Semper Reformanda: Beständiger Missbrauch

Artikel von Scott Clark
29. Oktober 2020 — 8 Min Lesedauer

Die Kirchen der Reformation besitzen einige wunderbare Leitsätze, die prall gefüllt sind mit wichtigen Wahrheiten. Manchmal werden diese Sätze jedoch falsch ausgelegt, falsch dargestellt und falsch verstanden. Kein Leitsatz, vielleicht mit Ausnahme von sola Scriptura (allein die Schrift), wurde öfter verdreht als „ecclesia reformata, semper reformanda“ (die reformierte Kirche muss beständig reformiert werden). Oft mit negativen Konsequenzen.

Die Wurzeln von semper reformanda

Vieles von dem, was wir über semper reformanda zu wissen meinen, ist laut dem Historiker Michael Bush wahrscheinlich falsch. Die Phrase stammt nicht aus dem 16. Jahrhundert. Ich habe hunderte von Dokumenten in verschiedenen Sprachen aus dem 16. und 17. Jahrhundert durchsucht, aber die Phrase ecclesia reformata, semper reformanda taucht darin nicht auf. Auch nicht die Phrase semper reformanda. Gewiss haben reformierte Autoren von der „reformierten Kirche“ und von der Notwendigkeit für Reformation gesprochen. Aber Männer wie Calvin, der 1543 eine Abhandlung über die Notwendigkeit der Reformation veröffentlichte, haben diese Phrase nicht verwendet. Der niederländische reformierte Pfarrer Jodocus van Lodenstein (1620-1677) gebrauchte erstmals etwas ähnliches im Jahr 1674, als er die „reformierte Kirche“ in Zusammenhang mit „muss reformiert werden“ brachte; aber er erwähnte nichts von „beständig“.

„Vieles von dem, was wir über semper reformanda zu wissen meinen, ist wahrscheinlich falsch.“
 

Der niederländische, reformierte Theologe Jacobus Koelman (1632–1695) drückte ähnliche Vorstellungen aus und schrieb sie seinem Lehrer Johannes Hoornbeek (1617-1666) zu, der wiederum ein Schüler des großen Gijsbertus Voetius (1589-1676) war. Doch keiner von ihnen fügte die Phrase secundum verbum Dei (nach dem Wort Gottes) hinzu. Diese Phrase stammt mit ziemlicher Sicherheit von Edward Dowey (1918-2003), der im 20. Jahrhundert am Princeton Theological Seminary unterrichtete.

Van Lodenstein und andere waren Teil einer Denkrichtung in den Niederlanden, die eng mit der englischen reformierten Theologie, Frömmigkeit und Praxis verbunden war, die von Autoren wie William Perkins (1558–1602) und William Ames (1576–1633) ausging. Sie identifizierten sich selbst als Teil einer „weiteren Reformation“ (Nadere Reformatie). Wie Perkins, Ames, die Theologen des Westminster Assembly (1643-1648) in Großbritannien und die große internationale Synode von Dordrecht (1618–1619) war die Anhänger dieser Denkrichtung darum besorgt, dass die Kirche nicht zurück in Irrtum und Finsternis falle. Sie wollten, dass die Kirche weiterhin nach der Reinheit der Lehre, Frömmigkeit und Anbetung strebe.

Vom reformierten Bekenntnis weg reformieren?

Der vollständige Satz ecclesia reformata, semper reformanda secundum verbum Dei (die reformierte Kirche muss beständig nach dem Wort Gottes reformiert werden) ist erst nach dem 2. Weltkrieg entstanden. Sie erhielt neuen Auftrieb durch den modernen Schweizer Theologen Karl Barth (1886–1968), der die Phrase in verschiedenen Varianten häufig gebrauchte. Liberale presbyterianische Denominationen haben manchmal Variationen davon in offiziellen Verlautbarungen gebraucht.

