Ist der Feind meines Feindes mein Freund?

Artikel von Albert Mohler
20. August 2020 — 5 Min Lesedauer

Wir leben nicht in Friedenszeiten. Denkende Christen sind sich sicher bewusst, dass sich ein großer moralischer und geistlicher Konflikt überall um uns herum formt, mit verschiedenen Fronten und Themen von äußerster Wichtigkeit. Der Prophet Jeremia warnte wiederholt vor denen, die fälschlicherweise Frieden erklären, wenn es keinen Frieden gibt. Die Bibel definiert das christliche Leben als geistlichen Kampf. Die Gläubigen in dieser Generation stehen vor der Herausforderung, dass in unserem Kampf die Existenz von der Wahrheit selbst auf dem Spiel steht.

Jeder Kriegszustand bringt eine einzigartige Menge an moralischen Herausforderungen mit sich, und die moralischen und kulturellen Kämpfe unserer Zeit sind da nicht anders. Selbst antike Denker wussten das und viele ihrer Kriegsmaximen werden immer noch häufig zitiert. Eine der populärsten dieser Maximen, die viele antike Menschen kannten, ist: „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.

Die Maxime hat als modernes Prinzip der Außenpolitik überlebt. Sie erklärt, warum Staaten, die gegeneinander Krieg geführt haben, sich in sehr kurzer Zeit gegen einen gemeinsamen Feind verbünden können. Im 2. Weltkrieg begann die Sowjetunion als ein Verbündeter von Nazideutschland. Zum Ende des Krieges war sie jedoch ein Schlüsselverbündeter der Vereinigten Staaten und Großbritanniens. Wieso? Sie beteiligte sich am Krieg gegen Hitler und wurde ein sofortiger „Freund“ der Amerikaner und Briten. Und doch, als der große Krieg zu Ende ging, begannen die Sowjets und ihre alten Verbündeten eine neue Phase der offenen Feindschaft, die als Kalter Krieg bekannt ist.

Kann diese nützliche Maxime der Außenpolitik Christen dienen, die über ihre aktuellen Kämpfe nachdenken? Das ist keine unkomplizierte Frage. Auf der einen Seite ist ein gewisses Maß an Einheit gegen einen gemeinsamen Widersacher unvermeidbar, ja unabdingbar. Auf der anderen Seite ist die Vorstellung, dass ein gemeinsamer Feind zu wahrer Einheit führt, wie auch die Geschichte zeigt, eine falsche Vorstellung.

Wir dürfen nicht unterschätzen, vor welchen Herausforderungen wir stehen. Wir haben es mit riesigen Kämpfen um das menschliche Leben und die menschliche Würde zu tun. Wir leben in einer Kultur des Todes, wo Abtreibung, Kindesmord und Euthanasie zur Tagesordnung gehört. Wir sind in einem großen Kampf um die Integrität der Ehe als Einheit zwischen einem Mann und einer Frau. Wir stehen einer kulturellen Allianz gegenüber, die darauf aus ist, eine sexuelle Revolution voranzutreiben. Diese wird unsagbares Chaos hervorbringen und vielen Menschen, Familien und der Gesellschaft als Ganzes großes Leid zufügen. Wir kämpfen, um das Geschlecht als Teil von Gottes guter Schöpfung zu bewahren, und für die Existenz einer objektiven Moralordnung.

„Treue Christen können den Kämpfen nicht entrinnen, zu denen diese Generation der Gläubigen berufen ist.“
 

Über diese ganzen Herausforderungen hinaus sind wir Teil eines großen Kampfes, um die Existenz der Wahrheit selbst zu verteidigen, die Realität und Autorität der Offenbarung Gottes in der Schrift und alles, was die Bibel lehrt. Der alles durchdringende Anti-Supernaturalismus versucht jede Behauptung zu leugnen, dass Gott existiert oder dass wir ihn erkennen können. Naturalistische Weltanschauungen dominieren die Ausbildungsstätten und der Neue Atheismus verkauft Millionen von Büchern. Der theologische Liberalismus tut sein Bestes, um mit den Feinden der Kirche Frieden zu schließen. Doch treue Christen können den Kämpfen nicht entrinnen, zu denen diese Generation der Gläubigen berufen ist.

