Das Geheimnis der Vorsehung
Dieser Artikel enthält einen Auszug aus dem Buch Ach, Herr, wie lange noch? von D.A. Carson. Über das vorliegende Kapitel 11 „Das Geheimnis der Vorsehung“ urteilt Carson im Vorwort, dass die skizzierten biblischen Wahrheiten einen ungemein wichtigen Beitrag zur Stabilisierung unseres Glaubens leisten können (vgl. S. 8). Die deutsche Übersetzung wurde freundlicherweise von Esras.net zur Verfügung gestellt. Das Buch ist auf deutsch leider vergriffen, kann aber hier in englischer Sprache erworben werden.
Ein junges Mädchen wurde gefragt, warum morgens die Sonne aufgehe. Es erwiderte mit spöttischer Herablassung: „Weil die Nacht vorbei ist, natürlich!“ Auf einer bestimmten Ebene ist diese Antwort angebracht, auf vielen anderen Ebenen nicht. So wäre schon der Gedanke, dass die Sonne „aufgeht“, in einem Lehrbuch der Astronomie verfehlt. Dennoch ist die Vorstellung von einer „aufgehenden“ Sonne auf einer bestimmten Ebene ausreichend. Denken wir zum Beispiel an Zeitungen, die den Zeitpunkt des „Sonnenaufgangs“ so bedenkenlos ankündigen, als hätte es Kopernikus oder Galilei nie gegeben. Will jemand wissen, um wieviel Uhr die Sonne „aufgeht“, dann braucht er kaum Informationen über die Erdrotation, über die Beziehung zwischen Zeit und Lichtgeschwindigkeit oder über den gekrümmten Raum.
Das gilt fast auf jedem Wissensgebiet. Gewisse Antworten und Anschauungen sind für bestimmte Zwecke ausreichend, für andere dagegen absolut unzulänglich. Werden sie Zeuge einer furchtbaren Tragödie, denken manche Christen sofort daran, dass sie in einer gefallenen Welt leben, oder sie erinnern sich an die Worte Jesu aus dem Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen: „Das hat der Feind getan.“ An sich haben sie mit dieser Reaktion auch recht. Es ist in den meisten Fällen nicht nötig, der Sache weiter auf den Grund zu gehen. Müsste sich der Christ aber mit einem zynischen Experten auf dem Gebiet etwa der Ethik auseinandersetzen, dann wäre er vermutlich gezwungen, mögliche Lösungen auf einer anderen Ebene zu durchdenken. Damit wären wir wieder bei dem „erkenntnistheoretischen Dilemma“ [...].
Wenn Gott allmächtig, allwissend und gut ist – woher kommt dann das Übel? Wie sollen wir uns das Übel überhaupt denken, ohne dass wir dabei die Güte Gottes oder seine Fähigkeit, die Dinge zu verändern, in Zweifel ziehen?
Christen befinden sich diesbezüglich in einer Zwickmühle. Begeben sie sich auf die Suche nach einer Erklärung für die scheinbare Unvereinbarkeit der Existenz Gottes mit der Existenz des Übels, dann hat es den Anschein, als haben sie die Weisheit Gottes. Geben sie sich andererseits mit der Erkenntnis zufrieden, dass wir es hier mit einem Geheimnis zu tun haben, dann setzen sie sich dem Vorwurf aus, naiv und leichtgläubig zu sein oder sogar widersprüchlichen Unsinn zu glauben. Es gibt wirklich keinen Ausweg aus diesem Dilemma, darum müssen wir uns damit abfinden, uns – „irgendwie durchzuwursteln“. Einige Lösungen mögen zwar besser sein als andere, endgültige Lösungen gibt es jedoch nicht. Darum begeben wir uns auf die Suche nach den bestmöglichen Lösungen, bekennen aber zugleich, dass das ganze Thema in Geheimnis gehüllt ist.
