Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?

Artikel von Ron Kubsch
4. September 2020 — 18 Min Lesedauer

In den vergangenen Jahren bin ich mehrfach Leuten begegnet, die ganz begeistert von Worthaus-Konferenzen zurückgekehrt sind.1 Einige dieser Besucher erklärten mir unverblümt, dass sie die biblizistischen Predigten in ihren Heimatgemeinden leid sind. So wie Peter, dem es schwer viel, überhaupt noch zuzuhören, wenn ein Bruder auf der Kanzel stand und nur das wiederholte, was jeder Leser sowieso im Bibeltext vorfand.2 „Bei Siegfried Zimmer habe ich endlich mal was Neues gehört“, schwärmte er. „Der nimmt die Bibel auch sehr ernst. Aber er gräbt tiefer und berücksichtigt die Kultur, in der die Texte entstanden sind. Dieser Mann ist nicht nur ein glänzender Rhetoriker, er legt die Schrift wissenschaftlich und relevant aus“, teilte mir Peter mit einem gewissen Stolz mit. Dann wollte er wissen, was ich von Siegfried Zimmer halte.

Siegfried Zimmer bin ich bis heute persönlich nicht begegnet. Worthaus-Vorträge hatte ich freilich schon gehört. So bestätigte ich, dass Zimmer ein wortgewaltiger Redner ist, der seine Hörer in den Bann zieht und manchmal kräftig gegen andere austeilt. Zu seiner Sicht auf die Heilige Schrift konnte ich auch etwas sagen, denn sein Buch Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?3 habe ich gelesen. Also fing ich an, zu berichten, was ich dort entdeckt habe. Einiges davon will ich auf den folgenden Seiten erzählen. Ich weiß, dass ich manchem Leser damit viel abverlange.

Wenn Bibelwissenschaft Bibelkritik meint

Der evangelische Pädagoge und Theologe Prof. Dr. Siegfried Zimmer plädiert für ein Bibelverständnis jenseits von radikaler Kritik und Bibelgläubigkeit. Mit geradezu missionarischem Eifer versucht er seit vielen Jahren, evangelikale Christen vom Nutzen der Bibelwissenschaft zu überzeugen. Was soll auch schlecht sein an der Bibelwissenschaft? Sollen wir nicht alle gründlich und nachvollziehbar die Bibel studieren?

„Wenn Zimmer von Bibelwissenschaft spricht, meint er eigentlich Bibelkritik, denn beide Begriffe bezeichnen für ihn ‚das Gleiche‘.“
 

Würde Zimmer für eine methodisch sorgfältige und nachprüfbare Schriftauslegung werben, würde er bei vielen – mindestens bei mir – offene Türen einrennen. Doch wenn Zimmer von Bibelwissenschaft spricht, meint er eigentlich Bibelkritik, denn beide Begriffe bezeichnen für ihn „das Gleiche“ (S. 147). Das Wort „Bibelkritik“ meidet er im nichtwissenschaftlichen Gespräch aus strategischen Überlegungen. Er möchte nicht unnötig verunsichern. Gemeint ist mit Bibelwissenschaft jedoch ein kritischer Umgang mit der Bibel in „positiver Absicht“. „Der entscheidende Schritt, um dieses Ziel zu erreichen, heißt: Die Bibel erst einmal aus ihrer Zeit heraus verstehen zu lernen“ (S. 146). Um dieses Ziel zu erreichen, müsse die Bibel traditionskritisch, kirchenkritisch, dogmenkritisch, frömmigkeitskritisch und selbstkritisch gelesen werden (vgl. S. 146). Neuzeitliche Methoden wie die Literarkritik oder die Redaktionskritik sollen helfen, die eigentliche Botschaft der Texte für die Leser von heute verständlich zu machen.4

Obwohl sich Zimmer von überzogenen Ansprüchen der historisch-kritischen Methode abgrenzt und vor einer Absolutsetzung der Gegenwartsvernunft warnt, setzt er eine unkritische Bibelhaltung mit Wissenschaftsfeindlichkeit gleich. Er greift hierbei auf die schon von Johann Semler (1725–1791) eingeführte Unterscheidung zwischen Heiliger Schrift und Wort Gottes zurück. Da die biblischen Texte geschichtlich gewachsen sind, müssen sie nach Semler auch mit historischen Methoden untersucht werden. Unterschiedliche Überlieferungsvarianten, Widersprüche, Spannungen und Irrtümer seien aufzudecken, um dahinter das Bleibende zu finden. Denn die Bibel ist nicht Gottes Wort, sondern sie enthält Gottes Wort. Semler suchte in der Bibel nach dem, was „aufgeklärten“ Menschen verständlich bleibt, nach einem „Kanon im Kanon“.

