Warum wir mehr Pastoren wie Augustinus brauchen

Alte pastorale Praktiken wiederbeleben

Artikel von Bryan Litfin
16. September 2020 — 8 Min Lesedauer

Rod Drehers Bestseller The Benedict Option aus dem Jahr 2017 hat aus zwei Hauptgründen eine breite christliche Leserschaft gewonnen. Der erste war sein Weckruf an die Konservativen, die versuchten, gegenüber einer Lawine antichristlicher Feindseligkeiten die Stellung zu halten. „Der Zug ist abgefahren“, verkündete Dreher. „Es gibt keinen Weg zurück ins jüdisch-christliche Amerika.“ Unser kollektives Bauchgefühl musste ihm recht geben. Unabhängig davon, ob wir dazu bereit waren oder nicht, die Dinge waren im Begriff, sich zu ändern.

Aber Drehers zweiter Grund ist genauso wichtig: Der Weg nach vorne ist der Weg zurück. Für den Aufbau einer neuen christlichen Kultur muss man auf die Ressourcen der Vergangenheit zurückgreifen. Wer hätte ahnen können, dass Benedikt von Nursia, ein Mönch aus dem sechsten Jahrhundert, plötzlich unsere Lösung sein würde? Doch Dreher hatte Recht: Die Zukunft ist alt. Die Christen der Vergangenheit waren schon einmal an diesem Punkt und wir, die wir vor einem neuen dunklen Zeitalter stehen, täten gut daran, die Lektionen der Geschichte zu lernen.

Der Untertitel von The Benedict Option verspricht „Eine Strategie für Christen in einer post-christlichen Nation“. Aber ist es nur unsere Nation, die sich nicht mehr an christlichen Prinzipien orientiert? Was, wenn auch die evangelikale Gemeinde post-christlich geworden ist? Vielleicht haben 40 Jahre des Versuchs, den Glauben zu „kontextualisieren“, um ihn so dem Zeitgeist anzupassen, nicht das soziale und moralische Gefüge unserer Gesellschaft, sondern die Gemeinde selbst verändert. Wir wurden mehr wie sie, während relativ wenige von ihnen welche von uns wurden. Und Pastoren waren diesem Sog gegenüber nicht immun.

Wenn ein Pastor lange genug nach außen schaut – selbst mit dem noblen Ziel, den Glauben für Ungläubige zu kontextualisieren –, beginnt er sich unweigerlich zu verändern. „Du bist, was du liebst“, sagt James K.A. Smith. Genauer gesagt, wirst du zu dem, was du betrachtest. Wenn die Gesellschaft Macht, Geld und Sex anbetet, kannst du diese Götzen nicht unendlich lange anstarren, ohne hineingezogen zu werden. Wenn die Popkultur glamouröse Superstars oder den neuesten Super-Guru hochhebt, beginnst du damit, ihren Strategien zu folgen. Wenn Unternehmen global werden und neue Bewegungen hervorbringen, übernimmt dein innerer Unternehmer das Ruder. Irgendwann wird der Pastor zum Promi, zum Weltenbummler, zum CEO. Die Welt „da draußen“ scheint wichtiger zu sein als die Schafe in deinem Gehege.

„Die ersten Christen wussten, wie man ein unscheinbares Leben lebt; ein nach innen gerichtetes Leben; ein örtliches Leben; ein demütiges Leben. Doch kein wirkungsloses Leben.“
 

Aber die Dinge lagen nicht immer so. Es ist an der Zeit, dass die post-christliche Gemeinde zu ihren im Pfarrbezirk liegenden Wurzeln zurückkehrt. Die Bischöfe und Presbyter der alten Kirche wollten nichts anderes, als dem ihnen zugewiesenen Pfarrbezirk treu dienen – auch angesichts der Möglichkeit des Martyriums. Die paroikia war ihr Fokus: eine „verweilende Gemeinschaft“ an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Die ersten Christen wussten, wie man ein unscheinbares Leben lebt; ein nach innen gerichtetes Leben; ein örtliches Leben; ein demütiges Leben. Doch kein wirkungsloses Leben. Auch wenn sie sich bewusst klein machten, haben diese ersten Gläubigen ein Imperium umgestürzt. Könnte ihre Weisheit, die im Laufe der Zeit immer wieder angewandt wurde, dies wieder tun?

