Nur ich und meine Bibel?
Im August 1981 stand der junge schwedische Arzt Hans Rosling vor einem rätselhaften Phänomen. Unter den Menschen des Dorfes Nampula, Mozambik, traten viele unerklärliche Fälle von Lähmungen auf. Zunächst vermutete er einen Ausbruch von Kinderlähmung, aber nachdem er einige Tests durchgeführt hatte, konnte der Virus erstaunlicherweise als Ursache ausgeschlossen werden. Da sich das Land am Rande eines Bürgerkriegs befand, befürchtete Rosling eine weitaus schlimmere Ursache – chemische oder biologische Kampfstoffe.
„Unglücklicherweise ist ‚Sola Scriptura‘ in den letzten beiden Jahrhunderten abgeflacht zu ‚Solo Scriptura‘ – ‚nur ich und meine Bibel‘.“
Nach wochenlangen Untersuchungen durch ein internationales Ärzte-Team wandte sich Roslings Aufmerksamkeit einem erschreckenden Schuldigen zu – einem alltäglichen stärkehaltigen Wurzelgemüse mit Namen Cassava. Die Cassava war ein Teil der traditionellen Ernährung von Mozambik – wie überhaupt von weiten Teilen Afrikas – seit sie im 15. Jhd. von den Portugiesen eingeführt worden war. Recht früh zu Beginn der Untersuchungen hatte einer der Dorfältesten beklagt, dass das Dorf mit der Krankheit geschlagen worden sei, „weil der Regen unsere Cassava nicht gewaschen hat“. Obwohl seine Bedenken anfänglich nicht beachtet wurden, fanden Forscher doch bald heraus, dass die Cassava, wenn sie vor dem Verzehr nicht richtig zubereitet wird, ein gefährliches Maß an Cyanid enthält – ein natürlich vorkommendes Gift, das, wenn man es zu sich nimmt, zu Lähmungen und zum Tode führt. Die Dorfbewohner waren durch ihr eigenes Hauptnahrungsmittel vergiftet worden.
Gemäß einer Prozedur, die über Jahrhunderte überliefert worden war, hatten die Dorfbewohner traditionellerweise Tage damit verbracht die Cassava zuzubereiten, bevor sie sie aßen – die Cassavaknollen wurden eine Woche lang in Wasser eingeweicht und in der Sonne getrocknet, bevor sie zu Mehl vermalen wurden – eine Methode, durch die das giftige Cyanid abgebaut wurde. Wegen des drohenden Bürgerkriegs aber beachteten die Dorfbewohner diese Tradition nicht mehr, kürzten den zeitintensiven Prozess ab und machten unmittelbar nach der Ernte Cassava-Mehl aus den Wurzeln. Eine unbedenkliche Zubereitung der Cassava aber bedurfte der gesammelten Erkenntnis und Erfahrung, die von den Ältesten überliefert worden war.
Sich gemeinsam auf die Schrift verstehen
In ähnlicher Weise liegt eine große Gefahr darin, sich von der christlichen Tradition loszulösen. Wohlstandsevangelium, absonderlicher Personenkult, strenge Gesetzlichkeit sowie freizügiger Liberalismus, das sind alles Gifte, die arglosen Christen aufgetischt werden, und das teils, weil man bei der biblischen Zubereitung die Weisheit der Alten außen vor gelassen hat.
Darüber hinaus wird diese falsche Lehre manchmal von Lehrern dadurch gerechtfertigt, dass sie für sich beanspruchen „Nur-Bibel“-Leute zu sein.
Sie machen den Wahrheitsgehalt ihrer Auslegung geltend, indem sie fälschlicherweise argumentieren, dass die Bibel die einzige theologische Ressource der Christen sei und dass jeder, der ein Argument aus der Kirchengeschichte anführt vergessen habe, wofür die Reformation steht. Ob aus Bosheit oder aus Unwissenheit, sie können die Schrift in eine falsche Richtung verdrehen – ein Zerfallsmuster, das seinen Anfang im Garten Eden nahm. Unglücklicherweise schlucken wir manchmal, was sie uns auftischen, weil auch wir den biblischen Wert, uns gemeinsam auf die Schrift zu verstehen, aus den Augen verloren haben.
Allein die Schrift, nicht nur die Schrift
Für die Reformatoren bedeutete die Rückkehr zur zentralen Bedeutung der Schrift nicht die Aufgabe der Tradition. Die Reformatoren hatten aber erkannt, dass die Tradition in der römisch-katholischen Kirche eine eigentümliche Trägheit entwickelt hatte. Über die Jahrhunderte hatte die berechtigte Sorge, die Reinheit der Lehre aufrecht zu erhalten, den negativen Effekt, dass sie allmählich die Autorität der Auslegung in den Händen einiger Weniger vereinigte. Ganz ähnlich wie die Pharisäer zur Zeit Jesu, hatte die römisch-katholische Geistlichkeit angefangen, die kirchliche Interpretation der Schrift mit der gleichen Autorität zu bekleiden wie die Schrift selbst.