„Ironischerweise hat sich die reformierte Kirche durch das moderne (Miss-)Verständnis des Satzes von der reformierten Ansicht weg bewegt.“
 

Häufig wird der Satz folgendermaßen interpretiert: „Die Kirche ist reformiert, aber sie muss sich auf verschiedene Weise verändern“. Diese Aussage wird beschworen, um Unzufriedenheit mit der reformierten Theologie auszudrücken, wie sie von den reformierten Kirchen in ihren Bekenntnissen (zum Beispiel im Niederländische Glaubensbekenntnis von 1561; im Heidelberger Katechismus von 1563; im Westminster Bekenntnis von 1648) ausgedrückt wird. Auf diese Weise lehnte z.B. die United Presbyterian Church in den USA im Jahr 1967 das historisch betrachtet christliche und reformierte Verständnis ab, dass die Schrift das irrtumslose (sie irrt nicht) und unfehlbare (sie kann nicht irren) geschriebene Wort Gottes ist. Ironischerweise hat sich die reformierte Kirche durch das moderne (Miss-)Verständnis des Satzes „die reformierte Kirche muss beständig reformiert werden“ von der reformierten Ansicht weg bewegt. Sie hat eine Ansicht übernommen, die von dem anabaptistischen Radikalen Thomas Müntzer (1489–1525) vertreten wurde und die die Reformatoren ablehnten.

Eine große, aber endliche Aufgabe

Calvin und die anderen Reformatoren gebrauchten das Adjektiv reformiert nicht in dem Sinne, dass das Ziel niemals erreicht werden kann. Am Ende seines Lebens merkte Calvin gegenüber anderen Pastoren in Genf an, dass die Dinge ziemlich gut eingerichtet sind und er ermahnte sie, diese nicht zu zerstören. Er und andere dachten und redeten über die Reformation der Kirche nicht als ein Ziel, das in diesem Leben niemals erreicht werden kann. Für sie war es entweder schon erreicht oder konnte erreicht werden, weil sie glaubten, dass das Wort Gottes ausreichend klar ist. Das heißt, man kann erkennen, was für das Leben der Kirche notwendig ist. Und mit der Hilfe des Heiligen Geistes und durch die Gnade Gottes allein können Veränderungen gemacht werden (und sie wurden gemacht), um Lehre, Frömmigkeit und Praxis der Kirche in Einklang mit dem Willen Gottes zu bringen, der in der Heiligen Schrift offenbart ist. Deshalb verfassten sie Kirchenordnungen und Glaubensbekenntnisse. Sie waren davon überzeugt, dass Reformation eine große, aber endliche Aufgabe ist.

„ Anders als viele, die semper reformanda heutzutage beschwören, erachteten die Reformatoren Reformen nicht als eine Rechtfertigung für alle möglichen Veränderungen.“
 

Sie waren nicht der Meinung, dass die Theologie, Frömmigkeit und Praxis der Kirche, die durch die Heilige Schrift reformiert wird, so mangelhaft ist, dass sie durch andere Traditionen vervollständigt werden müsste. Anders als viele, die semper reformanda heutzutage beschwören, erachteten die Reformatoren Reformen nicht als eine Rechtfertigung für alle möglichen Veränderungen, wo ein bisschen hiervon, ein bisschen davon zu einem kirchlich-theologischen Einheitsbrei vermischt wird. Sie hatten aber auch kein enges Verständnis. Sie waren katholisch (universell) in ihrer Theologie, Frömmigkeit und Praxis. Sie strebten danach, die Kirche nach der Heiligen Schrift zu reformieren. Dabei achteten sie auch darauf, wie die Kirchenväter die Schrift gelesen und angewendet haben. Wo diese Interpretationen der Untersuchung standhielten (sola Scriptura), wurden sie übernommen oder wiederhergestellt.