Ganz ähnlich behauptet Zimmer, dass jeder, der die Heilige Schrift mit dem Wort Gottes gleichsetzt, ein fundamentalistisches Bibelverständnis vertritt (vgl. S. 25). Eine fundamentalistische Sicht der Bibel habe etwa jeder, der meine, Adam und Eva seien die ersten Menschen gewesen (vgl. S. 25). Da uns die moderne Wissenschaft etwas anderes lehre, dürfe die Urgeschichte nicht mehr historisch gedeutet werden.

Nach Zimmer müssen wir deshalb zwischen einem geschichtlichen Ereignis („Welt der Geschichte“) und seiner „späteren mündlichen oder schriftlichen Darstellung“ („Welt der Bibel“) unterscheiden. Die Offenbarungsereignisse selbst dürften nicht kritisch betrachtet werden. Die „schriftliche Darstellung von Offenbarungsergnissen darf man aber untersuchen, auch wissenschaftlich und ‚kritisch‘“ (S. 88).

Die Bibel ist für Zimmer dabei ein durch und durch menschliches Buch, geprägt von den Irrtümern und Kulturen ihrer Autoren. Die „Fehler, Spannungen und Widersprüche“ in der Bibel „sind aber keineswegs nur etwas Schlechtes“ (S. 57). Sie veranlassen uns „zum tieferen Nachdenken“ (S. 57). Sie führen uns zu dem „Schatz an grundlegenden Gotteserfahrungen und daraus erwachsenden gemeinsamen Überzeugungen“, zu einer dynamischen und dialogischen Einheit (S. 59).

Wer Jesus gehorcht, liest die Bibel kritisch

Maßstab und Mitte der Auslegung ist nach Zimmer das Ereignis schlechthin: Jesus Christus. Er schreibt: „Wir orientieren uns in der Bibelauslegung an Jesus Christus. Nur wenn wir die Bibel von Jesus Christus her interpretieren, kommt der Vorrang Jesu Christi vor der Bibel auch zur Geltung“ (S. 91). Wir müssen deshalb jedem Bibeltext die Frage stellen: „Entspricht die Aussage dieses Bibeltextes dem Evangelium von Jesus Christus?“ (S. 91). Er schreibt:

„Biblische Texte, die etwas Anderes für richtig halten, als Jesus uns gelehrt hat, dürfen unser Gewissen nicht binden. Das Gottesverständnis Jesu, der Lebensstil Jesu und das Evangelium von Jesus Christus sind für uns der Maßstab, an dem wir alles Andere in der Bibel messen. Dann können wir nicht mehr alle Geschehnisse, die in biblischen Texten auf Gott zurückgeführt werden (…), auf Gott zurückführen. Was wir auf Gott zurückführen können und müssen, entscheidet sich an dem, wie Gott sich in Jesus offenbart hat.“ (S. 91)

Wir lesen folglich die Bibel von Jesus Christus her skeptisch. „Nicht aus Überheblichkeit oder Besserwisserei, sondern aus Gehorsam gegenüber Jesus Christus. Wenn wir von ihm her die Bibel kritisch lesen, stellen wir nicht uns selbst über die Bibel. Wir stellen Jesus Christus über die Bibel“ (S. 92). „Jesus Christus treu zu sein ist wichtiger, als der Bibel treu zu sein … Im Konfliktfall argumentieren wir ohne jedes Zögern mit Jesus Christus gegen die Bibel“ (S. 93).

