Gottes Vorsehung im Jahr 2020

Interview mit John Piper und Tony Reinke
30. Dezember 2020 — 12 Min Lesedauer

Zielgerichtete Souveränität

Tony Reinke: Pastor John, die Veröffentlichung deines nächsten Buches „Providence“ (dt. „Vorsehung“) steht kurz bevor. Ich habe schon eine Weile auf diesen Moment gewartet. Es ist ein wirklich dickes, wichtiges und relevantes Buch für das Jahr 2020, sowie für alles, was im neuen Jahr auf uns zukommen wird. Heute habe ich deswegen ein paar Fragen an dich. Erstens: Erkläre uns bitte den Titel. Warum hast du für das Buch den Titel „Vorsehung“ und nicht „Souveränität“ gewählt?

John Piper: Nun, das ist aus vielerlei Gründen eine wichtige Frage. Aber es ist eine interessante Tatsache, dass das Wort „Vorsehung“ in der Bibel überhaupt nicht vorkommt. Die Leute könnten also sagen: „Was soll das? Siebenhundert Seiten über etwas, das nicht mal in der Bibel steht?“ Nun ja, die Behauptung, dass sowas nicht in der Bibel steht, ist nicht ganz zutreffend. Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass dieses Wort nicht in der Bibel steht, aber ebenso wenig steht das Wort Souveränität in der Bibel, genau wie die Worte Dreieinigkeit, Jüngerschaft, Evangelisation, Auslegung, Seelsorge, Ethik, Politik, Geistesgaben. Keines dieser Worte steht in der Bibel. In gewisser Weise sind mir Worte letztendlich egal. Natürlich sind mir Worte wichtig; immerhin schreibe ich. Aber Worte sind mir letztendlich egal. Die Realität ist mir wichtig.

Der Grund dafür, dass ich mich auf die Vorsehung und nicht auf die Souveränität konzentriere, liegt darin, dass sich Souveränität auf Gottes Recht und seine Macht bezieht, zu tun was er will. In diesem Sinne ist es natürlich wahr: Gott ist souverän. Ich schreibe aber über Gottes zielgerichtete Souveränität – nicht einfach nur über seine Souveränität.

Anders gesagt geht es in diesem Buch nicht nur darum, ob Gott das Recht und die Macht hat, zu tun was er will, sondern um seine zielgerichtete Souveränität. Was tut seine Souveränität in der Schöpfung, der Weltgeschichte, der Erlösung und der Vollendung aller Dinge? Darum geht es mir in diesem Buch. Deshalb ist das Wort Vorsehung und die Realität der Vorsehung – das heißt: zielgerichtete Souveränität – der Dreh- und Angelpunkt.

Tony Reinke: Ja, das klingt gut. Ist es also so, dass Gottes Vorsehung aus der Summe all seiner souveränen Taten besteht?

John Piper: Aus der Summe davon und worauf sie ausgerichtet sind, aus ihrem Ziel. Ich hatte nicht erwartet, das letzte Drittel dieses Buches zu schreiben, in dem es um Gottes Vorsehung darin geht, wie er sein Volk, die Braut, zu dem macht, was sie sein sollte. Ich hatte gedacht, es würde hauptsächlich um die großen Fragen gehen, um das Leid in der Welt, um Krieg, um Pandemien, bis hin zu den sehr spezifischen Fragen danach, ob bspw. Vögel aufgrund der Vorsehung zur Erde fallen. Aber mir ist eines klargeworden: Worum geht es bei all dem überhaupt? Es geht darum, wie Christus für sich selbst eine Braut reinigt, an der er sich erfreuen wird, und zwar in ihrer Freude an ihm und das für immer und ewig.

Übernimm Gottes Perspektive

Tony Reinke: Es ist ein gewaltiges und ausführliches Bibelstudium. Nach meiner inoffiziellen Zählung gibt es in deinem Buch über dreitausend Bibelzitate. Warum dreitausend Bibelzitate?