So Richard Vieth – und er hat damit recht. Der Versuch, das Geheimnis zu durchdringen, kann nicht schaden. Wie Vieth sagt: Einige Lösungen sind besser als andere. Nur bringen es sämtliche mir bekannten „Lösungen“ mit sich, dass mindestens eine der in der Bibel deutlich ausgesprochenen Wahrheiten auf der Strecke bleibt. Wollen wir dieser Gefahr entgehen, dann müssen wir zunächst versuchen festzustellen, worin genau das Geheimnis liegt. Wenn uns dies nicht gelingt, werden wir zu falschen Ergebnissen kommen. Können wir gewisse biblische „Grundaussagen“ ausmachen, dann ist jede These falsch, bei der diese „Grundaussagen“ bewusst oder unbewusst preisgegeben werden.
Die im vorliegenden Kapitel zu erörternden Fragen sind dermaßen verzwickt und umstritten, dass auch bei gläubigen Christen die Meinungen häufig auseinandergehen. Ich rate Ihnen deshalb, die biblischen „Grundaussagen“ sorgfältig von den Argumenten zu unterscheiden, durch die sie oftmals „gefiltert“ werden.
„Ich rate Ihnen deshalb, die biblischen ‚Grundaussagen‘ sorgfältig von den Argumenten zu unterscheiden, durch die sie oftmals ‚gefiltert‘ werden.“
Auch wenn der in diesem wie im nächsten Kapitel bevorzugte Zugang zur Leidensproblematik Ihren gegenwärtigen Bedürfnissen nicht gerecht zu werden scheint, so bin ich dennoch zutiefst davon überzeugt, dass die hier gefundene Erkenntnis von weitaus mehr Christen beherzigt werden müsste, bevor sie von Leid oder Not heimgesucht werden.
Es ist gewiss hilfreich, wenn ich gleich zu Anfang eine kleine „Landkarte“ des Terrains biete, das wir in diesem [...] Kapitel erkunden wollen. Im vorliegenden Kapitel werde ich versuchen, dem Wesen des Geheimnisses auf die Spur zu kommen, und zwar meistens auf induktivem Wege, indem ich mehrere Bibelstellen untersuche. Danach werde ich einige unbefriedigende Zugänge zum Geheimnis der Vorsehung skizzieren und verschiedene Gründe nennen, warum es sich in der Tat um ein Geheimnis handelt und nicht etwa um einen Widerspruch oder um blanken Unsinn. [...]
Zunächst aber wird es nützlich sein, einen wichtigen Begriff einzuführen.
Die Vereinbarkeitsthese: eine Definition
Sowohl die Bibel in ihrem Zusammenhang als auch gewisse Schriftabschnitte lehren entweder ausdrücklich oder setzen stillschweigend voraus, dass folgende beide Aussagen wahr sind:
- Der allmächtige Gott waltet souverän und frei, doch wirkt sich seine Herrschaft niemals so aus, dass dabei die Verantwortung des Menschen beschnitten, minimiert oder gänzlich aufgehoben würde.
- Menschen sind moralisch verantwortliche Wesen – sie treffen sinnvolle Entscheidungen, rebellieren, gehorchen, glauben, widersetzen sich usw. und werden zu Recht für diese Handlungsweisen verantwortlich gemacht: Dies wirkt sich jedoch nie so aus, dass Gott dadurch eingeschränkt würde.
Im folgenden vertrete ich die Ansicht, dass die Bibel die Wahrheit beider Aussagen stützt. Die Ansicht, dass beide Aussagen zugleich wahr sind, bezeichne ich als die Vereinbarkeitsthese. Wir könnten zwar andere Bezeichnungen wählen, doch scheint mir diese aus geschichtlichen Gründen besonders geeignet zu sein. Mit ihr will ich allerdings nur unterstreichen, dass die Bibel meines Erachtens beide Positionen lehrt und als miteinander vereinbar darstellt.
