Seven Types of Atheism

Rezension von Daniel Vullriede
7. August 2020 — 9 Min Lesedauer

Unglaube ist nicht gleich Unglaube

Fast jeder kennt Menschen, die sich als Atheisten bezeichnen würden, seien es Verwandte, Freunde oder Kollegen. Wie aber leben sie ihre Überzeugung? Bestimmt sehr unterschiedlich. In seinem aktuellen Buch hilft der emeritierte Professor John Gray, den Atheismus in seinen Facetten besser zu verstehen. Gray forschte viele Jahre zur Ideengeschichte an der London School of Economics and Political Science. Er verfolgt einen phänomenologischen Ansatz, ist von der analytischen Philosophie geprägt, und verbindet historische Perspektiven mit soziologischen Fragestellungen. Dennoch ist Seven Types of Atheism keine staubtrockene Abhandlung, sondern ein mehrfach prämiertes und stark rezipiertes Sachbuch, das viele Augenöffner bereithält.

Was ist eigentlich ein Atheist?

Einleitend attestiert der Autor dem heutigen Atheismus eine Art Weltflucht. Statt die fehlende Ordnung und amoralische Ziellosigkeit des Lebens zu akzeptieren, würden sich viele Säkulare an Ersatzgötter wie liberale Werte oder den Fortschritt klammern. Ein Blick in die Geschichte lässt den Unglauben von heute blass oder engstirnig erscheinen. Wie sieht nun ein authentischer Atheismus aus? Grays Arbeitsdefinition lautet: Atheist ist, wer mit dem Konzept eines göttlichen Geistwesens, das alles erschaffen haben soll, nichts anfangen kann.

In der Antike waren Atheisten jene, die die Verehrung der Götter ablehnten, mit der Zeit wandelte sich der Begriff. Grays paradoxe Grundthese lautet: Religion sei nicht der Ausdruck eines Glaubenssystems. Erst mit der „Erfindung“ des Christentums ist der Gedanke aufgekommen, es gäbe eine richtige oder falsche Art zu glauben. Moderne Hindus oder Taoisten würden sich nichts aus diesen Kategorien machen. In den weiteren Kapiteln beleuchtet Gray sieben Formen des Atheismus, die sich teils ähneln, teils voneinander unterscheiden. Zwar möchte er niemanden von einer Position überzeugen, doch bevorzugt er die letzten beiden Formen seiner Typologie.

Der Neue Atheismus – tatsächlich nur ein Rückgriff auf das 19. Jahrhundert

Der sogenannte Neue Atheismus war vor zehn Jahren in den Medien sehr präsent, Gray handelt ihn jedoch bewusst knapp ab. Das Christentum als wissenschaftlich nicht haltbar darzustellen, findet er zu schwach. Ideengeschichtlich gesehen wärmen die Neuen Atheisten viele Fragen des viktorianischen Positivismus wieder auf, erheben ihre eigene Methodik unrechtmäßig zu einem Weltbild und verlieren sich bei offenen Fragen in Pseudowissenschaften (z.B. Dawkins‘ Theorie der Meme).

„Überhaupt biete der Neue Atheismus in seiner Kritik am christlichen Wertekanon keine kohärente Alternative – säkulare Ideologien hätten ebenso viel Unrecht zu verantworten wie die Religionen.“
 

Man solle das Christentum lieber historisch hinterfragen, also bei Jesu Tod und Auferstehung ansetzen. Überhaupt biete der Neue Atheismus in seiner Kritik am christlichen Wertekanon keine kohärente Alternative – säkulare Ideologien hätten ebenso viel Unrecht zu verantworten wie die Religionen.

Der säkulare Humanismus – ein heiliges Relikt aus der Vergangenheit

Den Gedanken, dass sich die Menschheit weiterentwickelt und gemeinsam verbessern kann, hält Gray für einen Mythos. Die Atheisten der Antike konnten kein festes Schema im Lauf der Welt erkennen. Die einzige Konstante blieb der unvernünftige Mensch. Erst mit dem Christentum kam ein heilsgeschichtlicher Sinn auf, der dann in der Aufklärung auf eine allgemeine Vorsehung reduziert wurde. Tatsächlich könnten wir unsere kulturellen Errungenschaften schnell wieder verlieren, so Gray. Was säkulare Denker wie Mill, Hegel, Marx, Nietzsche und Rand jeweils als immanente Logik der Menschheitsgeschichte vertraten, widersprach sich meistens. Am Fortschrittsgedanken festzuhalten macht laut Gray nur Sinn, wenn etwas oder jemand die Geschichte lenken würde. Mit dem Atheismus lässt sich das jedoch nicht vereinbaren.

