Homosexualität und christlicher Glaube

Rezension von Thomas Jeising
15. November 2020 — 34 Min Lesedauer

Es ist beinahe unmöglich, eine gewöhnliche Buchbesprechung zu dem vorliegenden Titel1 abzuliefern. Das hat eine Reihe von Gründen, die ich darlegen werde. Es wäre vielleicht sogar ungerecht, wenn man das Werk nur wie ein Buch beurteilen würde. Denn der Leser bekommt ungefragt auf 96 Seiten eine Therapiestunde bei einem Facharzt für Psychotherapie und Psychosomatik zum Discounterpreis, allerdings wird die Krankenkasse die Kosten nicht übernehmen.

Das Werk ist also irgendwie besonders, anders lassen sich seine Wirkung und die Aufregung darum auch gar nicht deuten. Denn das Buch, das Homosexualität unter Christen als positive Lebensform qualifizieren will, enthält kein einziges neues Argument, keine neue Idee, auch fasst es nicht die jahrzehntelange Diskussion zusammen. Und nicht einmal für den Vorschlag an evangelikale und konservative Gemeinden, eine Trauhandlung für zwei Menschen gleichen Geschlechts einzuführen, die nicht nur treu und verbindlich zusammenleben wollen, sondern auch für eine gegenseitige sexuelle Befriedigung eintreten, kann es ein Copyright beanspruchen.

A. Nach christlichen Maßstäben ein ungewöhnliches Buch. Hier die Gründe:

1. Eine verdeckte Selbstrechtfertigung

Anders als Titel und Ton des Buches anfangs nahezulegen scheinen, geht es im Buch nicht um Argumente im Zu­sammenhang mit der Kontroverse um gelebte Homosexualität. Die Behauptung, das Lesen des Buches führe dazu, „dass Sie danach eine gute Übersicht über verschiedene Gesichtspunkte gewonnen haben“ (S. 7), ist schlicht falsch. Denn es geht um die Darlegung eines persönlichen Weges des Christen Martin Grabe zu dem für ihn unausweichlichen Ergebnis einer Sicht der Homosexualität, wie sie zur Zeit öffentlich verfochten wird. „Homophob“ scheint Grabe in seiner Jugend gewesen zu sein – er sagt das nicht so, aber deutet es in seinen Erlebnissen an. Später hatte er Verständnis für die Gefühlswelt von Homosexuellen, erwartete aber von Christen, dass sie ohne Erfüllung ihres sexuellen Begehrens leben. Nun plädiert er für die christliche Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren und glaubt, dass die christliche Gemeinde sogar die unter Homosexuellen weit verbreitete Promiskuität heilen könnte, wenn sie nur mehr vollwertige Paare akzeptierte und die christlichen Ideale unter ihnen propagierte.

Deswegen meint Grabe sich am Ende des Buches (S. 90–96: Persönliches Nachwort: Warum dieses Buch erst jetzt?) auch rechtfertigen zu müssen, warum er nicht viel eher zu diesem Ergebnis gekommen ist. Aber er ist sich sicher, dass ihn der Vorwurf, nur auf den Zug der Anpassung aufgesprungen zu sein, nicht trifft. Sein Antrieb sei vielmehr ein anderes Angsterlebnis gewesen. Nach dem wegen zwei Seminaren zu den Möglichkeiten der Veränderung bei homosexuellem Empfinden stark angefeindeten Marburger APS-Kongress 2009 entwickelte er eine Angststörung (Phobie):

„Die Erlebnisse von 2009 haben trotz allem Guten ... psychotherapeutisch gesehen doch traumatische Tiefe bei mir gehabt. Ich war triggerbar. Als die Anfeindungen wieder losgingen, fühlte ich, wie eine tiefe Angst in mir aufstieg ...“ (S. 95).

Zur „Ver­ar­bei­tung“ gehörte dann wohl auch die Hin­wendung zu einer Haltung, die nun von homosexuellen Aktivisten nicht mehr angefeindet werden kann.

Das Ganze ist also eher eine biografische Selbstrecht­fer­tigung, die sich nur über weite Strecken als Ar­gumentation aus­gibt. So etwas ist aus christlicher Sicht mindestens zweifelhaft. Natürlich darf Martin Grabe ein biografisches Detail in einem Büchlein darstellen, aber er sollte das nicht als Argumentationskette ausgeben, die noch dazu zwingend zum Ergebnis führen soll, dass andere auch für eine Trauung von Quasi-Ehen zweier Menschen gleichen Geschlechts eintreten müssen. Das „Beziehungs­drama“ des Titels ist also das Drama des Martin Grabe in seiner Beziehung zum Thema „Homo­­sexualität“. Ange­fangen bei den Schwu­­lenwitzen auf dem Schulhof bis zur Über­win­dung seiner Angst, zu der wohl auch die Veröffentlichung der Selbst­rechtfertigung gehört.

2. Eine manipulative Therapiestunde

Martin Grabe legt seinen Leser auf die Couch und verpasst ihm gewissermaßen eine psychotherapeutische Behandlung. Er hat seine Facharztausbildung offenbar auf tiefenpsychologischer Grundlage gemacht, vertritt also eine von den Krankenkassen allgemein anerkannte Therapierichtung. Die andere ist die Verhaltenstherapie, über die sich Grabe in typischer Manier des Tiefenpsychologen abfällig äußert (S. 5.23). Allerdings verstößt er gleich in mehrfacher Hinsicht gegen das Berufsethos. Der Therapeut behandelt eigentlich nur Menschen, die zu ihm in die Therapie gekommen sind und stellt keine Ferndiagnosen ihm unbekannter Menschen auf. Das gilt, wenn auch die Tiefenpsychologie immer mal ganze Gesellschaften oder auch christliche Gemeinden analysieren wollte. Man klärt seine Patienten über Methoden und Ziele auf. Wenn dann eine Übereinstimmung vorliegt, enthält sich der Therapeut der Versuchung, seine Macht auszunutzen, um den Patienten zu einem Ergebnis, das er für die Heilung hält, zu manipulieren. Das entspricht übrigens durchaus einem christlichen Ethos.

