Was ist denn, bitteschön, reformatorische Theologie?
Teil 1
Dieser Artikel ist Teil der Artikelreihe „Was ist denn, bitteschön, reformatorische Theologie?“, in der Hanniel Strebel in Kürze die wichtigsten Themenfelder der Dogmatik aus reformatorischer Perspektive beleuchtet.
Direktes Zuspiel
Ich liebe es, wenn mir Menschen direkte Fragen stellen. Zugegeben, die schwierigsten Fragen kommen von meinen fünf Söhnen. Sie stellen sie auch in unerwarteten und ungeschützten Momenten. Es kann sein, dass ich die Antwort vertage, weil ich darüber nachdenken muss. Die Antwort, die ich hier formuliere, habe ich nicht irgendwelchen Büchern entnommen. Sie bildet das ab, was ich dazu im Kopf habe, also sozusagen den „Stand des Irrtums“. Ich bin mir bewusst, dass ich nicht der erste bin, der sich an der Frage nach „reformatorischer Theologie“ versucht.
Warum „reformatorisch“ und nicht „reformiert“?
Wenn ich als Deutschschweizer den Begriff „reformiert“ in den Mund nehme, verbindet ein uneingeweihter Dritter damit die Reformierte Landeskirche. In der Schweiz sind diese kantonal aufgestellt. Ich meine mit dem Begriff jedoch nicht in erster Linie ein organisatorisches Gebilde, sondern die theologische Substanz dieser Institution. Wenn ich diese in Kurzform wiederzugeben hätte, würde ich sie mit „getarntem Säkularismus“ betiteln. Das gelebte Bekenntnis entspricht dabei weitgehend den Grundüberzeugungen des in Denken und Handeln von Gott entwöhnten Westeuropäers.
„Die Reformatoren verstanden sich also nicht als Gründer einer neuen Kirche, sondern als Rückkehrer zur allgemeinen christlichen Kirche der altkirchlichen Bekenntnisse.“
Mit „reformatorisch“ bezeichne ich eine auf die Reformatoren aus dem 16. Jahrhundert zurückgehende Erneuerungsbewegung. Es handelt sich demnach nicht um eine ursprüngliche oder neue Bewegung. Der Treiber dieser Bewegung ist die Rückkehr – aber Rückkehr zu was? Es handelt sich um die Rückkehr zu den von den Kirchenvätern der ersten Jahrhunderte formulierten Grundwahrheiten, die ihrerseits direkt zum Wort Gottes des Alten und Neuen Testaments zurückwiesen. Die Reformatoren verstanden sich also nicht als Gründer einer neuen Kirche, sondern als Rückkehrer zur allgemeinen christlichen Kirche der altkirchlichen Bekenntnisse.
Über die Kirchenväter zum Neuen Testament
Ein typischer Vertreter dieses Ansatzes war der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger. Er löste Ulrich Zwingli nach seinem Tod als Vorsteher (Antistes) der Zürcher Kirche ab und wirkte von 1531 bis zu seinem Tod 1575 aktiv als Pfarrer, Schriftsteller und Kirchenpolitiker.
„Bullinger ist in konsequenter, kurz entschlossener und überzeugter Hinwendung zu den Quellen des christlichen Glaubens, über die Kirchenväter und die Heilige Schrift, zum Reformator geworden.“
Bullinger hat um 1520 während seines Studiums an der Universität zu Köln durch Luther zu den Kirchenvätern und von dort zur Quelle des Neuen Testaments gefunden. Fritz Büsser, Kirchenhistoriker, stellt fest:
„Danach waren es ausschließlich die Kirchenväter (nicht Luther!), welche Bullinger den Weg zum Evangelium gewiesen haben – negativ durch ihre Uneinigkeit, positiv durch ihre beständige Berufung auf die Heilige Schrift und durch ihre Bemühungen um deren Sinn und zutreffende Auslegung [...] Durch das Studium dieser Väter (Augustin, Cyprian, Hieronymus und Tertullian werden neben andern als wichtigste Zeugen angeführt) hat Bullinger zur Schrift gefunden und dabei entscheidende theologische Erkenntnisse gewonnen: Das Wort Gottes legt sich selbst aus und führt zur Erkenntnis Christi. Es enthält alles, was zum christlichen Glauben notwendig ist. Deshalb ist am Wort Gottes als der Richtschnur der kirchlichen Lehre festzuhalten. Eine Ergänzung durch die mündliche Tradition und Lehren der Väter oder Scholastiker ist abzulehnen. [...] [Ich meine,] dass Bullinger wie Zwingli und Calvin als Humanist zum Reformator geworden ist: weder aus Angst um sein persönliches Seelenheil (wie Luther) noch aus Sorge um das Schicksal der Eidgenossenschaft (wie Zwingli), auch nicht lange zögernd (wie Calvin), sondern in konsequenter, kurz entschlossener und überzeugter Hinwendung zu den Quellen des christlichen Glaubens, über die Kirchenväter und die Heilige Schrift. Dabei hat ihn Gottes Wort – stärker: Gott durch sein Wort – gepackt.“1
„Reformatorisch“, mit Inhalt gefüllt
Als systematischer Theologie will ich in einer Artikelreihe nach und nach durch einige Hauptbereiche der Dogmatik, also der thematisch geordneten Landschaft der Theologie, gehen.
Ich beginne bei der Vorrede (Prolegomena) zur Theologie. Es gilt nämlich zunächst einige Voraussetzungen zur Theologie zu klären. Dies ist zentral, weil seit der Zeit der Aufklärung die Begründung des Denkens und des Zugangs zur Wahrheit vom externen Begründungspunkt in das Ich verschoben wurde.
Daran schließt sich direkt die Gotteslehre an, gefolgt von der Christologie, der Lehre über Christus. Von da aus richten wir unseren Blick auf die Lehre über den Menschen (Anthropologie) und anschließend zur Ekklesiologie, zur Lehre über die christliche Kirche.
Dem schließe ich dann sechstens eine kurze Erörterung über die sogenannten „Mitteldinge“ an. Dort wird es um Fragestellungen gehen, bei denen innerhalb des reformatorischen Bereichs eine gewisse Spannbreite herrscht.
Als Berufstätiger, der täglich mit Lernprozessen von Erwachsenen zu tun hat, empfehle ich jedem Leser, sich beim Durchgang durch diese sechs Felder die eigenen Grundüberzeugungen zu notieren und Fragezeichen anzubringen, wo man noch keinen festen Standort für sich selbst gewonnen hat.
Fußnote
1 Fritz Büsser, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung. Band I. TVZ: Zürich, 2004, S. 24–26.