Ich möchte gleich hinzufügen, dass ich damit den biblischen Texten kein philosophisches Raster überstülpe. Meine Ansicht, beide Aussagen seien wahr, beruht, wie noch deutlich werden soll, auf einem Studium vieler Passagen der Bibel. Wenn ich aber dieses Kapitel mit der Vereinbarkeitsthese statt mit dem induktiven Bibelstudium selbst beginne, dann deshalb, weil ich zunächst die Ergebnisse nennen möchte, ehe ich das sie stützende Belegmaterial anführe. Bei dem umfassenden Studium, auf dem der erste Teil des vorliegenden Kapitels gründet , begann ich allerdings umgekehrt und führte den Begriff „Vereinbarkeitsthese“ erst ein, als sich genug Belegmaterial angesammelt hatte, um die These zu rechtfertigen.
Ich bin also der Ansicht, dass nach Darstellung der Bibel beide Aussagen wahr sind; die Bibel lehrt entweder ausdrücklich die Vereinbarkeitsthese oder setzt sie stillschweigend voraus. Damit können wir uns den biblischen Belegstellen zuwenden.
Die Schrift setzt die Vereinbarkeitsthese entweder stillschweigend voraus oder lehrt sie ausdrücklich
Die biblischen Belegstellen
Beginnen wir mit dem ersten Teil der ersten Aussage: Der allmächtige Gott waltet souverän und frei. Dass dies stimmt, wird in der Bibel häufig hervorgehoben – so häufig, dass es eines umfangreichen Buches bedürfte, um alle entsprechenden Stellen darzulegen. „Warum sagen die Völker: ,Wo ist denn ihr Gott?‘ Unser Gott ist im Himmel; er handelt nach Belieben“ (Ps 115,2f.). „Alles, was dem Herrn gefällt, das vollbringt er im Himmel und auf der Erde, in den Meeren und in allen Tiefen“ (Ps 135,6). Gott wird sogar als der vorgestellt, „der alle Dinge wirkt nach dem Rat seines Willens“ (Eph 1,11; rev. Lutherübers.). Er verordnet nicht nur „Zeiten“ und „Grenzen“ (Apg 17,26), sondern übt seine Weltregierung in der Weise aus, dass sogar die alltäglichsten natürlichen Prozesse auf sein Eingreifen zurückgeführt werden. Finden die Vögel Nahrung, dann deshalb, weil der Vater sie ernährt (Mt 6,26); zieren wildwachsende Blumen die Wiese, dann deshalb, weil Gott „das Gras kleidet“ (Mt 6,30). Der Prediger Salomo kennt zwar den Kreislauf des Wassers, dennoch sprechen die biblischen Autoren lieber davon, dass Gott den Regen schickt, als dass sie sagen: „Es regnet.“ Gott ist der, der auftut und zuschließt, der tötet und lebendig macht, der Könige auf den Thron erhebt und sie auch absetzt. Er ruft die Sterne bei ihrem Namen und weiß, wie viele Haare wir auf unserem Haupt haben.
„Die Weltregierung Gottes ist dermaßen umfassend, dass es – aus biblischer Perspektive kaum verwundert, wenn beispielsweise ein Familienunglück mit dem Willen Gottes in Verbindung gebracht wird.“
Die Weltregierung Gottes ist dermaßen umfassend, dass es – aus biblischer Perspektive kaum verwundert, wenn beispielsweise ein unbeabsichtigter Totschlag (2Mo 21,13) oder ein Familienunglück (Ruth 1,13.20) mit dem Willen Gottes in Verbindung gebracht wird. Der Wille des Menschen ist ebensowenig von seiner Herrschaft ausgenommen: „Des Königs Herz [das Zentrum der menschlichen Persönlichkeit und der Sitz des Willens] ist in der Hand des Herrn; er lenkt es wie einen Wasserbach, wohin er will“ (Spr 21,1). Das gilt nicht nur für Könige: „Der Mensch plant seinen Weg, doch lenkt der Herr seine Schritte“ (Spr 16,9). „Ich weiß, Herr, dass das Leben eines Menschen nicht in seiner eigenen Gewalt steht; es liegt in niemandes Macht, die eigenen Schritte zu lenken“ (Jer 10,23). Es war Gott selbst, der das Herz der Ägypter „verwandelte“, „so dass sie sein Volk hassten und sich gegen seine Knechte verschworen“ (Ps 105,25).