Wie will man ein Buch besprechen, das den Leser und damit auch den Rezensenten zum (therapiebedürftigen?) Neu­rotiker macht, wenn er nicht die gleichen Ansichten wie der Autor vertritt? Ich fühlte mich bereits nach wenigen Seiten manipuliert und würde jedem Therapeuten, der so etwas tut, aus dem Weg gehen, selbst wenn er gut wäre. Die Manipulation wirkt aber: Ständig neige ich – wie einige vor mir – dazu, mir beim Lesen über mich, meine Gedanken und Motive Rechenschaft zu geben. Um ein Beispiel zu nennen: Bin ich vielleicht wirklich gegen die Trauung homosexueller Paare und empfehle Christen, die homosexuelles Begehren erleben, abstinent zu leben, weil ich tief in mir homoerotische Anteile habe, die ich unterdrücke, was in diesen Meinungen zu Tage tritt (S. 9)? Oder: Wo befinde ich mich selbst auf der behaupteten Skala, auf der angeblich alle Menschen zwischen einem homoerotischen und heteroerotischen Pol ihren Platz gefunden haben und sich einordnen können (S. 10)? Die Couch funktioniert offenbar.

3. Eine unchristliche Verschleierung

Martin Grabe lässt in seiner biografischen Konfliktbewältigung einige wesentliche Punkte unter den Tisch fallen. Das betrifft die Grundentscheidungen, die er getroffen hat, für die es aber keine wirklichen Argumente gibt. Er transportiert damit ein tiefenpsychologisches Menschenbild, in dem wir alle in Wahrheit von dem Unbewussten in uns gesteuert werden und es so etwas wie die Abwägung von Argumenten oder auch die Entscheidung, Gottes Wort zu gehorchen, gar nicht gibt. Irgendwie sind wir alle ferngesteuert von frühkindlichen oder sogar vorgeburtlichen Prägungen und unerkannten inneren Prozessen, die dann – wie in konservativ-christlichen Gemeinden – zur Ablehnung von Homosexualität führen. Allerdings wären die anderen dann ebenso ferngesteuert zur Akzeptanz und Förderung eines homosexuellen Lebensstils. Oder sieht sich Grabe hier auf der Seite der vernünftig abwägenden und aufgeklärten Menschen? Aber warum eigentlich? Ich persönlich halte tiefenpsychologisch orientierte Therapien für einige psychisch Kranke für hilfreich. Aber wenn der Therapeut so tief in die ideologische Mottenkiste greift, dann geht das gegen die biblisch-christliche Sicht vom Menschen.

Über eine weitere Grund­entscheidung legt Martin Grabe keine Rechenschaft ab. So rechnet er Homosexualität beim „echten“ Homo­sexuellen zur Identität, wie das heute üblich ist. Aus Erfahrung kennt er auch andere, die etwa – auch eine tiefenpsychologische Meinung – durch ein gestörtes Verhältnis zur Mutter und den fehlenden Vater homosexuell wurden. Die letzten hält er sogar für durch Therapie in ihrem Begehren veränderbar, wenn das auch nach der Gesetzeslage kein Therapieziel sein darf (S. 30–31). Ob es die anderen mit einer genetisch-veranlagten Homo­sexualität gibt, ist aber wissenschaftlich mindestens fraglich. Und selbst wenn es so etwas gäbe, wie es etwa auch für den Alkoholismus angenommen wird, dann geht ja nicht daraus hervor, dass der Mensch auch entsprechend leben muss. Wenn Männer – wie es scheint – ein Gen zum Fremdgehen haben, dann muss keine Ethik das zwangsläufig für gut erklären und keine Gemeinde eine Zeremonie zur Segnung von Liebschaften anbieten.

Aber warum sollte homosexuelles Leben nicht eher dem Verhalten als der Identität zuzurechnen sein? Die Bibel rechnet doch offenbar weder homosexuelles noch heterosexuelles Empfinden oder Handeln zur Identität. Mannsein und Frausein ist Teil der Identität, aber die Ausrichtung des Begehrens ist es nicht. Die Darstellung des Menschen ist vielmehr von Würde und Gnade bestimmt. Sie hält das Begehren im Prinzip der Kontrolle des Menschen zugänglich. Mag sein, dass ich als heterosexueller Mann nicht verhindern kann, dass ich auf die sexuellen Reize einer Frau reagiere. Aber was folgt daraus? Ich muss doch nicht mit dieser oder ersatzweise mit einer anderen Frau Geschlechts­verkehr haben. Und wenn ich mir das versage, muss ich davon nicht krank werden oder verklemmt und am Glauben an Gott verzweifeln. Die Tiefenpsychologie – nicht die anerkannte Therapie, aber die zugrunde liegende Ideologie – lehrt so etwas, obwohl Freud auch von der kulturfördernden Wirkung der Unterdrückung der Triebe sprach. Es wäre deswegen ehrlich gewesen, wenn Martin Grabe deutlich geschrieben hätte, dass er sich für die Tiefen­psychologie als maßgebliche Instanz entschieden hat. Gute Argumente gibt es meines Erachtens dafür nicht.