„Es gibt nur eine unfehlbare Quelle der Erkenntnis über Gott – nämlich Gott.“
 

Als du mir diese Zahl genannt hast, hatte ich keine Ahnung, dass es so viele sind. Das macht mich so glücklich, dass ich vor Freude Luftsprünge machen könnte. Der Grund dafür? Wenn John Pipers Meinung auf keiner anderen Autorität als seiner eigenen beruht, dann ist sie keinen Cent wert. Es sollte niemanden kümmern, wie ich über irgendwas denke, oder wie du denkst, Tony, oder wie irgendjemand sonst denkt – ganz egal wie viele Titel hinter ihren Namen stehen – es sei denn deine, deren oder meine Denkweise speist sich offensichtlich aus einer vertrauenswürdigen Quelle der Erkenntnis.

Es gibt nur eine unfehlbare Quelle der Erkenntnis über Gott – nämlich Gott. Wenn Gott uns nicht offenbart hätte, wie er ist und was er vorhat, dann würden wir es nicht wissen. In der natürlichen Welt – der Schöpfung und der natürlichen Offenbarung – gibt er Hinweise darauf, wie er ist und was er vorhat. Aber in der Bibel gibt er uns sein inspiriertes Wort. Er gibt nicht einfach nur Hinweise. Er verkündet wie er ist und was er tut, er beschreibt es, erklärt es, und wendet es an. Ein Buch über die Vorsehung ohne die Bibel wäre entweder sehr, sehr kurz, oder sehr, sehr spekulativ. Tatsächlich sind es die meisten auch.

Was mich dazu führt, nur noch eine kurze Sache zu der Sache mit den dreitausend Bibelzitaten zu sagen. Die siebenhundert Seiten sind kein Einlassen auf philosophische Abhandlungen zur Vorsehung. Ich bin kein Philosoph. Ich bin Bibelleser. Ich bin Bibelausleger. Ich bin Bibelverkündiger. Ich bin Bibelanwender. Das ist meine Berufung. Das ist meine Aufgabe. Das ist meine Freude. Ich stehe der Philosophie nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Ich sage aber, dass fruchtbringende Ergebnisse durch philosophisches Nachdenken über die Vorsehung Gottes äußerst unwahrscheinlich sind, es sei denn der Philosoph ist durchtränkt von der Bibel – zum Beispiel von dreitausend Bibelzitaten, die Gottes Perspektive zur Vorsehung zeigen.

Tony Reinke: Also dreitausend Bibelzitate, die beim Thema der Vorsehung Gott selbst zu Wort kommen lassen.

Ein Bezugspunkt für das ganze Leben

Das Buch hat zweihunderttausend Wörter. Das sind im Druck 750 Seiten, mit großem Abstand dein längstes Solo-Buchprojekt. Warum ein so umfangreiches Buch?

John Piper: Ich weiß, dass die meisten Menschen keine Bücher mit 700 Seiten lesen. Je länger ein Buch wird, desto weniger Menschen lesen es. Also, Piper: Warum schießt du dir selbst ins Knie? Oder doch ins Bein? Einige Menschen lesen jedoch sehr wohl Bücher wie dieses. Und die Menschen, die das tun, sind oft diejenigen, die Einfluss auf andere haben. Und ich hoffe, dass der Rahmen und die Verständlichkeit des Buches es anziehender machen werden.

Dreißig Jahre lang habe ich geplant, so ein Buch zu schreiben. Ich meine, du hast dir jahrzehntelang mein Gerede darüber angehört, dass ich irgendwann ein großes Buch über Souveränität oder ein großes Buch über Vorsehung schreiben will. Nun ja: Es ist geschafft!