Auch bei der Zerstörung einer Stadt durch feindliche Truppen ist sich Amos der Oberherrschaft Gottes so sicher, dass er sich über die Dummheit derer mokiert, die sie nicht anerkennen und nicht daraus lernen wollen (Amos 3,6). „Ich bin der Herr, und sonst keiner. Ich erschaffe das Licht und mache das Dunkel; ich bewirke, dass es Menschen gutgeht, und ich führe Unheil herbei. Ich, der Herr, vollbringe das alles“ (Jes 45,6f.). Zweifellos „plagt und betrübt [Gott] die Menschen nicht freudigen Herzens“ (Klg 3,33). Dennoch gilt: „Wer kann sprechen und solches geschehen lassen, ohne dass der Herr es beschlossen hat? Geht nicht sowohl Böses als Gutes aus dem Mund des Allerhöchsten hervor?“ (Klg 3,37f.). Gott verstockt, wen er will (Röm 9,18). Dass Simei den Gesalbten des Herrn verfluchte, war ein Ausdruck seiner Gottlosigkeit, dennoch erkennt David hinter Simei den Gott, der ihm „geboten“ hatte, so zu reden (2Sam 16,10). Gott selbst beauftragt den Lügengeist, der die Propheten des Ahab in die Irre führt (1Kö 22,21ff.); Gott selbst steht hinter der Weigerung der Söhne Elis, auf die mahnende Stimme ihres Vaters zu hören, „denn es war der Wille des Herrn, sie umbringen zu lassen“ (1Sam 2,25); Gott selbst schickt gottlosen Menschen „kräftige Irrtümer“, damit sie der Lüge glauben (2Thess 2,11); in seinem Zorn treibt Gott selbst David zu einer Volkszählung an (2Sam 24,1).
An diesen Bibelstellen – und es gibt sie in sehr großer Anzahl – fällt auf, dass der menschliche Handelnde an keiner Stelle seiner Verantwortung
„Der bemerkenswerte Nachdruck, der auf die uneingeschränkte Weltregierung Gottes gelegt wird, dient nirgendwo dazu, die Verantwortung der Menschen abzuschwächen.“
enthoben wird, nur weil Gott auf die eine oder andere Weise hinter seiner Handlung steht. Wir werden uns gleich anschließend mit mehreren Stellen ausführlicher befassen, doch kann man bereits an den angeführten Passagen nachweisen, dass dies stimmt. So reizt Gott in seinem Zorn David dazu an, eine Volkszählung durchzuführen, doch wird David für seine Handlungsweise voll und ganz verantwortlich gemacht. Die Söhne Elis werden als gottlos bezeichnet; von den Menschen, denen Gott kräftige Irrtümer schickt, heißt es, sie hätten „sich geweigert, die Wahrheit zu lieben und sich retten zu lassen“ (2Thess 2,10). Der bemerkenswerte Nachdruck, der auf die uneingeschränkte Weltregierung Gottes gelegt wird, dient nirgendwo dazu, die Verantwortung der Menschen abzuschwächen; wie alles andere im Universum sind auch die Menschen der Herrschaft Gottes unterworfen.