Ein aktuelles Beispiel

Einer der schädlicheren Missbräuche von semper reformanda in letzter Zeit ist (in den USA, Anm.d.Ü.) die Betonung durch die Anhänger der sogenannten Federal Vision Bewegung. Das Adjektiv federal hat in diesem Kontext nichts mit Politik zu tun, sondern bezieht sich stattdessen auf die reformierte Bundestheologie. Die Vertreter der Federal Vision haben ihrer Bewegung diesen Namen entweder gegeben, um zu unterstreichen, die reformierte Theologie verändern zu wollen oder weil sie eine frühere Variante davon wiederherstellen wollen (je nach dem, wen man fragt). Man ist sich jedoch einig, dass jede getaufte Person nur eine temporäre, bedingte Erwählung, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Einheit mit Christus, Adoption, usw. erhält. Nach der Taufe liegt es an einem selbst, seinen Anteil zu leisten, um zu bewahren, was ihm durch Gnade gegeben wurde. Sie sprechen von der „Objektivität des Bundes“. Sie akzeptieren typischerweise die reformierte Unterscheidung zwischen dem Bund der Werke und der Gnade, zwischen Gesetz und Gnade oder zwischen Gesetz und Evangelium nicht. Sie lehnen die reformierte Lehre ab, dass es in der sichtbaren Bundesgemeinschaft (der Kirche) zwei Arten der Gemeinschaft gibt: die innerliche und äußerliche. Für die Federal Vision Bewegung ist niemand vollkommen wiedergeboren, erwählt oder abschließend gerechtfertigt. Sie definieren das historische Verständnis von Rechtfertigung aus Gnade allein (sola gratia) und durch Glauben allein (sola fide) neu und verspotten es als „billige Gnade“. Wie die Modernisten (von der liberalen Theologie beeinflusste Richtung in den USA, Anm.d.Ü.), die uns zur anabaptistischen Lehre der Schrift zurückführen wollen, versuchen die Vertreter der Federal Vision Bewegung, uns zur mittelalterlichen Lehre der Errettung zurückzuführen. Und sie tun das, indem sie sich auf den Leitspruch ecclesia reformata, semper reformanda berufen.

semper reformanda als notwendige Erinnerung

Als Calvin und die anderen Reformatoren im 16. und 17. Jahrhundert über die reformierte Kirche und über die Notwendigkeit schrieben, die Kirche zu reformieren, brachten sie zum Ausdruck, dass die Kirche aufgrund der Sünde und ihrer Auswirkungen zum Verfall neigt. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten nach der Wiederentdeckung des Evangeliums – der freien Annahme bei Gott durch den Glauben allein –, hatten die Protestanten diese kostbare Lehre in den 1550ern fast verloren. Die Reformation ist in diesem Leben erreicht worden, aber sie ist nicht so leicht zu bewahren. Bis zum späten 17. Jahrhundert genoss die Kirche in Genf den Dienst einiger der mutigsten Pfarrer und Professoren der Reformation: Guillaume Farel, Johannes Calvin, Pierre Viret, Théodore de Bèze und François Turrettini (um nur einige zu nennen). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war die Reformation in Genf jedoch fast ausgestorben. Sie ist bis heute nicht wieder hergestellt.

„Wir sollten uns nicht um eine beständige, niemals endende Reformation bemühen, die uns vom Kern dessen wegführt, was wir bekennen.“
 

Es steckt viel Wahrheit in dem Satz die reformierte Kirche muss beständig reformiert werden. Aber er war nie als Vorwand gedacht, um den reformierten Glauben zu verdrehen. Wir sollten ihn als Erinnerung verstehen. Wir sollten ihn wegen unserer Neigung verwenden, von der Theologie, Frömmigkeit und Praxis, die die Heilige Schrift lehrt und die die Kirche bekennt, abzuschweifen. Gewiss sind unsere Glaubensbekenntnisse veränderbar. Protestanten sind an das Wort Gottes als Charta und Grundregel des christlichen Glaubens und der christlichen Praxis gebunden. Sollte jemand einen Fehler in unserer Theologie, Frömmigkeit oder Praxis entdecken, sind wir durch unsere eigenen Glaubensbekenntnisse und Kirchenordnungen gebunden, auf das Argument aus dem Wort Gottes zu hören. Sollte das Argument überzeugend sein, müssen wir unser Verständnis oder unsere Praxis ändern. Aber wir sollten uns nicht unter dem Vorwand dieses Leitsatzes aus dem späten 17. Jahrhundert von der Lehre der Bibel abwenden. Wir sollten uns nicht um eine beständige, niemals endende Reformation bemühen, die uns vom Kern dessen wegführt, was wir bekennen.