Ich wollte aber noch etwas sagen: Auch wenn viele Menschen Bücher mit 700 Seiten nicht komplett lesen, so lieben sie doch die Bibel und sind froh, wenn jemand die meisten Stellen der Bibel, die mit Vorsehung zu tun haben, zusammengetragen und ein wenig darüber nachgedacht hat. Und sie haben gerne dieses Buch im Regal, sodass sie es zur Hand nehmen, ein relevantes Kapitel über die Lektion, die sie lehren werden, oder einen bestimmten Text, mit dem sie zu kämpfen haben, über das Bibelstellenverzeichnis nachschlagen und die wenigen Seiten zum Thema nachlesen können. Anders gesagt hoffe ich, dass das Buch sogar für jene ein Ansprechpartner sein wird, die es nicht komplett durchlesen.

Tony Reinke: Ja, ein Nachschlagewerk für das ganze Leben, das man für die kommenden Jahre griffbereit haben sollte.

Endlich fertig

Dieses Buch ist für das Jahr 2020 sehr relevant. Aber du hast im Sommer 2018 damit angefangen, daran zu schreiben. Du hattest eine zwölfwöchige Auszeit in Knoxville, die du zum Schreiben genutzt hast und dann hast du es 2019 zu Ende geschrieben. Du hast dieses Buch also vor 2020 geschrieben, was bedeutet, dass du es vor der Pandemie geschrieben hast. Du hast es vor den Protesten und Gewaltausbrüchen in Minneapolis geschrieben. Seit du dieses Buch abgeschlossen hast, ist so viel passiert. Was kann uns das Buch heute anbieten? Warum jetzt? Was macht es in dieser Zeit relevant?

„Ich denke die Lehre bzw. die Realität der Vorsehung ist einer der großartigen Schlüssel, die den Menschen helfen, von Gott erfüllt zu sein.“
 

John Piper: Also wenn ich an die Frage „Warum jetzt?“ nachdenke, dann denke ich zurück und wundere mich darüber, dass Gott – und wir sprechen inmitten (oder ich hoffe gegen Ende) einer Pandemie miteinander – dieses Buch zur jetzigen Zeit veröffentlichen wollte, weil es um die Art von Schönheit und Horrorgeschichten geht, die wir jeden Tag erleben. Ich meine, selbst in der schlimmsten Zeit gibt es Schönheit und in der besten Zeit gibt es Horrorgeschichten. Und das macht die Bibel aus: Sie ist voller Schönheit und voller Horrorgeschichten und Gott hat über all das etwas zu sagen.

Aber wenn ich über die Frage „Warum hast du das Buch jetzt geschrieben?“ nachdenke, dann kommt jetzt die wirkliche Antwort, weil ich es ja zu einer Zeit schrieb, bevor all die jetzigen Umstände eintraten: Zu Beginn meines achten Jahrzehnts dachte ich, dass ich jetzt vielleicht genug Kummer in dieser Welt und in meinem Leben erlebt habe, damit ich, so meine Hoffnung, mit einem gewissen Maß an Weisheit über ernsthafte Freude schreiben kann. Und ich dachte: Es ist der Beginn meines achten Jahrzehnts und ich hoffe, dass ich lange genug an den Widersprüchen zwischen der Realität und der Schrift geknabbert habe, damit ich die vielseitigen Betonungen der Bibel mit einem reifen Gefühl für Ausgewogenheit behandeln kann.

Und nach fünfzig Jahren Nachdenkens über die Wahrheit, die alles durchdringende Wichtigkeit christlichen Genießens – nämlich dass Gott dann am meisten verherrlicht wird, wenn wir unsere höchste Zufriedenheit in ihm finden – hatte ich endlich das Gefühl, dass ich in meinem achten Jahrzehnt an einem Punkt angekommen bin, an dem ich zeigen konnte, wie eng diese Wahrheit, diese Realität mit allem, absolut allem, verwoben ist. Christliches Genießen ist nicht einfach nur ein netter, unbedeutender Trick in den Randnotizen unserer Theologie, für den sich nur Linguisten interessieren. Es ist der Kern dessen, was Gott die ganze Zeit und überall macht.