„Für die Reformatoren bedeutete die Rückkehr zur zentralen Bedeutung der Schrift nicht die Aufgabe der Tradition.“
In der Tat ging die römisch-katholische Tradition (bequemerweise) so weit zu behaupten, dass allein der Klerus – vereint in der Person des römisch-katholischen Bischofs – die letzte Instanz war, die bestimmte, was die Schrift in Bezug auf alle Dinge des Lebens und des Glaubens zu sagen hatte. Die Reformatoren zeigten ein Hauptproblem dieser Behauptung auf: Die Schriften haben die Gemeinde hervorgebracht, nicht umgekehrt. Wie Luther bekanntermaßen spöttelte, „Wer zeugt seine eigenen Eltern? Wer bringt zuerst seinen eigenen Schöpfer hervor?“
Aber die Reformatoren waren bedacht darauf, die Tradition nur dann für schädlich zu halten, wenn sie die Autorität mit der Schrift teilt oder an ihre Stelle tritt.
In der Tat riefen sie regelmäßig die großen Theologen der christlichen Vergangenheit als Zeugen gegen die lehrmäßigen Kompromisse ihrer Zeit auf. Johannes Calvin (1509–1564) war dafür bekannt, hervorzuheben, dass die Schrift die einzige unfehlbare Richtlinie für den Glauben und seine Anwendung sei und die letzte Instanz, wenn es darum geht, christliche Lehre und Leben zu beurteilen. Aber, um theologischer Einsichten und Klarheit willen, zog er regelmäßig frühere christliche Schriften und kirchliche Autoritäten zu Rate, insbesondere Augustinus.
Calvin, wie auch andere, erkannten, dass es von strategischer Bedeutung war, zwischen ihrer Lehre und den Überzeugungen der frühen Gemeinde eine Kontinuität aufzuzeigen. Eine solche Kontinuität zeigte beispielsweise, dass die Rechtfertigung aus Glauben allein nicht nur von der Schrift gelehrt wird, sondern auch von einigen der bewährtesten Theologen der Kirche, angefangen von Paulus bis zum heutigen Tag. Somit war Calvins übliche Antwort an seine römisch-katholischen Gegner: „Die frühe Kirche steht auf unsrer Seite!“ Aus diesem Grund wurde die Lehre der Reformatoren über die Heilige Schrift oft in dem Satz zusammengefasst: „Sola Scriptura“ (Allein die Schrift), nicht „nuda Scriptura“ (nur die Schrift).
Nicht nur ich und meine Bibel
Unglücklicherweise ist „Sola Scriptura“ in den letzten beiden Jahrhunderten abgeflacht zu „Solo Scriptura*“ –* „nur ich und meine Bibel“. Ähnlich wie bei den Dorfbewohnern von Nampula ist die
„Wenn auch der Ansatz den Anschein von Objektivität haben mag, ist ‚Nur ich und meine Bibel‘ die höchste Form der Subjektivität.“
Wertschätzung für die theologischen Einsichten der Vorväter in den Wirren gigantischer Veränderungen verloren gegangen. Der Drang zur Revolution und das Misstrauen gegenüber Autoritäten ist auch Teil unserer besonderen Ausprägung des Evangelikalismus. „Keine andere Autorität als die Bibel“ hat in unserem Zusammenhang oft bedeutet, dass man traditionelle Interpretationen zugunsten der persönlichen abgelehnt hat.
Vor gut einem Jahrhundert, hat Alexander Campbell (1788–1866), Erweckungsprediger und Gründervater der „Church of Christ“-Bewegung über diese Verlagerung nachgedacht:
„Ich war immer bestrebt, die Schrift so zu lesen, als habe sie niemand vor mir gelesen, und ebenso hüte ich mich davor, sie heute durch die Brille meiner gestrigen Einsichten oder jener von vor einer Woche zu lesen, genauso wie ich dagegen bin, von irgendeinem anderen Namen, einer anderen Autorität oder einem anderen System beeinflusst zu werden.“
Wenn auch der Ansatz Campbells den Anschein von Objektivität haben mag, ist „Nur ich und meine Bibel“ die höchste Form der Subjektivität. Meinungsverschiedenheiten über Lehrfragen enden in einer Sackgasse, weil es niemanden gibt, auf den man sich berufen kann. Die Geschichte von Campbells Erben eignet sich als Fallstudie einer erbitterten Spaltung.