Augustinus’ Projekt

Augustinus verkörpert diese alte pastorale Berufung wie kein anderer. Wer war er wirklich? Die Erzählrichtung seiner Bekenntnisse hat vielen den Eindruck vermittelt, dass er nichts weiter war als ein wilder Playboy, der in einem Mailänder Garten am Ende zu Gott gefunden hat. Es handelt sich hierbei auch tatsächlich um eine dramatische Bekehrungsszene. Gequält und belastet von der Sünde gab Augustinus seinen Widerstand auf und beugte seine Knie vor Gott. Endlich hatte sein ruheloses Herz das gefunden, wonach es sich wirklich sehnte.

Aber was passierte danach? Die Wahrheit ist, dass Augustinus’ restliches Leben als Pastor alles andere als ruhig war. Um von diesem zu lernen, schauen wir uns nicht seine Bekenntnisse, sondern seine Predigten und anderen Schriften an, insbesondere die über ihn verfasste Biografie von seinem Sekretär Possidius. Was können Pastoren von Augustinus für die heutige Praxis lernen?

Hier sind drei Ermahnungen, die aus seiner pastoralen Praxis folgen und ein weises Vorgehen für ein neues heidnisches Zeitalter aufzeigen.

1. Lebe wie ein Mönch

Als Augustinus in der afrikanischen Stadt Hippo in der Kirche von der Menge ergriffen und in den pastoralen Dienst gedrängt wurde, war er eigentlich dabei, Brüder für sein abgelegenes Kloster zu rekrutieren. Selbst nachdem er den unerwarteten pastoralen Ruf angenommen hatte, vergaß er seine klösterliche Berufung doch nie.

Possidius beschreibt Augustinus’ schlichten, stets auf das Gleichgewicht zwischen gierigem Genuss und falscher Demut bedachten Umgang mit Nahrung und Kleidung. Wenn der Kirche Luxusgüter oder Land gespendet wurden, verkaufte Augustinus sie und gab den Erlös den Armen. Seine Ernährung war immer gemäßigt – genug, um versorgt zu sein, jedoch nicht so viel, um zu schlemmen wie die Reichen. Die Gespräche an seinem Tisch waren intellektuell und erbaulich. Auf einem Schild dort stand: „Wer den Namen eines abwesenden Freundes sollte verletzen / Darf nicht als Gast an diesen Tisch sich setzen“.

Persönliche Heiligkeit war eine wichtige Tugend für Augustinus. Frauen durften nicht in seinem Haus leben und auch nicht mit ihm oder den Brüdern allein sein, um Versuchung oder auch skandalösem Klatsch vorzubeugen. Ebenso distanziert blieb Augustinus gegenüber dem Geld. Seine finanziellen Angelegenheiten wurden von vertrauenswürdigen Angestellten geführt, über die Augustinus nur indirekt Kontrolle hatte. Am Ende des Jahres wurden ihm die Konten zur Genehmigung vorgelegt. Augustinus bezog ein bescheidenes Tagesbudget von der Kirche und nichts mehr.

2. Fokussiere dich auf deine Herde

Der Pastor Augustinus war Hirte seiner eigenen Gemeinde. Das bedeutet nicht, dass ihm die Welt darüber hinaus gleichgültig war; er besuchte oft Kirchenkonzile in Afrikas Hauptstadt Karthago. Doch die ihm zugewiesene Herde in Hippo blieb sein Hauptanliegen.

„Augustinus hatte die Weisheit, gesunde Lehre zu erkennen, den Mut, diese zu verteidigen und die pastorale Liebe, sie von seinem Volk einzufordern.“
 

Eine der wichtigsten Aufgaben von Augustinus war es, als Richter zu fungieren (1. Kor 6,1–8) – eine schwierige und beschwerliche Aufgabe, die er jedoch ernst nahm. Auf diese Weise sprach er den Armen Recht, wenn die korrupten heidnischen Gerichte dies ohne Bestechungsgelder nicht tun würden. Augustinus setzte sich oft mit Weisheit und Fingerspitzengefühl für seine Gemeindeglieder vor den mächtigen Stadtvätern ein. Die Witwen, Waisen und Kranken der Gemeinde erhielten alle seine zärtliche pastorale Fürsorge.

