Schönheit und das Evangelium

Artikel von Terry Yount
7. September 2020 — 5 Min Lesedauer

In der heutigen Zeit wird Schönheit unvermeidbar mit dem all zu einfachen Phänomen des „Hübschseins“ verbunden, wie es sich in Gedichten auf Grußkarten oder romantischen Zeichnungen von Leuchttürmen zeigt. In Wirklichkeit ist Schönheit weit mehr. Schönheit offenbart die ganze Bandbreite der menschlichen Erfahrung. Wahre Schönheit ist ein Verbündeter des Evangeliums, weil sie das menschliche Dilemma widerspiegelt. Eine Rose ist schön, aber sie hat auch Dornen.

Wenn wir genauer hinschauen, offenbart sich Schönheit irgendwo zwischen den widerstreitenden Mächten der Finsternis und des Lichts, zwischen Dur und Moll, Protagonist und Antagonist. Schönheit kann oft erst wertgeschätzt werden, wenn man sie im Kontrast zu ihrem Gegenstück sieht – Verdorbenheit. Der aufrichtige Maler, Musiker oder Schriftsteller, der von dem Kontrast zwischen Gut und Böse ergriffen ist, hat keine Angst, beides darzustellen. Es ist sogar so, dass der Kampf zwischen Finsternis und Licht oft der Ort ist, an dem Künstler ihre beste Arbeit hervorbringen. Zum Beispiel singt in Bachs Kantate Christ lag in Todesbanden der Chor über mehrere Sätze hinweg über die Kreuzigung und Auferstehung. Christus wird als leidender Gottesknecht dargestellt, der den Weg nach Golgatha beschreitet, bis am Ende der Chor mit seinen triumphalen „Hallelujas“ geradezu über den Tod lacht. Wenn bibeltreue Christen darauf bedacht sind, in ihrer Lehre über Sünde zu sprechen, sollten sie es nicht auch in ihrer Kunst, Musik und Literatur tun?

„Indem wir die Herzenssehnsucht in vielen Kunstwerken erkennen und wertschätzen, können wir die ganze Botschaft des Evangeliums überzeugend verkündigen.“
 

Die Kirche muss – möchte sie einen Einfluss in den Künsten geltend machen – ein reiferes Konzept von Schönheit wiedergewinnen. Indem wir die Herzenssehnsucht in vielen Kunstwerken erkennen und wertschätzen, können wir die ganze Botschaft des Evangeliums überzeugend verkündigen.

Schönheit in ihrer ganzen Fülle darzustellen, ist jedoch eine Herausforderung. Die Gefahr hierbei ist der schrecklichen Halbschwester der Schönheit zu verfallen: der Sentimentalität. Wie arbeitet Sentimentalität gegen Schönheit? Und, wie arbeitet Sentimentalität gegen das Evangelium?

Sentimentalität ist aufrichtiges emotionales Empfinden. Sentimentalität ist ein Mittel. Für den Künstler ist es die größte Freude – und Versuchung – die Gefühle zu berühren. Wenn er jedoch Finsternis zu Gunsten des Lichts einfach beiseite schiebt, kann er die Wirklichkeit entstellen und etwas von der vollen Entfaltung der Schönheit rauben. Wenn der Künstler jedoch Finsternis und Licht in einem Werk zusammenfügt, gibt es eine emotionale Balance und Klarheit, die sich in der Realität widerspiegelt. Zum Beispiel verbindet Rembrandts Anbetung der Hirten Finsternis und Licht und ist damit eine Vorausdeutung des Dramas im Wunder der Menschwerdung. Gleichermaßen berichtet Bachs Matthäuspassion über das Leid und den Tod Christi, während sie die wichtigsten Themen der Sühne zusammenfasst. Sentimentalität weist nicht auf die Notwendigkeit der Erlösung hin – sie erzeugt ein verkürztes Evangelium. Sentimentalität erreicht nicht den reifen Ausdruck von Schönheit. Sie verwirrt das Herz, indem sie eine falsche Realität mit der tatsächlichen Realität vertauscht. Sentimentalisten – also Menschen, die stark gefühlsgeleitet sind – haben es schwer, mit den schwierigeren Aspekten des christlichen Evangeliums umzugehen, weil sie eine zu ernste Realität bedeuten.

Für den Theologen und Musiker Jeremy Begbie entstellt der Sentimentalist die Realität, indem er emotional zügellos ist („Beauty, Sentimentality, and the Arts“). Sentimentalisten müssen die Realität entsprechend ihrer eigenen Gefühle und Erfahrungen ausschmücken. Haben wir in unseren Gemeinden vielleicht eine verdrehte Einstellung in Bezug auf die Künste? Diese Verdrehung kann gegen uns arbeiten. Wir können eine wunderbare Möglichkeit für die Verkündigung des Evangeliums verpassen.

Die Gemeinde kann in ihrer Förderung der Künste wieder gedeihen, wenn wir das wahre Wesen der Schönheit verstehen. C.S. Lewis merkt in Das Gewicht der Herrlichkeit an, dass Schönheit zu uns durch gewöhnliche Dinge wie Bücher oder Musik kommt, eigentlich aber „war [Schönheit] nicht in ihnen, sie kam nur durch jene Dinge, und was durch jene kam, war die Sehnsucht“. Diese Sehnsucht ist die wesentliche Gemeinsamkeit, die die Kirche mit den Künstlern teilt und mit all denen, die die Künste wertschätzen. Welchen Nutzen, wenn überhaupt einen, ziehen wir in unserer Verkündigung des Evangeliums aus diesem Konzept der „Sehnsucht“?

Lewis fährt fort, indem er schreibt, dass Menschen, die sich schöne Dinge ansehen, sich danach sehnen „mit der Schönheit verbunden zu sein, die wir sehen, in sie einzudringen und sie in uns aufzunehmen, darin zu baden, ein Teil davon zu werden“. Nachdem sie von Schmerz zerstört, gedemütigt und desillusioniert sind, können bußfertige Sünder zur tiefsten Schönheit kommen – Christus, die Erlösung.

Wenn wir die Künste zurückgewinnen, egal ob in der Anbetung oder der größeren christlichen Gemeinschaft, wird das die Verkündigung des Evangeliums klarer machen. Wenn das Evangelium verlangt, dass Menschen über ihren sündhaften Zustand nachdenken, dann wird es dabei helfen, wenn wir dieses Thema in Gedichten, Musik und Malerei ausdrücken. Die Sehnsucht, die wir erfahren, wenn wir ein großartiges Kirchenlied hören oder jeden anderen Ausdruck von Schönheit in der christlichen Gemeinschaft erleben, ist nicht eine oberflächliche Sehnsucht, die wir nur für einen kurzen Augenblick erleben. Sie ist in der Tat ein Muster der intensiven Sehnsucht nach Schönheit, die alle Sünder erfahren. Wir werden die Erfüllung dieser Sehnsucht nie vollkommen erleben, bis wir sie nicht in der Liebe Gottes für sein sündiges Volk finden. Unser herrlicher Gott, der in Gnade zu seiner Gemeinde kommt, will, dass wir den Weg nach Golgatha hinaufgehen, bevor wir unsere „Hallelujas“ singen.