Stattdessen behauptet er, Ausleger hätten seit Jahrhunderten die Bibel nicht genau gelesen oder sich zu wenig intensiv mit dieser sexualethischen Frage beschäftigt. Man scheue „Denkarbeit“ und „saubere theologische Arbeit“ (S. 19) und habe wohl nicht „tatsächlich und ehrlich in diese Bibel“ geschaut (S. 21), denn die entsprechenden Stellen haben die, die davon reden, wohl „noch nie tatsächlich in ihrer Bibel aufgesucht“ (S. 36). Vielmehr folge man nur dem ablehnenden „Tabu“ ohne „eine eigenständige, in unabhängiger Auseinander­setzung mit der Bibel erworbene Einstellung“ (S. 36). Martin Grabe nimmt offenbar für sich in Anspruch, nicht unter dieses Urteil zu fallen. Damit steht übrigens wieder eine manipulative Behauptung im Raum: Wer sich intensiv und ehrlich mit der Bibel beschäftigt, muss zur gleichen Erkenntnis wie Martin Grabe kommen.

B. Warum jeder Christ nach diesem Buch Homosexualität befürworten soll: die Argumente

Wenn Martin Grabe mit seiner Auswahl die besten Argumente für die Einführung einer Trauung für homosexuelle Paare bietet, dann ergibt sich ein trauriges Bild. Ich will nicht sein biografisches Erleben in Frage stellen, sondern wie er daraus eine allgemeine Befürwortung ableitet. Auffällig wird das, wenn man die Argumente einmal zusammenfasst.

  1. Die allgemeine gesellschaftliche Ab­lehnung der Homosexualität, die sich so unter konservativen Christen widerspiegelt, hat ihren Grund in „der Abwehr eigener homoerotischer Anteile“ (S. 9). „Immer wieder (melden) sich starke homoerotische Impulse“, die dann mit einem Tabu beantwortet werden. Es darf nicht sein, dass man selber homosexuell ist und darum darf es auch der andere nicht sein. Die Wurzel solcher unbewussten Abwehr sieht Martin Grabe darin, dass Homosexualität immer als wehrkraftzersetzend angesehen wurde und sich das so tief in das Unbewusste jedes Menschen eingeprägt habe, dass es wirksam bleibt, selbst wenn es – jedenfalls auf mich – ziemlich konstruiert wirkt. Besonders in Nordeuropa wirke das preußische Ideal des Soldaten so weiter. In islamischen Ländern sei es ebenso der Militarismus, der zur Schwulenfeindlichkeit geprägt habe.
„Diese Diskriminierung beruht auf der erlernten Übernahme traditioneller Tabus, diese wiederum gründen ... großenteils auf kollektiver neurotischer Abwehr homoerotischer Anteile der eigenen Psyche. Diese wiederum hatte eine bedeutende Funktion in unserer militaristischen Vergangenheit“ (S. 16)
  1. Aus psychotherapeutischer Sicht stelle Homosexualität keine therapierbare Krank­heit dar, auch wenn das in nicht ferner Ver­gan­genheit ganz anders gesehen wurde.
„In der Fachwelt besteht heute Einigkeit darüber, dass in den meisten Fällen Homosexualität eine Persönlichkeitsausprägung ist, die tief im Wesen eines Menschen verankert und ebenso wenig veränderbar ist wie Heterosexualität.“ (S. 24–25)

Darum ginge es in einer Therapie, die notwendig werde, weil homosexuell empfindende Menschen häufiger wegen „Gewissens­konflikten“ eine Depression entwickelten, darum, „Betroffene in ihrem Selbstwert zu stärken und ihnen zu helfen, die nun einmal vorhandenen Grundbedingungen ihres Lebens zu akzeptieren und anzunehmen“ (S. 27). Diese Konflikte hätten Betroffene aus ihren Gemeinden bzw. aus ihrer Erziehung mitgebracht. Für eine effektive Hilfe für homosexuell empfindende Christen müsse auch eine „echte, ehrliche und gründliche Auseinander­setzung mit allen auf Homosexualität bezogenen Bibel­stellen“ stattfinden. Anders könne bei „gläubigen Christen“ keine „stabile neue Grundlage gelegt werden“ (S. 30).

  1. Es gebe nur fünf Bibelstellen zum Thema. Grabe be­hauptet, dass keine von ihnen von der Homo­­sexualität spreche, um die es heute gehe. 3Mo 18,22 und 20,13 rede eigentlich von Ehebruch, denn die angesprochenen Männer seien verheiratet gewesen und der Geschlechtsverkehr zwischen Männern sei keine „homosexuelle Partnerschaft“, sondern „in der Regel Ehebruch“ (S. 38). Wer diese Stellen heranziehe, handele „intellektuell tatsächlich ziemlich unredlich“ und benutze ein „schlagkräftiges Pseudoargument, um vorstehende dumpfe Antipathie zu rechtfertigen“ (S. 39-40). 1Kor 6 und 1Tim 1 gehe es um „pädophile Übergriffe“ oder um „Prostitution mit festgelegten Rollen“ (S. 42–43). Die NGÜ übersetze zwar mit „homosexuelle Beziehungen“, aber das sei ein unzulässiges „Verwirrspiel“. Und in Römer 1 habe Paulus „überhaupt nicht die Intention, eine ethische Grundaussage über Homosexualität zu machen. Stattdessen macht er eine deutliche Aussage über promiskuitive Lebensweisen“ (S. 47).

  2. „Wenn jemand homosexuell ist, dann ist das nicht aus Versehen passiert, sondern Gott hat es ausdrücklich zugelassen. Es sollte so sein. Gott hat es für diesen Menschen so gewollt.“ (S. 50). Gott hat nach Grabes Sicht eine homosexuelle „Identität“ (der Begriff wird noch häufiger benutzt, S. 24.51.65.73.92) gewollt. Er diskutiert zwar allerlei Einschränkungen, die eine solche Aussage vielleicht haben müsste, kommt aber schließlich doch dazu, dass der „homosexuell empfindende Mensch“ es so sehen muss, dass „Gott uns so geschaffen hat, wie wir sind“ und ich „Gott dafür preisen (darf), dass er mich wunderbar geschaffen hat (Psalm 139,14)“ (S. 59).

„Eine homosexuelle Ausrichtung, die in der Persönlichkeit verankert“ ist, sei ein „göttlicher Schöpfungsakt“ (S. 73).