Ein seltsamer Glaube an die Wissenschaft

Der dritte Typus umfasst jene Strömungen, die die Wissenschaft zu einer Ersatzreligion erheben. Gray kritisiert den evolutionären Humanismus, weil Darwin und seine Nachfolger die Theorie der natürlichen Auslese fälschlicherweise mit einem Fortschrittsgedanken verbunden haben. Die Evolution schließt gesteuerte, zielorientierte Prozesse aber aus. Ebenso lässt sich von ihr keine Ethik ableiten, was nachweislich stets zu Rassismus und Antisemitismus führte. Ein anderes Beispiel wäre der Wissenschaftskult des Mesmerismus, bei dem man eine magnetische, universale Energie propagierte, oder der dialektische Materialismus zur Zeit Trotzkis mit seinem Traum einer radikal neuen Menschheit. Heute hoffen die Vertreter des Transhumanismus, den Homo Sapiens mit einem Upgrade zum Homo Deus zu ersetzen, darunter die Autoren Yuval Noah Harari und Ray Kurzweil. Stimmig sei das Ganze erst, wenn man mit Platon von einer Realität jenseits der Materie ausgeht oder eine Evolutionstheologie vertritt, die die Biologie transzendiert. Als überzeugter Atheist kann Gray hier weder eine Logik noch einen Gewinn erkennen.

Der Atheismus als religiös-politisches Programm

Der vierte Typus strebt schließlich nach der Rettung der Menschheit durch politische Aktion, oft auch durch gewaltsame Revolutionen. Der Autor sieht dahinter eine Vermischung von religiösem Millenarismus und dem Gnostizismus, um mit atheistischen Vorzeichen eine bessere Welt einzuläuten. Das gar nicht so fromme Täuferreich von Münster, die französischen Jakobiner, der Bolschewismus in Russland, die Nazi-Ideologie, der protestantisch geprägte Liberalismus – allen diesen historischen Bewegungen gemeinsam war eine utopische Sicht der Welt, eine Unzufriedenheit mit dem Status Quo und die feste Überzeugung von einer besseren Gesellschaft. Hier offenbart sich für den Atheisten Gray ein ethisches Dilemma: Eine christlich geprägte, liberale Demokratie sei zwar zivilisierter als eine knallharte Diktatur. Mehr als eine pragmatische Wahl wäre aber nicht möglich, weil die Menschheitsgeschichte ja kein Ziel hat und demnach keine Gesellschaftsform vorgeben kann.

Die Gotteshasser

Anschließend geht es um jene, die den Gedanken an Gott unerträglich finden. Als einen Propheten des Misotheismus stellt Prof. Gray den berüchtigten Marquis de Sade vor. Der wollte sich von Gott frei kämpfen, indem er die Befriedigung seiner natürlichen Impulse über alles andere stellte. Dabei rutschte der Maquis in immer abstoßendere und menschenunwürdige Praktiken, was den Begriff des Sadismus prägte. Ein literarisches Beispiel für die die totale Rebellion als Freiheit von Gott sei die Figur des Iwan Karamasow aus Dostojewskis Feder. Wie paradox diese fünfte Form des Atheismus sein kann, zeigt sich auch anhand des Autors William Empson. Für ihn war der christliche Gott das absolute Böse, Satan hingegen schien ihm der eigentliche Held zu sein. Umgekehrt ließ sich Empsons Freiheitsbegriff nur auf der Basis des Christentums begründen. Deutlich wird: So groß ihr Hass auch war, diese Atheisten wurden Gott nicht los.

Ein existenzieller, selbstgenügsamer Atheismus

Im Gegensatz dazu standen Autoren wie George Santayana und Joseph Conrad. Für sie hatte die Natur zwar keine Ordnung, geschweige denn ein Ziel, doch hatte alles irgendwie seinen Platz. Selbst die Liebe und die Religion hätten eine Funktion, weil sie menschliche Bedürfnisse stillten. Was andere für Fortschritt hielten, war für diese Denker nur eine stetige Veränderung im Fluss der Materie hin zum Tod. Das Individuum sollte durch eine kontemplative Betrachtung der Welt hinter die Dinge blicken, und sie angstfrei akzeptieren, so Santayana. Conrad wiederum sah in unserer Existenz ein unbändiges Meer der Bedeutungslosigkeit. Als ein von der Welt enttäuschter Skeptiker definierte er den Menschen als das Grundproblem: ein böses, wildes Tier, das auch mit mehr Wissen nichts verändern kann. Sich fatalistisch dem Nicht-Sinn hinzugeben und darin Trost zu finden, war für Conrad alles, was man brauchte. Nach dem Motto: „Es ist wie es ist, finden wir uns damit ab.“