Jesus ist nicht gleich Jesus

Wir merken hoffentlich, dass sich hier die Katze in den Schwanz beißt. Niemand hat heute unmittelbaren Zugang zu dem geschichtlichen Offenbarungsereignis Jesus Christus. Zeitreisen sind zwar beliebte Themen für Romane oder Filme, im wirklichen Leben kann gleichwohl niemand von uns mal einfach 2000 Jahre zurückspringen und unmittelbar beobachten, was damals passiert ist. Um herauszufinden, wer Jesus ist, sind wir auf die biblischen Überlieferungen angewiesen. Da jedoch diese Urkunden nach Zimmer nur gebrochene Deutungen Jesu Christi überliefern, bleibt uns das entscheidende Kriterium ihrer angemessenen Auslegung unzugänglich.5

Zimmer nimmt zum Beispiel die Selbstzeugnisse von Jesus in den Evangelien nicht einfach als authentische „Herrenworte“ auf, um zu zeigen, wer Jesus ist. Er muss in den Evangelien die echten Worte Jesus erst einmal aufspüren. Das Johannesevangelium hat für ihn etwa nur einen sehr eingeschränkten historischen Wert. Die berühmten sieben Ich-bin-Worte können seiner Meinung keine Sprachbilder des historischen Jesus sein, denn Worte wie „Ich bin das Brot des Lebens“ (Joh 6,35) oder „Ich bin der gute Hirte“ (Joh 10,11) „könnten selbst auf die wohlwollendsten jüdischen Zuhörer nur einen grotesken und bizarren Eindruck“ gemacht haben (S. 206). Es handelt sich nach Zimmer bei diesen Sprüchen um Zuschreibungen durch die nachösterliche Gemeinde. Die Jünger hätten Jesus diese Worte in den Mund gelegt. Obwohl sie unhistorisch seien, gebrauche der Heilige Geist sie, um zur christlichen Gemeinde zu reden (vgl. S. 187–208).

Was Zimmer vermeiden möchte, nämlich dass wir etwas anderes als Christus zum Beurteilungsmaßstab der Bibel machen, tritt hier notwendig ein: Da wir nicht sicher wissen können, was Jesus tatsächlich gelehrt hat, wird ein von Menschen konstruierter Jesus zum Maßstab unserer Bibelauslegung. Wir lesen die Bibel nicht von dem uns in ihr bezeugten, sondern von einem Jesus her, den wir uns vorher zurechtgelegt haben.

War Jesus der „Sohn des Menschen“?

An einem Beispiel, das von Professor Zimmer selbst stammt, will ich das illustrieren. In dem Vortrag „Der Prozess vor Pilatus (MK 15, 1–15)“, den er am 10. Juni 2019 in Tübingen gehalten hat, unterscheidet er genau in diesem eben erörterten Sinn zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens. Auch hier setzt er also voraus, dass der historische Jesus nicht der Jesus ist, von dem die Evangelien (besonders das Johannesevangelium) oder die nachösterlichen Paulusbriefe erzählen. Zimmer sagt:

„Gehört bitte nicht zu den Christen, die gleich den Flatterich kriegen, wenn ich sage: Jesus war vielleicht selber der Überzeugung, dass er selber gar nicht der Menschensohn ist, dass das ein späterer christlicher Eintrag war, dass er aber über das Kommen und was da geschieht verblüffend Bescheid weiß. Was man mindestens sagen kann: Jesus wusste sich mit dem Menschensohn sehr fest verbunden. Das auf jeden Fall. Aber ob er sich selber als Menschensohn gesehen hat, lassen wir mal offen. […] Ich gehe mal davon aus, dass Jesus kein Hellseher war, er hat kein Orakelwissen gehabt. Meint ihr, dass Jesus alle Details, alles klar war? Er ist schon ein normaler Mensch, bitte! Jesus hat schon einen messianischen Anspruch gehabt, aber wie viele messianische Ansprüche gab es? […] Ich glaube erst einmal, dass für Jesus Titel sowieso gar nicht das Wichtigste sind. Er hat überhaupt nie mit Titeln groß gearbeitet. […] In einem Mitarbeiterheft für tausende von Sonntagsschulmitarbeitern hat eine Frau einen Artikel über Jesus geschrieben, den habe ich einmal zufällig gelesen. Da schreibt die Frau so einen kleinen Steckbrief „Wer war Jesus?“: „Jesus war der Gottessohn und der Retter der Welt. Er kam, um zu sterben und er hat viele Wunder getan und konnte übers Wasser laufen.“ Das schreibt eine Frau für tausende von Mitarbeitern in der Sonntagsschule. Da muss ich fast kotzen. Ich kann’s nicht anders sagen. Also alles gleich Titel, er war der Sohn Gottes (was stellt sich ein 7-jähriger unter Sohn Gottes vor?), Retter der Welt, also alles nur Titel, ein Titelgeklapper. Ich habe dann dem Vorstand von diesem Verlag geschrieben: Sie könnten doch mit gleicher Buchstabenzahl … sagen: „Jesus war aufmerksam für die Armen, er schätzte die Frauen höher als es damals üblich war und er liebte die Kinder. Das ist doch Millionen mal mehr als dieses Titelgeklapper. Und wenn die Titel dann nicht kommen, dann werden die Leute ganz unruhig.“6