  1. Schon bisher gelte, dass die Haltung konservativer evangelikaler Gemeinden, dass zwar ausgelebte Homosexualität als Sünde abzulehnen sei, aber das Gefühl selbst nicht Sünde ist, keine wirkliche Hilfe für Homosexuelle darstelle. Eine solche erhebliche Liberalisierung gegenüber früheren Meinungen sei jedoch einerseits „nichts weiter ... als ein ziemlich naives, unbemerktes Mitschwimmen im Zeitgeist“ (S. 61). Andererseits sende es immer noch die Botschaft, dass der homosexuell Empfin­dende „nicht richtig“ sei, wie er ist. Das führe dazu, dass Menschen den Glauben wegwerfen oder depressiv werden (S. 65). Denn man verlange von ihnen einen „Zwangszölibat“, der „schlicht nicht lebbar“ sei (S. 71). Darum solle am besten ein Konzil beschließen, worauf für Grabe alles unausweichlich zuläuft:
„Homosexuelle Christen dürfen ebenso wie heterosexuelle Christen eine verbindliche, treue Ehe unter dem Segen Gottes und der Gemeinde eingehen und sind in der Gemeinde in jeder Hinsicht willkommen“ (S. 76).

Damit biete man homosexuellen Menschen erstmals „einen Lebensentwurf im Einklang mit dem Willen Gottes und dem, was wir in der Bibel über menschliches Zusammenleben erfahren“ (S. 77). Die Ablehnung von Homo­sexualität sei aber „eine echte geistliche Sackgasse“ der Gemeinde, „aus der sie sich durch Gebet, Bibelstudium und Nachdenken so bald wie möglich befreien sollte“ (S. 80). Andernfalls geriete die christliche Gemeinde immer weiter ins Abseits und immer mehr Menschen würden sich von ihr abwenden. Gott aber sage den Christen, sie sollten homosexuelles Leben nicht länger für unrein halten, weil er selbst es für rein erklärt habe (S. 88).

C. Warum die Argumente vielleicht plausibel, aber irreführend sind

Ich habe bisher auf die Kommentierung dieser Argumentation weitgehend verzichtet, weil hoffentlich jedem Bibelleser bei dieser Zusammenfassung klar wird, dass hier keine Überzeugung zur Sexualethik aus der Bibel gewonnen wurde, sondern dass es Grabe durchweg darum geht, eine Überzeugung, zu der er auf anderem Weg gekommen ist, pseudo-christlich zu untermauern. Das wird auch daran deutlich, dass Martin Grabe keinen Platz für andere Auslegungen oder Verständnisse offenlässt. Er sieht sich auf einer Stufe mit Wilberforce im Kampf gegen die Sklaverei oder Martin Luther King im Kampf gegen die Rassentrennung (S. 86–87). Redet hier also ein Prophet Gottes zu seiner Gemeinde, die in einem schrecklichen Irrtum gefangen ist? Ich frage das nicht ironisch. Ich frage mich tatsächlich jedes Mal, wenn ich Entwürfe betrachte, die meinen Einsichten entgegenstehen, ob ich mich geirrt habe. Ich will mir auch die Bereitschaft bewahren, von falschen Wegen umzukehren. Persönlich hätte ich nichts dagegen, wenn Martin Grabe recht hätte. Es würde viele Konflikte überflüssig machen. Aber ich habe einen Anspruch: Ich will überzeugt werden und nicht über den Tisch gezogen. Auch wenn Martin Grabe das – wenn auch ideo­logie­­typisch inkonsequent – keinem Menschen zutraut, bin ich an guten Argumenten interessiert. Und für solche ist nicht das wichtigste, dass sie plausibel und einnehmend vorgetragen werden, sondern dass sie wahr sind.

Hier ist nur ein kurzer Check der Argumente darstellbar. Aber das reicht aus, um zu entscheiden, ob eine tiefergehende Betrachtung überhaupt angebracht ist. Mein Fazit: Die Argumente selbst sind es nicht wert. Aber weil sie trotzdem verführerisch wirken, ergibt sich aus dem Check meines Erachtens die Aufgabe, manches genauer zu begründen. Allerdings ist dazu die nötige Arbeit schon geleistet worden. Sie muss nur in Erinnerung gerufen werden.

1. Tiefenpsychologische Irrwege statt biblische Wege

Es herrschte unter konservativen Christen lange Zeit die Überzeugung, dass es sich bei der tiefenpsychologischen Ideologie um eine antichristliche, weithin menschenverachtende Weltsicht handelt, die mit christlichen Maß­stäben nicht vereinbar ist2. Auch die ­heute gängige tiefenpsychologisch orientierte Therapie hat sich von zahlreichen Grundsätzen der Ideologie dis­tanziert. Nach biblischer Sicht ist der Mensch in seinem Inneren kein Dampfkessel, bei dem der Druck reguliert werden muss, damit er nicht explodiert. Sein sexuelles Begehren wird also nicht über Triebabfuhr reguliert. Der Mensch ist zwar auch nach dem biblischen Ver­ständnis nicht der absolute Herr über sein Herz und sein Be­geh­ren. Das liegt aber nicht an einer Art Fernsteuerung aus dem Unbewussten, sondern an seiner Sündhaftigkeit. Es ist auch dieses Sein als Sünder, das ihn dazu führt, dass er nicht mit sich selbst, seinem Wünschen, Denken und Handeln übereinstimmt. Sein Ge­wissen sagt ihm, dass da etwas nicht stimmt. Am besten wäre es, wenn das Gewissen seine Prägung von Gottes Wort bekommt. Dann würde der Mensch seine Mängel an der richtigen Stelle identifizieren. Andernfalls kann er auch ordentlich danebenliegen.

