Denkvoraussetzungen reformatorischer Theologie

Teil 2

Artikel von Hanniel Strebel
14. November 2020 — 6 Min Lesedauer
Dieser Artikel ist Teil der Artikelreihe „Was ist denn, bitteschön, reformatorische Theologie?“, in der Hanniel Strebel in Kürze die wichtigsten Themenfelder der Dogmatik aus reformatorischer Perspektive beleuchtet.

Um über Theologie reden zu können, müssen zunächst einige Voraussetzungen geklärt werden. Ich erwähne drei: den Einfluss des Sündenfalls auf das Herz des Menschen; die Unterscheidung zwischen dem Buch der Schöpfung und dem Buch der speziellen Offenbarung Gottes, der Bibel; drittens die Bibel als das absolut glaubwürdige Dokument der Selbstoffenbarung Gottes.

Die Auswirkungen des Sündenfalls

Die reformatorische Theologie setzt starkes Gewicht auf den Einfluss des Sündenfalls auf den Verstand. Sie verwendet dabei den Ausdruck „Herz“ für das Innere des Menschen. In den Familienandachten spreche ich jeweils von der inneren Schaltzentrale. Diese umfasst mehr als nur den Intellekt, nämlich die gesamte Person mit Verstand, Willen und Gefühlen. Dies ist eine Schematisierung, da die Bibel die Begriffe zum Teil austauschbar verwendet.

„Diese erste Sünde wirkte sich in einer Verfinsterung aus."
 

Infolge seiner Überheblichkeit verlangte der erste Mensch, angestiftet durch Satan, nach einem besonderen Erkenntnisakt. Er wollte sein wie Gott (1Mose 3,5). Tatsächlich wurden seine Augen für neue Aspekte seines Seins geöffnet; er begann sich zu schämen (3,7). Aufgrund der erweiterten Erkenntnisfähigkeit verbannte ihn Gott aus dem Garten (3,22). Der Mensch wollte sein wie Gott und zur Erkenntnis von Gut und Böse gelangen und damit eigentlich die Herrschaft rauben, die ihm als Geschöpf nicht zustand, sondern nur dem Schöpfer. Diese erste Sünde wirkte sich in einer Verfinsterung aus. In Epheser 2,1–3 und Epheser 4,17–19 sagt Paulus ganz klar, dass unser gesamtes Inneres verfinstert ist, dass wir wie tot wurden. Ich nenne diesen Zustand „lebend tot“. Das war ja auch die Ankündigung vor dem Sündenfall: An dem Tag, da ihr davon esst, werdet ihr sterben (1Mose 2,17). Der Mensch starb, geistlich gesehen; dem folgte der physische Tod.

Dabei war es sehr wohl so, dass er seine gesamten menschlichen Eigenschaften – einige Theologen sprechen von der „Strukturimago“ – also Eigenschaften wie Rationalität, Gefühle oder Willenskraft behalten hat. Aber in Bezug auf Gott wurden sie nicht nur geschwächt oder beeinträchtigt, sondern so stark entstellt, dass der Mensch sich von sich selbst aus nicht mehr an Gott, sondern an einem Ersatz orientiert und ausrichtet. Als Referenzstelle wird vor allem auf Römer 1,18–3,20 Bezug genommen. Dort entfaltet Paulus eine groß angelegte Anklage, die zum Schuldspruch über jeden Menschen führt.

Der Mensch, der ja ein Geist-Wesen ist, kann über sich selbst nachdenken, denn er ist im Bild Gottes geschaffen. Insofern hat er, obwohl er in Sünde gefallen ist, seine Fähigkeiten behalten. In Bezug auf Gott selbst ist er jedoch blind. Er muss sich zwangsläufig an einem Ersatzgott ausrichten. Dieser kann nur eine Dimension dieser Schöpfung sein, entweder ein Mensch selbst oder etwas aus der übrigen Schöpfung. Viele Menschen wählen sich selbst oder einen anderen Menschen. Da der Ersatz enttäuscht, bleibt ein regelmäßiger Götterwechsel unumgänglich.

Die zwei Bücher Gottes

Theologen sprechen von den zwei Büchern Gottes. Das erste Buch ist das Buch der Natur, der Schöpfung. Gott spricht, wie es der Psalmist in Psalm 19 und Paulus in Römer 1,18ff zum Ausdruck bringen, ganz klar durch seine Schöpfung zu jedem Menschen. Reformatorische Theologen sprechen von der sogenannten allgemeinen Offenbarung. Es geht um die Gottesoffenbarung, die durch die Schöpfung an jeden Menschen, auch den unerlösten, ergeht. Wenn man Römer 1,20 genau liest, sieht man, dass dabei Aspekte der göttlichen Kraft eingeschlossen sind. Wenige Verse später erwähnt Paulus noch einen zweiten Weg der Ansprache Gottes. Dieser liegt im Menschen selbst (Röm 1,32). In ihm ist ein Moralgesetz verankert, also eine Ausrichtung auf Gut und Böse, so wie es ihm der Schöpfer als der Begründer vorgegeben hat. Durch das Buch der Natur erhält auch der gefallene Mensch einen bestimmten Zugang. Aufgrund des Moralgesetzes, das sich nach Römer 2,14 im Gewissen ausdrückt, verfügen alle Menschen über Kenntnis von Gott als Schöpfer und Gesetzgeber. Dies macht sie – so Paulus zweimal – unentschuldbar (Röm 1,21; 2,1).

