Das Geheimnis des Bösen

Artikel von R.C. Sproul
29. September 2020 — 6 Min Lesedauer

Das klassische Problem der Existenz des Bösen wurde die „Achillesferse“ des christlichen Glaubens genannt. Philosophen wie John Stuart Mill haben argumentiert, dass die Existenz des Bösen demonstriere, dass Gott entweder nicht allmächtig oder nicht gütig und liebend sei. Das Argument dabei ist: Wenn das Böse getrennt von der souveränen Macht Gottes existiert kann Gott logischerweise nicht allmächtig sein. Wenn Gott andererseits die Macht hat, das Böse zu verhindern, es aber nicht tut, dann wirft dies ein schlechtes Licht auf seinen Charakter und macht deutlich, dass er weder gut noch liebend ist.

Theodizee-Versuche

Weil dieses Problem so schwerwiegend ist, hat die Kirche immer wieder verschiedene Theodizee-Versuche unternommen. Der Begriff Theodizee ist eine Kombination aus zwei griechischen Worten: dem Wort für Gott, theos, und dem Wort für Rechtfertigung, dikaios. Folglich ist die Theodizee ein Versuch, Gott für die Existenz des Bösen zu rechtfertigen (wie man es zum Beispiel in John Miltons Das verlorene Paradies sieht). Solche Theodizeen haben von einer einfachen Erklärung, dass das Böse ein direktes Resultat des menschlichen freien Willens ist, bis zu komplexen Ansätzen wie von dem Philosophen Leibniz eine große Spannbreite an Argumenten abgedeckt. In seiner Theodizee, über die Voltaire als Satire sein Candide verfasst hat, unterschied Leibniz zwischen drei Arten von Bösem: natürliches Böses, metaphysisches Böses und moralisches Böses. In diesem dreidimensionalen System argumentierte Leibniz, dass moralisches Böses eine unvermeidliche und notwendige Folge der Endlichkeit sei, die einen metaphysischen Mangel an vollständigem Sein darstellt. Weil kein Geschöpf unendliches Sein erreicht, muss dieser Mangel notwendigerweise zu solchen Fehlern führen, wie wir sie im moralischen Bösen sehen. Das Problem mit dieser Theodizee ist, dass sie die biblische Vorstellung des Bösen nicht mit einbezieht. Wenn das Böse für Geschöpfe eine metaphysische Notwendigkeit darstellen würde, dann müssten Adam und Eva offensichtlich noch vor dem Sündenfall böse gewesen sein und würden weiter böse sein, selbst nach der Verherrlichung im Himmel.

„Bis heute habe ich noch immer keine zufriedenstellende Erklärung dafür gefunden, was Theologen das Geheimnis des Bösen nennen.“
 

Bis heute habe ich noch immer keine zufriedenstellende Erklärung dafür gefunden, was Theologen das Geheimnis des Bösen nennen. Schickt mir bitte keine Briefe mit einer Erklärung, die sich gewöhnlich auf eine Dimension des menschlichen freien Willens konzentriert. Ich befürchte, dass viele Menschen das ernste Problem bei dieser Erklärung nicht erkennen. Die bloße Gegenwart eines freien Willens reicht nicht aus, um den Ursprung des Bösen zu erklären, denn wir müssten uns immer noch die Frage stellen, wie ein gutes Wesen geneigt sein könnte, freiwillig das Böse zu wählen. Die Neigung des Willens, auf eine unmoralische Weise zu handeln, ist an sich schon ein Anzeichen der Sünde.