Die tiefenpsychologische Weltdeutung, die Martin Grabe anbietet, ist ein geschlossenes Weltbild, das kaum auf richtig oder falsch geprüft werden kann. Es lebt nur davon, dass es plausibel erscheint. Es mag wohl sein, dass Grabes frühere Ablehnung der Homosexualität mit seiner Abwehr der eigenen homoerotischen Gefühle zusammenhing. Die auch heute noch weltweit verbreitete Sicht, dass homosexuelles Verhalten unnatürlich ist, – wenn man auch zunehmend bereit ist, es zu tolerieren – hat aber damit wohl kaum etwas zu tun. Das würde sonst bedeuten, dass die allermeisten Menschen verkappte Homosexuelle wären, die ihre Neigungen nur unterdrücken. Aber um einmal ein Beispiel seiner stützenden Argumente zu nehmen: Sind Schwulenwitze, an die sich Grabe aus seiner Jugend­zeit so intensiv erinnert, ein Zeichen für die Unterdrückung der eigenen homoerotischen Neigungen? (S. 9) Was ist dann mit Ostfriesenwitzen oder Blondinenwitzen? Aber vielleicht sind sie ja ein Ventil, um die Erkenntnis der eigenen Dummheit abzuwehren. Sind türkische Badehäuser, in denen sich Männer und – getrennt von ihnen – Frauen gegenseitig mit Wasser übergießen, ein Zeichen für eine größere Bereitschaft, das homoerotische Element zuzulassen? (S. 8) Nichts deutet darauf hin. Die türkische Gesellschaft sieht Homosexualität mehrheitlich als unnatürlich an. Dass homosexuell lebende Menschen das in hohem Maß selbst so empfinden, könnte so gedeutet werden, wie es Grabe andeutet, muss aber nicht. Er hat sich nur entschieden, die negativen Begleiterscheinungen homosexuellen Lebens, wie Promis­kuität, eklatant mehr psychische Er­kran­kungen und Selbstmorde usw. der Dis­kri­minierung von Homosexualität zuzuschreiben. Bisher ist aber wissenschaftlich nicht klar, ob das stimmt oder ein homosexueller Lebensstil ungesund für Körper und Seele ist3. Auch andere Zusammenhänge sind denkbar.

Mir scheint auch eine falsche sexuelle Deutung darin zu liegen, wenn man die An­ziehung zwischen Männern und Männern, Frauen und Frauen, Männern und Frauen – zu denen noch diese Konstellationen in unterschiedlicher Lebensreife und unterschiedlichen Stellungen kommt – auf einer Skala zwischen ganz homoerotisch und ganz heteroerotisch ansiedelt. Die Anziehung, die väterliche Freunde auf mich haben und die auch in männlicher Umarmung münden kann, gehört nicht auf die erotische Schiene. Sie hat sehr wohl mit dem Mannsein und damit mit dem Geschlecht zu tun, aber deswegen nicht gleich mit Erotik. Das gilt auch für die Anziehung großmütterlicher Frauen auf jüngere Männer oder die von Männern untereinander auf Augenhöhe. Das Gleiche würde für eine innige Freundschaft unter Frauen gelten. Sollten wir jedes Freundinnen-Miteinander erotisch deuten? Das ist ein gefährlicher Irrweg, der insbesondere jungen Menschen in der Entwicklung ihrer Geschlechtlichkeit eine völlig falsche Vorgabe macht und sie entweder erheblich einschränkt oder auf eine falsche Schiene bringt. Er passt zur Erotisierung fast aller Lebensäußerungen, führt aber grundsätzlich zu einer Verarmung vor allem auf dem Gebiet der Freundschaft.

Darüber hinaus scheint mir die Tiefen­psychologie – bei der verhaltenstherapeutischen Ideologie ist das nicht anders –, den Menschen seiner Würde zu berauben. Für Grabe ist der homosexuell empfindende Mensch seinem sexuellen Begehren weithin ausgeliefert. Die einzige Möglichkeit für ihn scheint zu sein, dass er sich dem hingibt. Das Begehren zu kontrollieren, wie es die Bibel vom Menschen erwartet und ihm auch zutraut, scheint beinahe unmöglich. Glück verspricht nur, dass man sein Begehren als unveränderlich gottgegeben annimmt und irgendwie auslebt. Warum aber dann eine christliche Trauung eine Lösung darstellen soll, die Grabe selbst einen „Teilzölibat“ nennt (S. 68), erscheint unlogisch. Ebenso unlogisch bleibt, aus welchem Grund Grabe offenbar die tiefenpsychologische Deutung aller Homosexualität, wie sie schon Sigmund Freud vorgeschlagen hatte und die dann auch sehr lange prägend war, höchstens eingeschränkt gelten lässt. Sie ist dort eine im Ödipuskomplex wurzelnde Sexualstörung. Wenn ich richtig verstehe, sieht er das nur bei „unechter Homosexualität“ aufgrund „neurotischer Ängste“ als gegeben an (S. 31–33).

Wie wohltuend ist dagegen die biblische Sexualethik, die das sexuelle Begehren als schön, stark und von Gott gewollt beschreibt. Aber in der gefallenen Schöpfung ist es auch schwer zu kontrollieren. Doch es ist möglich und hat in den Grenzen Gottes die beste Chance, zu erfüllter Sexualität zu führen. Die Kontrolle aufzugeben und sich dem Begehren einfach hinzugeben, ist dagegen der Weg in Schuld und viele Übel. Letztlich führte es in einen Götzendienst, weil der Erfüllung sexueller Wünsche etwas zugeordnet wird, was der Mensch nur von Gott selbst erwarten kann.