Augustinus hütete seine Herde auch in der Lehre. Er war ein hochrangiger Denker, der die Zeichen der Zeit erkennen und den kulturellen Nebel seiner Tage durchschauen konnte. Als Ketzereien wie der Pelagianismus oder der Donatismus auftraten, war Augustinus schnell dabei, seine Leute vor schlechter Theologie zu schützen. Er hatte die Weisheit, gesunde Lehre zu erkennen, den Mut, diese zu verteidigen und die pastorale Liebe, sie von seinem Volk einzufordern. Der Hirte kümmerte sich sowohl um den Geist als auch um den Leib seiner Schafe.

3. Fürchte nicht die „Barbaren“

In den letzten Lebensjahren von Augustinus begannen die Vandalen, durch Nordafrika zu streifen. Die Plünderer waren von Spanien herübergekommen und eroberten eine römische Stadt nach der anderen. Ihre Angriffe waren gewalttätig und begleitet von Mord, Vergewaltigung, Folter, Brandstiftung, Versklavung und der Plünderung christlicher Kirchen. Damals bedeutete das Wort Vandalismus viel mehr als Graffiti! Viele Gläubige fragten Augustinus, ob es akzeptabel sei, vor einem so schrecklichen Feind zu fliehen.

Seine Antwort war weise und mutig. Possidius bewahrte den Antwortbrief von Augustinus auf. Darin sagt er, dass gewöhnliche Christen vor den Barbaren fliehen dürfen, die Pastoren aber so lange bleiben müssen, bis niemand mehr aus ihrer Herde übrig ist. „Die Liebe Christi“, schreibt Augustinus, „[die] uns verpflichtet hat, die Gemeinden, denen wir dienen sollen, nicht zu verlassen, sollte nicht gebrochen werden“. Der Schrecken der barbarischen Horde darf niemals die heilige Berufung des Pastors überwinden.

Zugegeben, Augustinus wurde hier von seiner Auffassung beeinflusst, dass für das Heil die Sakramente von einem ordinierten Diener gespendet werden müssen. Doch diese Überlegung war Teil eines umfassenderen Anliegens der Seelsorge und Evangelisation. Der Hirte der Herde Gottes bekleidet ein Amt, „ohne das die Menschen weder ein christliches Leben führen noch Christen werden könnten“. Wenn ein Pastor angesichts der Verfolgung bei seinen Leuten bleibt, erfüllt er 1. Johannes 3,16: „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass [Christus] sein Leben für uns hingegeben hat; auch wir sind es schuldig, für die Brüder das Leben hinzugeben“.

Pastor bis ans Ende

Im Jahre 430 n.Chr. lag der betagte Augustinus auf seinem Krankenbett und meditierte über die Bußpsalmen, während die Vandalen vor den Stadtmauern schrien. Seine letzten 10 Tage verbrachte er in ständigem, einsamem Gebet. „Bis zum Augenblick seiner letzten Krankheit“, erinnert sich Possidius, „predigte er das Wort Gottes in der Gemeinde unaufhörlich, energisch und kraftvoll, mit klarem Verstand und gesundem Urteilsvermögen“.

Augustinus starb inmitten seiner klerikalen Brüder und wurde ehrenvoll beigesetzt. Er machte sich nicht die Mühe, ein Testament aufzusetzen, denn als „armer Mann Gottes“ hatte er nichts Substantielles zu vererben. Alles, was Augustinus hinterließ, waren treue Jünger und kraftvolle Worte. Möge jeder Pastor so gut sterben: geehrt für sein Vermächtnis und zuversichtlich, dass die nächste Generation bereit ist, die Aufgabe des Evangeliums weiterzuführen – auch wenn die Barbaren vor den Toren stehen.