Dazu gäbe es sehr viel zu sagen. Einige Beobachtungen möchte ich kurz herausstellen:

Erstens fällt auf, dass Zimmer dazu neigt, die Jesus in den Evangelien zugeschriebenen Hoheitstitel wie „Sohn Gottes“, „Messias“ oder „Menschensohn“ als nachösterliche Eintragungen zu lesen. Obwohl er sonst gern betont, wie wichtig die wissenschaftliche Herangehensweise ist, erwähnt er mit keinem Wort, dass die neutestamentliche Forschung an dieser Stelle zu äußerst unterschiedlichen Ergebnissen kommt.7

Betrachten wir zweitens den Befund zum Titel „Messias“ bzw. „Christus“, so fällt auf, das dieser während Jesu Wirken in Galiläa noch keine Rolle spielt, sondern, von den Einleitungen in die Evangelien abgesehen, im Petrusbekenntnis erstmalig erwähnt wird (vgl. Mt 16,13–20; Mk 8,27–30 u. Lk 9,18–21). Später ist es genau dieser Jesus, der den Messiastitel für sich in Anspruch nimmt. Das bringt ihm den Vorwurf der Gotteslästerung und letztlich die Verurteilung zum Tode ein. Als er vor dem Hohen Rat vom Hohe Priester gefragt wurde: „Bist du der Messias (griech. „Christus“), der Sohn des Hochgelobten?“, antwortete Jesus (Mk14,62–64; vgl. Mt 26,57–68; Lk 22,54–71):

„Ich bin es! Und ihr werdet den Sohn des Menschen sitzen sehen zur Rechten der Macht und kommen mit den Wolken des Himmels. Der Hohe Priester aber zerriss seine Kleider und spricht: Was brauchen wir noch Zeugen? Ihr habt die Lästerung gehört. Was meint ihr? Sie verurteilten ihn aber alle, dass er des Todes schuldig sei.“

Wir müssen uns hier fragen: Warum wurde Jesus verurteilt, wenn der Grund für seine Verurteilung erst viele Jahre nach seinem Tod in die Evangelien eingetragen wurde? Ist es nicht viel naheliegender, dass sich Jesus tatsächlich zu seiner Sendung bekannte und mit Bezug auf Psalm 110,1 von seiner bevorstehenden Erhöhung bzw. in Anlehnung an Daniel 7,13–14 von seiner Wiederkunft sprach?

Ist drittens in den Evangelien vom „Menschensohn“ die Rede, so ausschließlich in Jesu eigenen Worten (immerhin etwa 80-mal).8 Außerhalb der Evangelien taucht der Titel nur viermal auf, und zwar dreimal in Anspielungen auf das Alte Testament (Hebr 2,6; Offb 1,13; 14,14) sowie einmal, als sich für den Diakon Stephanus der Himmel öffnet und er den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen sieht (Apg 7,56).9 Die Tatsache, dass wir nur ein einziges selbstständiges nachösterliches Wort vom Menschensohn haben, widerspricht genau der Annahme, dass Menschensohn „ein erst nachösterliches auf Jesus angewandtes Hoheitsprädikat ist“, meint der Tübinger Neutestamentler Peter Stuhlmacher zu Recht. „Es ist sehr viel wahrscheinlicher“, fährt er fort, dass die „Evangelienüberlieferung einen historischen Befund festgehalten hat“.10

Schließlich gibt es einige Evangelientexte, in denen es Jesus darauf anlegt, zu beweisen, dass er selbst der Menschensohn ist. Nehmen wir exemplarisch Matthäus 9,6, wo Jesus sagt:

„Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben … Dann sagt er zu dem Gelähmten: Steh auf, nimm dein Bett auf, und geh in dein Haus! Und er stand auf und ging in sein Haus. Als aber die Volksmengen es sahen, fürchteten sie sich und verherrlichten Gott, der solche Vollmacht den Menschen gegeben hat.“