2. Unbarmherzige Genetik statt barmherzigem Evangelium

An dieser Stelle ist Grabe in einem Punkt weitgehend recht zu geben. Homosexuelles Begehren lässt sich in Therapie und Seel­sorge offenbar schwer und oft gar nicht „wegtherapieren“.4 Weil Grabe will, dass Homosexualität eine zu akzeptierende Schöp­fungs­gabe Gottes ist, deutet er einen erheblichen genetischen Faktor an (S. 25–26). Nur konnte der trotz intensiver Forschung bisher nicht erwiesen werden. Aus den von Grabe genannten Studien kann man das oder das Gegenteil ablesen. Es wurde bisher kein „Schwulengen“ gefunden. Der Griff zu einer Mischung aus mehreren Genen, „die zum Teil auch andere Aufgaben haben“, epigenetischen Faktoren und vorgeburtlichen hormonellen Einflüssen schafft es dann – hoch angesetzt – schätzungsweise auf einen 35% Anteil an der Homosexualität von Männern. Aber was soll das eigentlich heißen, abgesehen davon, dass bei lesbischen Frauen der „genetische Anteil“ nur rund halb so hoch geschätzt wird?

Um das Problem zu sehen, könnte man sich die Frage stellen, welchen genetischen Anteil dem hellblonden Haar einer Frau zugrunde liegt. Sind es 100%, wenn sie an ihrer Haarfarbe nichts gemacht hat und 0%, wenn sie sie gefärbt hat? Hat sie von mittelblond auf hellblond gefärbt, sind das dann 50% und 0%, wenn sie ursprünglich schwarzhaarig war? Und waren die Gene stärker am Entschluss zum Färben beteiligt oder eher an der Vorliebe für eine Haarfarbe? Ohne Zweifel wirken in unserer Geschlechtlichkeit unsere Gene. Aber kann und soll man daraus ableiten, dass eine gleichgeschlechtliche Sexu­al­praxis von Gott gewollt ist?

(Achtung! Mit den folgenden Vergleichen will ich Homosexualität nicht auf eine Stufe mit dem Verglichenen stellen. Bei Vergleichen geht es immer um Gleiches und Ungleiches. Man kann Äpfel und Birnen vergleichen und feststellen, dass beides Früchte sind, die an Bäumen wachsen und trotzdem die Unterschiede sehen.) Auch anderes sexuelles Begehren erweist sich als schwer therapierbar, trotzdem wird es versucht und ist auch nicht gesetzlich verboten. Ich kenne Christen, die mit pädophilen Phantasien zu kämpfen haben. Sie haben sich nie an einem Kind vergriffen, aber ihr Begehren machte ihnen Angst und sie wurden es nicht (völlig) los. Zu Recht fordert kaum jemand auf dieser Grundlage, das als Gabe Gottes zu akzeptieren. Alkoholismus erfordert von den meisten Betroffenen eine lebenslange Abstinenz. Er ist nur selten völlig heilbar. Das Begehren des Menschen kann sich auf vielfältige Weise auf alles Mögliche richten. Die Bibel benennt etwa mit dem Inzestbegehren oder der Zoophilie ein falsches sexuelles Begehren, was die meisten heute teilen. In diesem Bereich wird biblisch offenbar auch homosexuelles Begehren eingeordnet. Aber das ungezügelte heterosexuelle Begehren ist im Alten und Neuen Testament ebenso in dieser Kategorie zu finden.

Nur weil manches Begehren so tief im Menschen verankert ist, dass er es nicht völlig loswird, sondern nur unter Kontrolle halten kann, ordnet die Bibel es nicht der Identität des Menschen zu. Oder sollte ein Christ, der durch Ver­gewaltigungs­phan­ta­sien sexuell erregt wird, das als Teil seiner Identität ansehen? Oder wie ist es mit etwas Harmloserem wie der Erregung durch schöne Füße oder einem gesteigerten Begehren durch Lack und Leder? Die Sicht der Bibel darauf ist für das geistliche, aber auch das leibliche Leben sehr viel besser, als was uns Martin Grabe ohne wirkliche Grundlage anbietet. Es gibt das Evangelium genauso für homosexuelle Menschen, aber das heißt nicht – wie für alle anderen auch –: „Nimm dich an, wie du bist. Du bist Ok, weil Gott dich so gemacht hat und lebe, was tief in deiner Persönlichkeit verankert ist.“ Vielmehr heißt es: „Gott liebt den sündigen Menschen mit all seinem falschen Begehren so sehr, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit die Sünde vergeben werden kann und du nicht mehr deinem Begehren ausgeliefert leben musst. Glaube das und du wirst gerettet.“

3. Unzulässiger Kunstgriff statt bibelgemäße Auslegung

Der Schlüssel für Martin Grabes angeblich tiefgründige, genaue, echte und wahre Bibelauslegung ist seine Entscheidung, die Ablehnung von homosexuellem Leben in der Bibel als kulturbedingt anzusehen. Weil es in der damaligen Gesellschaft – nicht wegen Gottes Willen, sondern wegen zufälliger kultureller Gegebenheiten – keine homosexuellen Partnerschaften oder Ehen gab, deswegen muss die Bibel von etwas anderem reden als der Ablehnung solcher Partnerschaften oder auch nur einem homosexuellen Lebensstil. Sicher ist die Anwendung der Stellen aus 3. Mose für eine christliche Sexualethik nicht so einfach und direkt, wie es Grabe ablehnend karikiert. Sein Umgang mit der Bibel erscheint aber deswegen nicht weniger wie eine Karikatur. Das Kulturargument kann als hermeneutischer Kunstgriff dienen, mit dem man jegliche ethische Forderung der Bibel beliebig ausschalten kann. Ehebruchverbot? Bezieht sich nur auf arrangierte Ehen, wie sie damals üblich waren, aber nicht auf die moderne Liebesehe. Das Verbot des Begehrens verheirateter Frauen ist offenbar in einer agrarischen Gesellschaft verortet, gilt also für unsere digital-industrielle nicht. Tinder-Abenteuer sind heute nicht so schädlich wie damals, wo es auf den familiären Zusammenhalt ankam.

