaren Herzen verherrlicht wird (Röm 1,20–21). Sein Ziel ist es, dass wir uns angesichts der Wunder dieser Welt ihm zuwenden und sagen:

„Die Herrlichkeit des HERRN sei ewig! Der HERR freue sich seiner Werke! … Singen will ich dem HERRN mein Leben lang, ich will meinem Gott spielen, solange ich bin. … Ich, ich freue mich in dem HERRN!“ (Psalm 104,31.33–34)

Willkommen in dieser von Gott erfüllten Welt.


[1] Sie finden alle zehn in: John Piper, „10 Resolutions for Mental Health“, Desiring God, 31.12.2007. Kilby benutzt den Ausdruck „geistige Gesundheit“ im alltagssprachlichen und nicht fachmedizinischen Sinn und denkt nicht an klinisch diagnostizierbare Krankheiten.

[2] Eric Liddell war ein schottischer Leichtathlet, Missionar und 1924 Olympiasieger über 400 Meter. (Anm. d. Übers.)