Und vielleicht eine letzte Sache zum Thema „Warum jetzt?“. Warum diese lange Wartezeit und dann jetzt die Umsetzung. Man sagt, ich sei schon am Ufer des Jordan unterwegs. Von meinem Standpunkt aus kann ich schon die Gefilde der Ewigkeit jenseits des Flusses riechen. Obwohl ich also fehlbar, begrenzt, sündig bleibe, ist es ein „Jetzt oder nie“, Tony. Und ich denke es war vor zwei Jahren Gottes Wille, dass es jetzt sein sollte anstatt nie.

Tony Reinke: Das ist gut. Danke, Pastor John.

Vorsehung: Weltweit

Tony Reinke: Das Buch wird momentan auf Arabisch, Französisch, Russisch, Chinesisch, Deutsch, Holländisch, Portugiesisch, Spanisch und Koreanisch übersetzt. Warum eine solch konzertierte Anstrengung, große Übersetzungsprojekte dieses Buches und deiner anderen Bücher zu realisieren?

John Piper: Das ist für mich heute wichtiger denn je: Dass Desiring God und mein Leben weltweit einen Unterschied machen – über Volkszugehörigkeiten, Rassengrenzen, Staatsangehörigkeiten, Sprachen und Kulturen hinweg. Gott befürwortet oder unterstützt bei seinem Volk keine Art von Fokussierung auf nationalistische oder ethnozentrische Fragen. Wir gehören zunächst und vor allem zu seinem Reich. Das beeinflusst alles. Er geht allen Nationen, allen Völkern, allen Sprachen und allen Kulturen der Welt nach. Und ich möchte, dass mein Leben für die Welt einen Unterschied macht und nicht nur für meine nationale, ethnische, geographische oder kulturelle Subgruppe.

Es gibt aber in Wirklichkeit eine einfache Antwort auf die Frage „Warum so viele Übersetzungen? Warum dieser Versuch, es in so viele verschiedene Kulturen zu bringen?“: Die Realität der Vorsehung ist nicht kulturell begrenzt. Sie ist in jeder Sprachgruppe in jeder Kultur der Welt absolut wahr.

Schlüssel für jeden Christen

Tony Reinke: Wir müssen diese Folge jetzt auf die Zielgerade bringen. Was sind deine Hoffnungen, Träume und Gebete für dein Buch „Vorsehung“?

Ich bete, dass Christen weltweit zu Menschen werden, die von Gott erfüllt sind. Vom kleinen toten Eichhörnchen-Baby auf dem Gehweg vor meinem Haus bis hin zum Lauf der Sterne am Himmel, einschließlich all der Schönheit und all der Horrorgeschichten, die dazwischen liegen, von der kleinsten Kleinigkeit bis hin zum Allererstaunlichsten, all das – ich will das alles in seiner rechten Beziehung zu Gott sehen, durchflutet von Gott, erfüllt von Gott. Ich denke die Lehre bzw. die Realität der Vorsehung ist einer der großartigen Schlüssel, die den Menschen helfen, von Gott erfüllt zu sein.

Und ich bete, dass Gottes zielgerichtete, gnädige, immer-weise, alles durchdringende Souveränität – das heißt: seine Vorsehung – das Rückgrat von uns Christen bei unserem allumfassenden Gehorsam Christus gegenüber und unserem weltweiten Zeugnis für Christus stählen. Wozu? Damit zehntausende von Missionaren ausgesandt werden, um die übrige Arbeit unter den unerreichten Völkern der Welt zu tun, sodass wir alle – jeder von uns, ob wir gehen oder aussenden – daran gehindert werden, Christus und seine rettenden Absichten in unserem Leben für etwas zu halten, was nur von untergeordneter Bedeutung ist, anstatt ihn die alles prägende, alles verwandelnde und alles beeinflussende Realität sein zu lassen, die er in der Vorsehung Gottes sein sollte.