In Israel und auch in Rom war eine homosexuelle Partnerschaft oder Ehe nicht vorgesehen, aber im Römischen Reich scheint sie doch vorgekommen zu sein5. Aber war das eine kulturelle Zufälligkeit? Ob das Kulturargument, das bei der Auslegung der Bibel eine Rolle spielen kann, hier überhaupt angebracht ist, das müsste erst einmal konkret gezeigt werden. Das aber ist innerbiblisch unmöglich. Aus den Gegebenheiten der antiken oder spätantiken Gesellschaften lässt sich die Notwendigkeit ebenso wenig ableiten. Das jahrzehntelange Bemühen auch konservativer Christen, Verständnis und Hilfe für homosexuelle Christen anzubieten, hat selten mit solch einer Dreistigkeit zum Kulturargument gegriffen, wie es Martin Grabe tut. Lehnt also die Bibel die „echte“, in der Persönlichkeit verankerte Homo­sexualität nicht ab, während sie die „unechte“ als nur äußerem Verhalten verurteilt? Oder gilt das sogar nur, wenn Gewalt im Spiel ist, wie Grabe behauptet? Es gibt nicht den geringsten An­haltspunkt in den Texten selbst und das liegt nicht daran, dass die Bibel nicht von sexuellem Begehren redet, wie das etwa für den Umgang mit Computer und Smartphone der Fall ist.

Die Botschaft der Bibel ist klar. Mannsein und Frausein ist ein Teil der Persönlichkeit oder der Identität des Menschen. Das sexuelle Begehren ist es nicht, was spätestens daran deutlich ist, dass es im Leben im neuen Körper in der Ewigkeit nach den Aussagen von Jesus nicht mehr vorhanden sein wird (Mt 22,30). Die von Gott gewollte Befriedigung des sexuellen Begehrens soll allein in einer Ehe von Mann und Frau gesucht und gefunden werden. Da schon auch das begehrliche Empfinden nach einer fremden verheirateten Frau oder einem solchen Mann nach den Worten Jesu Ehebruch ist (Mt 5,28), kann man folgern, dass jedes fehlgeleitete Begehren notwendig eine Begrenzung braucht. Der Neid auf Besitz ist ebenso Sünde wie der Diebstahl. Das setzt dem Begehren zwar enge Grenzen, aber innerhalb dieser Grenzen kann es auch Erfüllung finden. Allerdings ist auch das kein Lebensziel, sonst würde auch zweigeschlechtliche Sexualität zu einem Götzen werden. Tatsächlich kann man also sagen, dass nach biblischem Verständnis die Begrenzung und Kontrolle des Begehrens den Normalfall des menschlichen Lebens darstellt und nur gelegentlich ein Ausleben unter Achtung der Grenzen innerhalb von Gottes Willen ist. Dafür gibt es dann auch eine Reihe von Bibelstellen (z.B. Spr 5,15–20; 1Kor 7,2–6).

3. Ein falsches „Evangelium“ statt der befreienden biblischen Botschaft

Die Behauptung, dass homosexuelles Begehren eine von Gott gewollte Schöp­fungs­variante darstellt, die man annehmen muss, um gesund glauben zu können, ist biblisch gesehen völlig absurd. Ich schließe aus der Diskussion im Buch, dass Grabe das Prinzip fast ausschließlich auf die „in der Persönlichkeit verankerte Homo­sexualität“ anwenden will. Andernfalls könnte er die zahlreichen Folgen der Sünde und des Todes, unter denen wir zu leiden haben, in der gleichen Kategorie zu­sammenfassen.

Ja, Gott hat den Tod gewollt, nämlich als Strafe für die Sünde, aber sein ursprünglicher und eigentlicher Wille ist auch nach dem Sündenfall, „dass der Sünder umkehrt und lebt“. Das ist dem aufmerksamen Bibelleser auch nach den ersten Seiten der Bibel klar, denn es wird dort überdeutlich gesagt. Nun muss der Mensch auch „annehmen“, dass er sterben muss, und so muss er auch „annehmen“, dass er in dieser Welt unter Sünde und Tod in seinen zahlreichen Aus­wirkungen leiden muss. Unter anderem können wir keine paradiesische Sexualität leben. Die leuchtet zwar hier und da im Leben mal vorübergehend auf. Aber auch die heterosexuelle Gemeinschaft in der christlichen Ehe ist zu allermeist nicht ohne Probleme und für manche Paare sogar ein Leben lang leidvoll. Man muss einem ungewollt unverheiratetem Christen vielleicht sagen, dass er „annehmen“ muss, dass Gott ihm bisher oder vielleicht nie einen Ehepartner schenken wird und er deswegen mit unerfüllten sexuellen Wünschen leben muss. So muss man wohl auch einem homosexuell empfindenden Christen sagen, dass er als Folge des Lebens in der gefallenen Schöpfung unter Umständen damit leben muss, dass immer wieder ein sexuelles Begehren in ihm aufkommt, dessen Befriedigung von Gott verboten ist.

Den Frieden findet der Christ aber nicht in einer „Annahme“, die den Schaden für gut erklärt, sondern im Glauben an Christus, der Liebe und Vergebung hat für denjenigen, der „nicht richtig“ ist.