Der zweite Teil meiner Definition der Vereinbarkeitsthese lässt sich ebenso eindrücklich belegen „Fürchtet also jetzt den Herrn, und dient ihm in aller Treue ... Erscheint es euch jedoch nicht wünschenswert, dem Herrn zu dienen, so entscheidet euch heute, wem ihr dienen wollt ... Ich aber und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen“ (Jos 24,14f.). Dies ist nur eine der unzähligen Bibelstellen, in denen Menschen zum Gehorsam, zum Handeln oder zu einem festen Entschluss aufgefordert werden. Den Zehn Geboten kann man Gehorsam oder Ungehorsam entgegenbringen. Der neutestamentliche Ruf zur Bekehrung setzt die Verantwortlichkeit des Menschen voraus: „wenn du mit deinem Mund bekennst: ‚Jesus ist der Herr‘ und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet werden ... Denn die Schrift sagt: ‚Wer auf ihn vertraut, wird niemals zuschanden werden‘“ (Röm 10,9.11). Menschen werden von Gott geprüft, weil er wissen möchte, was in ihrem Herzen vorgeht (1Mo 22,12; 2Mo 16,4; 2Chr 32,31). Menschliche Verantwortung kann sogar infolge der Gnadenwahl Gottes entstehen (2Mo 19,4–6; 5Mo 4,5–8; 6,6ff.; Hos 13,4; Micha 3,1–12). Gott bittet die Menschen auf rührende Weise, Buße zu tun, und findet keinen Gefallen am Tod des Gottlosen (Jes 30,18; 65,2; Klg 3,31–36; Hes 18,30–32; Hos 11,7ff.).
Dennoch dienen solche Aussagen niemals dazu, Gottes Allmacht zu begrenzen: Weder Gottes Wesen noch seine Entscheidungen hängen im absoluten Sinn von den Entscheidungen oder Taten der Menschen ab.
Wir müssen an dieser Stelle vorsichtig sein. Ich sage nicht, dass die Schrift jegliche Beschränkung Gottes bestreitet. Er spricht mit Menschen und geht auf sie ein; mehrmals wird von ihm ausgesagt, er habe seine Entscheidungen „sich gereuen lassen“, das heißt, er habe einen Sinneswandel vollzogen oder sich im Hinblick auf seine erklärten Absichten erweichen lassen. Ich werde im weiteren Verlauf des vorliegenden Kapitels auf diese Stellen zurückkommen. Doch in keinem einzigen Fall wirkt sich die menschliche Verantwortung so aus, dass Gott dadurch absolut eingeschränkt würde. Gott wird niemals matt gesetzt, seine Pläne werden niemals vereitelt oder durchkreuzt; es kommt kein einziges Mal vor, dass Gott das, was er sich vorgenommen hat, nicht durchzuführen vermag. Wäre Gott derartigen Begrenzungen unterworfen, dann träfe die erste unserer beiden Aussagen nicht zu. Das Erstaunliche an der Bibel ist aber, dass sie die Vereinbarkeitsthese vertritt: Sie lehrt oder setzt stillschweigend voraus, dass beide Aussagen wahr sind.
„Gott wird niemals matt gesetzt, seine Pläne werden niemals vereitelt oder durchkreuzt; es kommt kein einziges Mal vor, dass Gott das, was er sich vorgenommen hat, nicht durchzuführen vermag.“
Ehe wir dazu typische Stellen betrachten, muss ein weiterer biblischer Schwerpunkt herausgestellt werden. Dieser ist zwar von den beiden Aussagen zu unterscheiden, die unsere Definition der Vereinbarkeitsthese ausmachen, dennoch steht er mit dem Thema des vorliegenden Buches in direktem Zusammenhang: Trotz allem, was die Bibel über die Reichweite der Weltregierung Gottes zu sagen hat, pocht sie immer neu auf die uneingeschränkte Güte Gottes. Gott wird nirgendwo als ein Komplize des Bösen oder gar als heimtückisch hingestellt: Es wird nirgendwo angedeutet, dass er in gleicher Weise für das Übel verantwortlich sei wie für das Gute. Wir werden uns noch mit dem Problem zu befassen haben, wie sich das zusammenreimt. Über die Tatsachen indes besteht nicht der geringste Zweifel. „Er ist der Fels, seine Werke sind vollkommen, und alle seine Wege sind gerecht. Er ist ein treuer Gott, der kein Unrecht tut; wahrhaftig und gerecht ist er“ (5Mo 32,4). „Gott ist Licht, und in ihm ist keinerlei Finsternis“ (1Joh 1,5). Der Prophet Habakuk sagt einmal zu Gott: „Deine Augen sind zu rein, als dass du Böses mitansehen könntest; du kannst das Unrecht nicht dulden“ (Hab 1,13); und weil dem so ist, fällt es Habakuk außerordentlich schwer zu verstehen, wie Gott zulassen kann, dass die Chaldäer so schrecklich gegen das Bundesvolk wüten. Merken wir uns also: Die Güte Gottes wird überall vorausgesetzt und ist nicht anzuzweifeln. Im Himmel erschallt das Lied: „Groß und wunderbar sind deine Taten, Herr, allmächtiger Gott. Gerecht und wahr sind deine Wege, du König der Zeitalter. Wer wird dich nicht fürchten, o Herr, und deinen Namen verherrlichen? Denn du allein bist heilig“ (Offb 15,3f.).