Sagt so etwas jemand, der nicht weiß, ob er der Sohn des Menschen ist? Es braucht schon sehr viel Phantasie, das anzunehmen. Dass Jesus hier seine Vollmacht demonstriert, Sünden zu vergeben, also etwas vermag, was eigentlich nur Gott zusteht, liegt viel näher. Jesus verwendet den Titel, um seinen Dienst auf Erden, sein Leiden und seine Verherrlichung in der Zukunft zu kennzeichnen. Jesus wusste, dass er der Menschensohn ist, der als Gott und Mensch gekommen ist, um sein Leben zur Erlösung für viele zu geben (vgl. Mt 20,28). Der Menschensohn sucht und macht selig, was verloren ist (vgl. Lk 19,10). Er wird in der Herrlichkeit seines Vaters wiederkommen, um als Zeuge für oder gegen dieses Geschlecht auszusagen (vgl. Lk 8,8ff.; Mt 16,27). „Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende“ (Dan 7,14).

Wie ging Jesus mit der Schrift um?

Aber es gibt noch ein weiteres Problem mit Zimmers Sichtweise. Nach ihm ist Jesus Herr über die Bibel und ist uns deshalb in der Bibelauslegung die maßgebliche Orientierung (S. 91). Nur wenn wir „von ihm her die Bibel kritisch lesen, stellen wir uns nicht selbst über die Bibel“ (S. 92). Aber wie ist Jesus mit dem Alten Testament umgegangen? Zimmer bietet keine überzeugenden Belege dafür, dass Jesus die alttestamentlichen Schriften zum Gegenstand seiner Kritik gemacht hat. Er behauptet zwar, dass alles, was sich nicht mit der Ethik Jesu verträgt, für Christen nicht mehr bindend sei (vgl. S. 91). Er beteuert, das „… und lehret sie halten, was ich euch geboten habe“ aus Matthäus 28,19f. impliziere, dass die Worte Jesu eine höhere Priorität wie die der Rest der Schrift hätten (S. 95). Überzeugen kann das gleichwohl nicht. Jesus ist nicht gekommen, um „das Gesetz oder die Propheten“ zu kritisieren oder „aufzulösen“, „sondern um zu erfüllen“ (Mt 5,17). Für Jesus verfällt nicht „ein einziges Jota oder ein einziges Häkchen“ vom Gesetz, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18). Jesus unterscheidet eindeutig zwischen menschlicher Überlieferung und dem Wort Gottes, das Mose im Auftrag seines Herrn gesprochen hatte (vgl. Mt 7,10–13). John Wenham kommt in seiner umfangreichen Untersuchung Jesus und die Bibel zu dem Ergebnis, dass für Jesus Christus die Schriften des Alten Testaments wahr, autoritativ und inspiriert sind und dasjenige, was in ihnen geschrieben steht, Gottes Wort ist.11

Fazit

Ich habe versucht, zu zeigen, dass es gute Gründe dafür gibt, die Bibel anders als Siegfried Zimmer zu lesen. Der Jesus, mit dem er die Heilige Schrift kritisch liest, ist nicht der Jesus der Bibel, sondern ein Jesus,

„Der Jesus, mit dem er die Heilige Schrift kritisch liest, ist nicht der Jesus der Bibel, sondern ein Jesus, den er sich ‚zurechtgezimmert‘ hat.“
 

den er sich „zurechtgezimmert“ hat. Wir brauchen nicht mit Jesus gegen die Bibel argumentieren. Jesus glaubte der Schrift. Gemäß neutestamentlicher Darstellung nahm er alttestamentliche Geschichtserzählungen durchweg ernst. Er erwähnt – um nur einige Beispiele zu nennen: Abel (Lk 11,51), Noah (Mt 24,37–39), Abraham (Joh 8,56), Lot und seine Frau (Lk 17,28–32), David (z. B. Mk 2,25; 12,25), Jona (Lk 11,29ff), Naaman (Lk 4,27), Elija (Lk 4,25f) oder Elisa (Lk 4,27). Diese Personen hat es für den Jesus des Neuen Testament wirklich gegeben. Im Blick auf die Hoheitstitel dürfen wir sagen, dass es sehr starke Gründe für die Auffassung gibt, dass Jesus genau wusste, wer er war. Jesus ist nicht zum Menschensohn erhöht worden, weil die nachösterliche Gemeinde ihm den Titel verliehen hat. Jesus ist der Sohn des Menschen, weil das Prädikat seine Verkündigung und sein irdisches Leben trefflich charakterisiert.