5. Ein scheinbares Versöhnungsangebot statt echter christlicher Liebe

Sicher kann man mit einigem Recht kritisieren, dass die christliche Gemeinde – nicht nur auf dem Gebiet der Homosexualität – nicht immer christlich mit dem Sünder umgegangen ist. Auch dass sie häufig ihre Ansichten dem Zeitgeist angepasst hat, sowohl in der Haltung der Homosexualität gegenüber als auch an vielen anderen Stellen, ist kritikwürdig. Dass homosexuell Empfindende, die zölibatär leben, in der christlichen Gemeinde sein und auch mitarbeiten dürfen, ist eine mentale Hürde, die leider nicht alle Christen überwinden können, wenn sie auch geboten ist. Sich einen Moment vorzustellen, was es sonst noch alles für sexuelle Wünsche unter den christlichen Geschwistern geben mag, kann hilfreich sein. Aber die Lösung kann doch nicht ernsthaft der Entschluss sein, dann eben jeden Widerstand aufzugeben und sich haltlos dem jeweiligen Zeitgeist anzupassen. Was kommt als Nächstes? Vielleicht die Forderung der völligen Freigabe der Abtreibung? Hier hat doch die konser­vativ-christliche Ge­meinde durchaus vorbildhaft gezeigt, wie man einerseits Frauen, die abge­trieben haben, zum Glauben an Christus und die Vergebung einladen kann und andererseits ihre Tat als eine Form des Mordes ansehen. Sollen wir demnächst Segnungen vor dem Gang in die Abtreibungsklinik anbieten, damit moderne Menschen nicht aus der christlichen Gemeinde weglaufen? Oder wie steht es mit Polyamorie? Oder einer „Ehe“ für verliebte Minderjährige ab vierzehn? Sollen Begrenzungen der Begierde je nach dem aufgegeben werden?

Ich weiß und habe erlebt, dass im Umgang mit Homosexuellen auch viele Konservative dem Auftrag der Verkündigung des Evange­liums nicht treu waren. Aber mit der Ein­führung eines Traugottesdienstes für eine Quasi-Ehe Homosexueller wird nichts gebessert, im Gegenteil. Leider wischt Martin Grabe auch mit einem Federstrich das seelsorgerliche Bemühen von Christen um Homosexuelle als un­christlich beiseite, nur weil es nicht davon bestimmt war, dass man zum „Coming-Out“ ermutigte und zu einem „verantwortungsvollen“ Ausleben seiner Gefühle. Wie viel Tragen und Mittragen, Leiden und Mitleiden, Aufrichten und Begleiten wird da einfach abgeurteilt, weil es dem gegenwärtigen Zeitgeist nicht entspricht. Ich bezweifle ernsthaft, dass die Empfehlungen von Martin Grabe etwas für Homosexuelle und ihre Not bessern. Ich befürchte das Gegenteil, gerade weil die Beobachtungen zeigen, dass das „Coming-Out“ meist nicht zu der erhofften Befreiung und dem inneren Frieden führt, selbst wenn der Homosexuelle dafür von seiner Umgebung gefeiert wird.

D. Fazit

Ich könnte jetzt noch einen Teil anhängen, in dem ich berichte, was als Ergebnis der Therapiestunde bei Dr. Martin Grabe in mir ausgelöst wurde. Nur so viel: Das vorherrschende Gefühl ist Traurigkeit. Traurig fühle ich mit Martin Grabe und seinem inneren Kampf, der ihn auf diesen in vieler Hinsicht unchristlichen Weg geführt hat. Traurig sehe ich, wie homosexuell empfindende Christen große Herausforderungen und Kämpfe zu bestehen haben, wenn sie dem Wort Gottes gehorsam sein wollen. Ihnen wird es mit diesem Buch nicht leichter gemacht. Traurig werde ich, wenn ich an die Gemeinden denke, die sich auf den von Grabe vorgeschlagenen Weg begeben und feststellen werden, dass damit kein einziges Problem gelöst wird, sie aber die Bindung an Gottes Wort lösen, weil sie es sich an dieser Stelle einfach gefügig gemacht haben und es an jeder anderen Stelle genauso können.


1 Alle Zitate und Seitenangaben aus dem Buch: Martin Grabe, Homosexualität und christlicher Glaube: ein Beziehungsdrama. Francke-Buchhandlung, 2020. geb. 96 Seiten. 10,95 €.

2 Dass sie sich auch aus wissenschaftlichen Gründen als irrig erwiesen hat, zeigt etwa Dieter E. Zimmer in Tiefenschwindel: die endlose und die beendbare Psychoanalyse (Hamburg, 1986).

3 Einen Überblick über Daten und Fakten, die in dieser Hinsicht oft verschwiegen werden, liefert die Seite des Deutschen Instituts für Jugend und Gesundheit. https://www.dijg.de/homosexualitaet/wissenschaftliche-studien/sozialwissenschaftlich-psychologisch-medizinisch/

4 Man sollte andererseits die Berichte der Christen, die Hilfe gesucht und gefunden haben, nicht verachten oder in der Manier der Homosexuellen-Lobby für unglaubwürdig erklären.

5 Das Quellenmaterial zur männlichen Homo­sexualität im antiken Griechenland seit Platon und im römischen Reich ist relativ reich. Päderastie war nicht immer in den Jahrhunderten „voll salonfähig“, oft verpönt, doch nicht immer ein moralisches Problem, weder für die Oberschicht, noch die unteren gesellschaftlichen Klassen. „Dorische Knabenliebe“, männliche Homosexualität auf Kreta, in Sparta, in Theben, in Makedonien usw. usw. war weit bekannt und üblich, je nach Epoche auch schändlich und bei Erwachsenen unschicklich. William A. Percy in seinem Werk Pederasty and Pedagogy in Archaic Greece (1996), beschreibt chronologisch die Verbreitung der Homosexualität unter Männern, in Sparta u.a. auch unter Frauen, obwohl diese Homosexualität vermutlich kulturell keine große Beachtung besessen hat. Vgl. auch Carola Reinsberg: Ehe, Hetärentum und Knabenliebe im antiken Griechenland, München 1989. Von diesen „Praktiken“ in den Jahren 40 bis 70 n.Chr. (samt schriftlichen Quellen der zurückliegenden Antike unter gebildeten Römern, vielleicht auch dem Paulus usw. bekannt) bildeten dann auch die kulturelle Hintergrundfolie zur gleichgeschlechtlichen „Partnerschaft“, auf die z.B. Paulus Bezug nahm, wenn er das hellenisierte Römertum seiner Zeit vor Augen hatte.