„Gott wird nirgendwo als ein Komplize des Bösen oder gar als heimtückisch hingestellt: Es wird nirgendwo angedeutet, dass er in gleicher Weise für das Übel verantwortlich sei wie für das Gute.“
Bei der folgenden Betrachtung einiger ausgewählter Bibelstellen handelt es sich keineswegs um eine ausführliche Auslegung. Mein Ziel ist bescheidener. Ich möchte lediglich aufzeigen, dass die Vereinbarkeitsthese bestimmten Texten als Voraussetzung zugrunde liegt bzw. dass sie in diesen Texten ausdrücklich gelehrt wird. Bei den hier besprochenen Bibelstellen handelt es sich nur um eine kleine, aber repräsentative Auswahl.
1. Mose 50,19f.
Die Söhne Jakobs erzählten Joseph nach dem Tod ihres Vaters eine erfundene Geschichte, da sie befürchteten, er wolle sich an ihnen rächen. Schließlich hatten sie ihn als Sklaven verkauft. Und nun hatte er sie als oberster Minister Ägyptens ganz in seiner Gewalt. Wie würde er vorgehen?
Joseph nimmt ihnen die Furcht und beteuert, sich selbst nicht an die Stelle Gottes setzen zu wollen. Dann bemerkt er im Rückblick auf die brutale Behandlung, die sie ihm hatten angedeihen lassen: „Ihr hattet vor, mir Schaden zuzufügen, aber Gott hatte dabei Gutes vor, um das zu erreichen, was heute geschieht, nämlich vielen Menschen das Leben zu retten.“
Ein wirklich beachtenswerter Parallelismus! Joseph sagt nicht, dass die Brüder ihn aus lauter Bosheit als Sklaven verkauft hätten und dass Gott das Ganze nach begangener Tat zum Guten gewendet habe, damit die Geschichte ein gutes Ende bekäme. Wie hätte das der Fall sein können, wo doch Gott „sich vorgenommen hatte“ (Einheitsübers.: „im Sinn hatte“), viele Menschenleben zu retten? Die Geschichte lässt sich nicht so einfach deuten. Die Brüder ergriffen aus böser Absicht die Initiative, und es wird nirgends angedeutet, dass Joseph die Reise nach Ägypten ohne ihre Bosheit angetreten hätte.
Joseph erklärt aber: Gott habe in seiner Vorsehung bewirkt, dass er nach Ägypten verkauft worden sei, seine Brüder aber treffe deshalb nicht weniger Schuld (denn sie hatten ja vor, ihm Schaden zuzufügen). Die Brüder sind für ihre Handlungsweise verantwortlich gewesen. Obwohl sie aus Boshaftigkeit handelten, habe Gott aber damit gute Ziele verfolgt.
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Das ganze Kapitel steht hier zum Download zur Verfügung.