Das zweite Buch ist die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift des Alten und des Neuen Testaments. Theologen sprechen von der sogenannten speziellen Offenbarung. Während zur allgemeinen Offenbarung, der Schöpfung, auch der gefallene Mensch Zugang hat, bekommt – so Paulus in 1. Korinther 2,14 – nur der erlöste Mensch diesen Zugang zur speziellen Offenbarung Gottes. Für den natürlichen Menschen bleibt dieser Zugang, der durch den Heiligen Geist erschlossen wird, verborgen.

Die Reformatorische Theologie unterscheidet also zwischen allgemeiner und spezieller Offenbarung, zwischen der erhaltenden Gunst Gottes (Mt 5,45: Gott lässt regnen über Gute und Böse; Apg 14,16–17: Gott gibt den Völkern Regen und fruchtbare Zeiten), wie sie alle Menschen erfahren, und der sogenannten errettenden Gnade. Durch die spezielle Offenbarung, das gepredigte Wort Gottes (Röm 10,17), schenkt der dreieinige Gott die Kraft zur Seligkeit (2Tim 3,15–17).

Die Heilige Schrift als Selbstoffenbarung Gottes

Wir können nur so viel von ihm erkennen, wie der dreieinige Gott von sich selbst auch mitzuteilen gedachte. Er tat dies in menschlicher Sprache, die wir fassen können. Ich wiederhole mich an dieser Stelle mit Absicht. Nur der erlöste Mensch kann die erlösende Gnade durch Gottes Wort, seine Selbstoffenbarung, richtig erkennen. Wie denn? Die Reformatoren sprachen vom externen Zeugnis der Heiligen Schrift, das mit dem internen Zeugnis des Heiligen Geistes zusammenkommt. Nur der wiedergeborene Mensch erkennt durch die Brille der Heiligen Schrift den Schöpfer auch als den Erlöser.

„Wir können nur so viel von ihm erkennen, wie der dreieinige Gott von sich selbst auch mitzuteilen gedachte.“
 

Diese Heilige Schrift als Selbstoffenbarung ist die „norma normans“. Sie ist die Messgröße, an der alles andere gemessen werden muss. Sie ist für den erlösten Menschen klar und ausreichend. Alles ist uns darin geschenkt worden, was zu einem Leben in Gottesfurcht gehört (2Petr 1,3). Die Schrift hat das Ziel (2Tim 3,17), uns zu überführen und als wiedergeborener Mensch reifen zu lassen. Als Gottes Menschen sollen wir Ihm ganz zur Verfügung zu stehen. Die Bibel ist demnach klar und ausreichend für den wiedergeborenen Menschen zur Errettung und zum Wachstum im Glauben; gleichzeitig ist sie auch für den nicht wiedergeborenen Menschen klar und ausreichend genug zu seiner Verurteilung.

Diese drei Aspekte – die Auswirkungen des Sündenfalls auf den gesamten Menschen, die Unterscheidung der beiden Bücher (Schöpfung und Schrift) sowie das Schriftprinzip, nach dem die Heilige Schrift als Gottes Selbstoffenbarung klar und ausreichend für den Menschen ist – sind meines Erachtens wichtig hervorzuheben. Seit über 150 Jahren sind wir Menschen im Westen daran gewöhnt, den eigenen – auch nicht erlösten – Verstand als erste Prüfinstanz über Gottes Wort zu erheben. Dieser wird zum Richter und sortiert aus, was ursprünglich bzw. fehlerhaft sein soll. Zudem hat sich auch in freikirchlichen evangelikalen Kreisen ein Verständnis entwickelt, das Dan Doriani, ein amerikanischer Theologe, als „Daneben-Haltung“ bezeichnet: Man stellt sich neben Gottes Wort und fragt sich: „Passt mir das jetzt oder passt es mir jetzt nicht?“ Es mag sich jemand wohl zur Irrtumslosigkeit der Schrift bekennen, aber im Leben diese Kraft leugnen und sich neben die Heilige Schrift stellen. Hier ist die reformatorische Theologie sehr klar. Sie erkennt den Vorrang der Heiligen Schrift an; sie trifft eine klare Unterscheidung zur Schöpfungsoffenbarung. Und sie erkennt die Verdorbenheit des nichterlösten Verstandes an.