Der mystische Atheismus des Schweigens

Die letzte Form des Atheismus hätte ein anderes Motto verwendet: „Wir sind Teil einer größeren Realität. Staunen wir darüber und akzeptieren wir unsere Unwissenheit und Schicksal.“ Diese Perspektive entdeckt Gray in den Schriften des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer, der zwar das Christentum ablehnte, aber dennoch von einer letzten Realität absoluten Seins ausging. Das Wissen um die Illusion dieser Welt sollte von falschem Druck und dem Sich-Klammern an irdische Dinge befreien. Andere Vertreter sieht Gray in Baruch de Spinoza und Leo Shestov. Sie vertraten teils einen pantheistischen Monismus, teils eine negative Theologie, und gingen trotz Unterschieden von einem transzendenten Sinn jenseits der Geschichte aus, der unsere Konzeption übersteigt.

Ein Plädoyer für ein Leben jenseits von Glauben und Unglauben?

Grays Fazit ist relativ nüchtern gehalten: Nicht nur möchte er den Glauben an den Monotheismus hinterfragen, ebenso will er an unserem Vertrauen in die Menschheit rütteln. Nur indem der Mensch die Sinn- und Gottlosigkeit des Lebens akzeptiert, kann er frei von Panik oder Verzweiflung seinen Weg gehen, so seine Überzeugung. Statt die Religion zu dämonisieren und dann wieder am Problem des Bösen zu scheitern, sollten heutige Atheisten sich lieber von Dualismen befreien: „Eine gottlose Welt ist genauso geheimnisvoll wie eine von Göttlichkeit durchflutete, und der Unterschied zwischen den beiden mag kleiner sein, als Sie denken“ (S. 158). Ob das am Ende ausreicht?

Ein vorläufiges Fazit aus christlicher Sicht

„Aus christlicher Sicht bietet Seven Types of Atheism zunächst eine Verstehenshilfe, um unsere Mitmenschen und die westliche Kultur von einer Innenperspektive heraus besser zu begreifen.“
 

Grays Buch ist bei gerade mal 170 Seiten vergleichsweise dicht und inhaltsreich, zugleich aber gut geschrieben. Durchweg versucht er, den Atheismus kritisch auf eine solidere Basis zu stellen und in einem gewissen Sinne gelingt ihm das gut, weil er viele ungeklärte Punkte bei allen sieben Atheismen aufdeckt. Seine Einteilung ist nicht unumstößlich, aber nachvollziehbar. Aus christlicher Sicht bietet Seven Types of Atheism zunächst eine Verstehenshilfe, um unsere Mitmenschen und die westliche Kultur von einer Innenperspektive heraus besser zu begreifen.

Gray lädt zu lehrreichen, ideengeschichtlichen Ausflügen ein, gibt seinen Lesern manche Denkaufgabe und fordert zum Widerspruch heraus. Dieser ist berechtigt: Regelmäßig schreckt er vor der Logik des Monotheismus zurück und hinterfragt kaum den religiösen Pluralismus aufgrund seiner eigenen Vorentscheidungen. Auch an der Stimmigkeit seines Fazits gäbe es vieles auszusetzen. Zudem vertritt Gray eine einseitige Sicht vom Christentum: Jesus findet er faszinierend, gleichzeitig setzt er ihn zu Paulus in Kontrast und hinterfragt mit der historisch-kritischen Theologie die formale und inhaltliche Zuverlässigkeit der Bibel.

„Insgesamt sieht Gray die ungelösten Spannungen des Atheismus sehr deutlich, doch rettet er sich in eine gott-freie Mystik, um dem Monotheismus aus dem Weg zu gehen.“
 

Insgesamt sieht Gray die ungelösten Spannungen des Atheismus sehr deutlich, doch rettet er sich in eine gott-freie Mystik, um dem Monotheismus aus dem Weg zu gehen. Das ist eine gute Erinnerung für die Praxis: Die Schwachstellen einer Position darzustellen bedeutet noch lange nicht, jemanden von der gegenteiligen Position überzeugt zu haben. Oder mit anderen Worten: Apologetik ist noch keine Evangelisation. Beides scheint heute nötiger denn je, und Professor Gray bietet dafür auf seine Art ein überaus nützliches Tool.

Buch

John Nicholas Gray. Seven Types of Atheism. London: Penguin Books, 2019. 170 S., Paperback, ca. 11 Euro.