Sind also die gemeinsamen Feinde unserer Feinde folglich unsere Freunde? Mormonen, Katholiken, orthodoxe Juden und eine Vielzahl anderer haben in dieser Hinsicht mit uns einen gemeinsamen Feind. Aber inwieweit gibt es zwischen uns Einheit?

Bei diesem Punkt ist es für uns notwendig, sehr sorgfältig und ehrlich nachzudenken. Wir können auf einer Ebene mit jedem, egal welcher Weltanschauung, zusammenarbeiten. Zum Beispiel, um Menschen aus einem brennenden Haus zu retten. Wir würden auch bereitwillig einem Atheisten helfen, um einen Nachbarn aus einer Gefahr zu retten oder die Nachbarschaft zu verschönern. Diese Handlungen benötigen keine gemeinsame theologische Weltanschauung.

Auf einer zweiten Ebene sehen wir gewiss all diejenigen als Schlüsselverbündete in dem gegenwärtigen Kulturkampf, die das menschliche Leben und die menschliche Würde, Ehe und Geschlecht sowie die Integrität der Familie verteidigen. Wir hören einander zu, bauen auf den Argumenten der anderen auf und sind dankbar, wenn wir uns bei unseren gemeinsamen Anliegen gegenseitig unterstützen. Wir erkennen sogar an, dass es Elemente gibt, die unsere Weltanschauungen verbinden und die unsere gemeinsamen Überzeugungen bei diesen Themen erklären. Und doch sind unsere Weltanschauungen wirklich sehr unterschiedlich.

Mit der katholischen Kirche verbinden uns viele gemeinsame Überzeugungen, einschließlich der moralischen Überzeugungen über Ehe, das menschliche Leben und die Familie. Darüber hinaus bekräftigen wir gemeinsam die Wahrheiten der göttlichen Dreieinigkeit, der rechtgläubigen Christologie und andere Lehren. Aber wir sind anderer Meinung über das, was von äußerster Wichtigkeit ist – das Evangelium von Jesus Christus. Und dieser höchste Unterschied führt zu anderen zentralen Unterschieden – über das Wesen und die Autorität der Bibel, das Wesen des christlichen Dienstes, die Bedeutung von Taufe und Abendmahl und eine ganze Palette von Themen, die für den christlichen Glauben wesentlich sind.

„Nichts Geringeres als Treue gegenüber dem Evangelium von Christus zwang die Reformatoren dazu, mit der katholischen Kirche zu brechen. Die gleiche Klarheit und der gleiche Mut werden heute von uns verlangt.“
 

Christen, die sich durch den Glauben der Reformatoren definieren, dürfen niemals vergessen, dass nichts Geringeres als Treue gegenüber dem Evangelium von Christus die Reformatoren dazu zwang, mit der katholischen Kirche zu brechen. Die gleiche Klarheit und der gleiche Mut werden heute von uns verlangt.

In Zeiten des kulturellen Konflikts mag der Feind unseres Feindes sehr wohl unser Freund sein. Aber im Blick der Ewigkeit und wenn das Evangelium auf dem Spiel steht, darf der Feind unseres Feindes niemals mit einem Freund des Evangeliums von Jesus Christus verwechselt werden.

Albert Mohler ist Präsident des Southern Baptist Theological Seminary in Louisville, Kentucky und Mitglied des Rates der Gospel Coalition. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter We Cannot Be Silent: Speaking Truth to a Culture Redefining Sex, Marriage, and the Very Meaning of Right and Wrong. Er und seine Frau Mary haben zwei Kinder.