Zum Schluss noch ein Hinweis: Jenen Peter, von dem ich eingangs sprach, kann ich in mancherlei Hinsicht trotzdem verstehen. Er leidet darunter, dass wir „Bibeltreuen“ uns es bei der Bibellektüre manchmal zu einfach machen. Die Bibel ist nicht immer leicht zu lesen und zu deuten. Manche Schätze, die sie enthält, sind nur zu heben, wenn wir fleißig graben.12 Was er sich wünscht, nämlich dass wir die Schrift gründlich studieren und dabei herausarbeiten, was ihre Botschaft für uns heute bedeutet, ist ein berechtigtes Anliegen. Bibelwissenschaft in dem Sinn, dass wir gewissenhaft lesen, forschen, und auslegen, brauchen wir. Legen wir los!


1 „Worthaus“ ist ein 2010 gegründeter Verein mit Sitz in Tübingen, der sich das Ziel gesetzt hat, Hochschultheologie für Gemeindegänger zugänglich zu machen. Zu diesem Zweck werden Vorträge in einer Mediathek kostenfrei zur Verfügung gestellt. Meist stammen die Aufzeichnen von selbst veranstalteten Vortragsreihen und Konferenzen, erreichbar unter: URL: https://worthaus.org (Stand: 19.02.2020).

2 Der Name „Peter“ steht hier rein zufällig.

3 Siegfried Zimmer, Schadet die Bibelwissenschaft dem Glauben?, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 20124. Bei weiteren Zitaten aus diesem Buch nenne ich die Seitenzahlen direkt im Fließtext.

4 Eine dichte Darstellung der kritischen Bibelauslegung ist zu finden in: Ron Kubsch, Sollte Gott gesagt haben, 2016, URL: https://www.evangelium21.net/media/1464/sollte-gott-gesagt-haben (Stand: 23.02.2020).

5 S. Zimmer erkennt diesen Einwand an und versucht, ihn zu widerlegen. Ich glaube jedoch nicht, dass ihm die Entkräftung gelungen ist (vgl. S. 88–90).

6 URL: [https://vimeo.com/381120589,](https://vimeo.com/381120589,#-1) ab Minute 53:12. (Stand: 19.02.2020). Ich verdanke den Hinweis und die Mitschrift Dr. Markus Till, dem ich dafür herzlich danke. Von ihm stammt eine hilfreiche Analyse zur theologischen Arbeit von Worthaus: URL: http://blog.aigg.de/?p=3594 (Stand: 23.02.2020),

7 Es gibt, grob gesprochen, im Blick auf die Hoheitstitel drei Richtungen in der neutestamentlichen Wissenschaft. R. Bultmann oder H. Braun behaupten, der irdische Jesus sei ein einfacher Rabbi oder Prophet gewesen und erst nach Ostern habe man ihn als Messias oder Herrn gesehen. Im Gegensatz dazu haben A. Schlatter, O. Betz (ein Lehrer von S. Zimmer), L. Goppelt, J. Jeremias oder M. Hengel darauf bestanden, dass sich der irdische Jesus als Messias verstanden habe. Eine dritte Gruppe, zu der E. Käsemann, H. Conzelmann oder F. Hahn gehören, schlug einen Mittelweg vor. Sie bescheinigen dem irdischen Jesus messianisches Sendungsbewusstsein, gehen aber davon aus, dass die Hoheitstitel spätere Beifügungen sind. Siehe dazu: Peter Stuhlmacher, biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 2005, S. 107–109; u. Ulrich Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1/2, 2003, S. 25–53.

8 Jesus spricht durchweg in der 3. Person vom Menschensohn. Es gibt unterschiedliche Erklärungsangebote dafür, so z. B., dass dahinter eine aramäische Formulierung steckt, bei der ein Sprecher üblicherweise in der dritten Person von sich redet. Ich vermute eher, dass Jesus mit dieser Redewendung sich selbst eine gewisse Zurückhaltung auferlegte. Er zeigt, dass er der Menschensohn ist; zugleich will er, dass nur einige ihn verstehen.

9 Siehe EWNT, Bd. 3, 2011, Sp. 928.

10 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 2005, S. 118.

11 J. Wenham, Jesus und die Bibel, 2000, S. 217.

12 Dazu eine Buchempfehlung: N. Beynon u. A. Sach, Tiefer graben, 2019.