„Nur ich und meine Bibel“ ist auch blauäugig. Niemand ist eine Insel. Ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht, wir bringen unsere eigene Lebenserfahrung und persönliche subjektive Wahrnehmung mit ein, wenn wir die Schrift lesen – selbst wenn es Stimmen aus der Welt sind und keine altbewährten Einsichten von Glaubenshelden. Wir brauchen den Regen der christlichen Vergangenheit, um damit unser Essen zu waschen, damit wir uns nicht unwissentlich vergiften und, tragischerweise, auch andere.
„Denn die Bibel sagt mir dies“
Was vielleicht am erheblichsten ist: „Solo Scriptura“ geht an dem unschätzbaren Reichtum vorüber, den Gott in Form des Leibes Christi in seiner Gemeinde bereitgestellt hat. Es ist verführerisch für Christen, sich lediglich als individuelle Mitglieder der Gemeinde zu betrachten und sich deshalb ausschließlich nur auf die persönlichen geistlichen Übungen wie Bibel-Meditation, Gebet, Fasten und dergleichen zu konzentrieren. Auch wenn die persönliche Spiritualität sehr im Zentrum des christlichen Lebens steht, ist sie doch unvollständig, wenn sie übersieht, was die Zugehörigkeit zum Leib mit sich bringt.
„‚Solo Scriptura‘ geht an dem unschätzbaren Reichtum vorüber, den Gott in Form des Leibes Christi in seiner Gemeinde bereitgestellt hat.“
Die Gemeinde, begründet durch den auferstandenen Christus in Apostelgeschichte 2, ist ein heterogener Leib aus Männern und Frauen, der zusammen den einen wahren Gott anbetet und ihm dient. Er hat diesen Körper so konzipiert, dass alle Gaben, die es für sein Gedeihen braucht, vorhanden sind (1Kor 12,12–28; Epheser 4,9–16). Und in seiner besonderen Weisheit hat er ihn so angelegt, dass jedes Glied das andere braucht (1Kor 12,21). Wir sind von den Gaben, die Gott dem Leib gegeben hat, abhängig – Gaben wie „die Apostel, die Propheten, die Evangelisten, die Hirten und Lehrer“ – „damit wir eine Reife erreichen, deren Maßstab Christus selbst ist in seiner ganzen Fülle“ (Eph 4,11–14 NGÜ). Anders formuliert: Die Schrift lehrt uns, dass „Nur ich und meine Bibel“ nicht biblisch ist.
Wir müssen das Wort Christi voneinander hören – um uns darüber auszutauschen, was es bedeutet und wie man in seinem Licht lebt. Und wir sollten uns davor hüten, nur in Bezug auf die Gegenwart so über die Gemeinde zu denken. Die Bibel lehrt es anders. Hebräer 11 beinhaltet eine längere Ermahnung, von einer großen Schar, die uns vorangegangen ist (Heb 11,1–12,2) zu lernen, mit Ausdauer zu laufen. Die Gemeinde, wie sie in Offenbarung 5 in all ihrer zukünftigen Fülle geschildert wird, ist eine Gemeinschaft, die aus Männern und Frauen besteht, die aus allen Stämmen und Nationen aller Zeiten stammt. Jeder von uns ist nicht nur mit den Mitgliedern einer Ortsgemeinde verbunden oder mit Gläubigen, die sich in einer winzigen Wohnung in China treffen oder in einer Nigerianischen Mega-Gemeinde in London – wir sind auch mit denen verbunden, die sich im 4. Jhd. in Alexandria und Antiochien, Ephesus und Rom versammelt haben.
„Jeder von uns ist nicht nur mit den Mitgliedern einer Ortsgemeinde verbunden – wir sind auch mit denen verbunden, die sich im 4. Jhd. in Alexandria und Antiochien, Ephesus und Rom versammelt haben.“
Auch wenn wir nicht von den Zeugnissen und Einsichten der Christen profitieren können, die noch nicht gelebt haben, wären wir töricht, wenn wir keine Notiz von denen nehmen würden, die uns vorangegangen sind. Bernard of Chartres (†ca. 1124) sagte bekanntermaßen, dass wir auf den Schultern von Riesen sitzen – oder anders ausgedrückt: Der Leib profitiert von den exegetischen Einsichten, der lehrmäßigen Klarheit und der pastoralen Weisheit der Zeugen, die vor uns da waren. Es wäre dumm und es wäre Gift nur mir und meiner Bibel überlassen zu sein.