Das Böse ist abhängig vom Guten

Einer der wichtigsten Ansätze zum Problem des Bösen wurde von Augustinus und später von Thomas von Aquin dargelegt. Sie argumentierten, dass das Böse kein unabhängiges Sein habe. Das Böse kann nicht als irgendein Ding oder eine Substanz oder als eine Art Sein definiert werden. Stattdessen ist das Böse immer definiert als eine Handlung, die die Norm des Guten nicht erreicht. Aus diesem Blickwinkel wurde das Böse entweder als Negation (negatio) des Guten oder als Mangel (privatio) an Gutem definiert. In beiden Fällen hängt die Definition des Bösen von einem vorhergehenden Verständnis des Guten ab. Deshalb ist das Böse, wie Augustinus argumentierte, ein Parasit – es ist vom Guten abhängig, um definiert werden zu können. Wir denken von der Sünde als etwas Ungerechtem, das Ungehorsam und Unmoral beinhaltet, usw. All diese Definitionen hängen von der positiven Substanz des Guten ab. Augustinus argumentierte, dass Christen zwar auch vor dem Problem stehen, die Gegenwart des Bösen im Universum zu erklären, der Nichtchrist jedoch ein doppelt großes Problem hat. Bevor jemand überhaupt ein Problem des Bösen haben kann, muss er erstmal eine vorhergehende Existenz des Guten haben. Diejenigen, die sich über das Problem des Bösen beschweren, stehen auch vor dem Problem, die Existenz des Guten definieren zu müssen. Ohne Gott aber kann es keinen letztendlichen Standard dafür geben.

„Diejenigen, die sich über das Problem des Bösen beschweren, stehen auch vor dem Problem, die Existenz des Guten definieren zu müssen. Ohne Gott aber kann es keinen letztendlichen Standard dafür geben.“
 

In der heutigen Zeit wird dieses Problem gelöst, indem man sowohl das Gute als auch das Böse leugnet. Solch eine Lösung steht jedoch vor enormen Schwierigkeiten, besonders wenn man Böses erleidet. Es ist leicht, die Existenz des Bösen zu leugnen – bis wir selbst zum Opfer einer bösen Tat werden.

Gott ist allmächtig und gut

Auch wenn wir unsere Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen beenden müssen – eine Sache steht fest: Gott ist sowohl allmächtig als auch gut. Wir müssen also schlussfolgern, dass in seiner Allmacht und Güte ein Platz für die Existenz des Bösen sein muss. Wir wissen, dass Gott selbst niemals das Böse tut. Dennoch bestimmt er alles, was geschieht. Auch wenn er nichts Böses tut und das Böse nicht erschafft, bestimmt er, dass das Böse existiert. Wenn es existiert und Gott souverän ist, dann muss er offensichtlich dazu in der Lage gewesen sein, diese Existenz zu verhindern. Wenn er zugelassen hat, dass das Böse in dieses Universum kommt, konnte es nur durch seine souveräne Entscheidung geschehen. Da seine souveränen Entscheidungen immer der Vollkommenheit seines Wesens entsprechen, müssen wir schlussfolgern, dass sein Entscheidung, das Böse zuzulassen, eine gute Entscheidung gewesen ist.

Wir müssen hier aber wieder vorsichtig sein. Wir dürfen niemals sagen, dass das Böse gut oder dass das Gute böse ist. Aber das ist nicht das Gleiche wie zu sagen: „Es ist gut, dass es das Böse gibt.“ Ich wiederhole nochmal: Es ist gut, dass es das Böse gibt, denn sonst könnte das Böse nicht existieren.

„Es ist Gott in seiner Güte und seiner Souveränität, der bestimmt hat, dass das Böse letztendlich besiegt und aus dem Universum entfernt wird.“
 

Selbst diese Theodizee erklärt nicht, wie das Böse in die Welt kam. Sie denkt nur über das Warum der Existenz des Bösen nach. Eine Sache wissen wir nämlich gewiss: Das Böse existiert. Wenn schon nirgendwo anders, dann in uns und in unserem Verhalten. Wir wissen, dass die Macht des Bösen außergewöhnlich ist und wirklichen Schmerz und Leid in die Welt bringt. Wir wissen auch, dass Gott souverän darüber ist und in seiner Souveränität nicht zulassen wird, dass das Böse das letzte Wort hat. Das Böse dient immer dem höchsten Interesse von Gott selbst. Es ist Gott in seiner Güte und seiner Souveränität, der bestimmt hat, dass das Böse letztendlich besiegt und aus dem Universum entfernt wird. In seiner Erlösung finden wir unsere Ruhe und Freude – und bis dahin leben wir in einer gefallenen Welt.